Als Abiy Ahmed 2018 Regierungschef Äthiopiens wurde, erlebte Ostafrikas bevölkerungsreichster Staat zum ersten Mal in seiner Geschichte ein kleines bisschen Demokratie. Tausende politische Gefangene wurden befreit, verbotene Medien wieder zugelassen, Exilanten durften zurückkehren. Mit dem verfeindeten Nachbarstaat Eritrea schloss Abiy nach Jahrzehnten des Krieges und der Feindseligkeiten Frieden. Freie Wahlen wurden angekündigt. 2019 erhielt Abiy den Friedensnobelpreis. Zwei Jahre später steht Äthiopien vor der Zerreißprobe. Wieder einmal. Seit November 2020 befindet sich die Bundesregierung im Krieg mit den Rebellen der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF). Die Partei hatte das Land bis zu Abiys Aufstieg fast drei Jahrzehnte lang an der Spitze einer Koalition ehemaliger Rebellen autokratisch geführt. Beide Seiten begingen massive Menschenrechtsverletzungen. Glaubte Abiy Anfang dieses Jahres noch, die TPLF beinahe besiegt zu haben, gelang es den Rebellen mittlerweile, die Armee und ihre Verbündeten aus weiten Teilen Tigrays zu verdängen und in die Nachbarregionen Amhara und Afar vorzudringen. Wahrscheinlich sind mittlerweile Zehntausende Menschen gestorben, Millionen leiden an Hunger oder sind auf der Flucht. Krieg der Visionen Der Hass zwischen den verfeindeten Parteien sitzt tief, genährt durch Jahrzehnte des Unrechts und der Gewaltherrschaft. Auch das macht den Konflikt zu kompliziert. „Satan war der letzte seiner Art. Und die TPLF muss auch die letzte ihrer Art sein“, sagte kürzlich Daniel Kibret, ein Berater von Abiy. „Sie sollten ausgelöscht werden und aus den historischen Aufzeichnungen verschwinden. Wer sie studieren will, sollte nichts über sie finden.“ Im Zentrum der Krise steht die Frage nach dem politischen System des Landes. Dessen rund 110 Millionen Einwohner verteilen sich auf etwa 80 Volksgruppen. Die größten sind die Oromo, die Amharen, die Somali und die Tigriner. Nachdem die TPLF an der Spitze einer Koalition von ethnonationalistischen Milizen 1991 die Macht im Land übernommen hatte, erhielten die größeren Ethnien Äthiopiens eigene Regionen, in denen sie die Bevölkerungsmehrheit stellen und eine Regionalregierung mit einem begrenzten Maß an Autonomie bilden können. Aber auch jeder kleineren Volksgruppe steht laut Verfassung das Recht zu, sich von einer Region abzuspalten und ihren eigenen Bundesstaat zu gründen. Im Süden Äthiopiens drängen darauf gegenwärtig Vertreter mehrerer Ethnien. Abiy hingegen vertritt die Vision eines stärker zentralisierten Staates und eines gesamtäthiopischen Nationalismus. So hofft er, das bitterarme Land effektiver modernisieren und stabilisieren zu können. Stattdessen trugen mit der politischen Öffnung des Landes diverse ethnische Gruppen ihre Ansprüche auf Land, Ressourcen oder politischen Einfluss vor. So brachen alte Spannungen und Rivalitäten offen aus, die autokratische Regime jahrzehntelang mehr schlecht als recht zu unterdrücken versucht hatten. Ein weiteres Element von Abiys Vision für Äthiopien ist eine ökonomische Liberalisierung, die ebenfalls Konfliktpotential birgt. Die Last des kaiserlichen Erbes Während die äthiopische Armee sowie Spezialtruppen und Milizen aus Amhara und anderen Regionen versuchen, die TPLF wieder zurückzuschlagen, droht die Gewalt auch in anderen Landesteilen zuzunehmen. Die Rebellen der Oromo-Befreiungsarmee (OLA) haben sich etwa mit der TPLF verbündet, um Abiy zu stürzen. Immer wieder greifen sie Regierungstruppen an. Doch das sind nur die Hauptkonfliktlinien. Daneben bestehen diverse kleinere Konflikte wie jener in der Region Benishangul-Gumuz. Dort haben sich Milizen der Gumuz gegründet, die mit brutaler Gewalt gegen Amharen, Oromo und andere Ethnien vorgehen, die sie als illegitime Siedler betrachten. Die benachbarte Region Amhara beansprucht Teile dieser Region bereits seit Längerem für sich. Zu gewaltsamen Auseinandersetzungen um Land und Ressourcen kommt es zwischen vielen Regionen Äthiopiens. Um diese Entwicklung zu verstehen, bedarf es eine Blicks in die äthiopische Geschichte. Als einziges Land Afrikas wurde es nie kolonisiert. Stattdessen verleibte sich das feudal geprägte Kaiserreich während des 19. und 20. Jahrhunderts selbst weite Teile seiner Nachbarterritorien ein. Statt die Ethnien und Religionen aus diesen Ländern in den Staat zu integrieren, lag der Fokus der Herrschenden auf Ausbeutung und Kontrolle. Die Unterworfenen – oft Muslime – wurden zu landlosen Bauern und Pächtern der kulturell, politisch und ökonomisch dominanten christlichen Amharen und Tigrinern. Ständig im Krieg Dieses imperialistische Erbe belastet das Land bis heute, weil es sich ständig im Krieg gegen innere und äußere Feinde befand. 1974 stürzten marxistisch geprägte Soldaten nach Massenprotesten die Monarchie. Doch es gelang dem neuen Regime nicht, das Land zu befrieden. 1977 marschierte Somalia in den überwiegend von ethnischen Somali bewohnte Osten Äthiopiens ein, weil es diesen für sich beanspruchte. In Eritrea wiederum, das Anfang der 1960er-Jahre vom Kaiserreich annektiert worden war, führten Separatisten drei Jahrzehnte lang einen verlustreichen Unabhängigkeitskrieg gegen die Zentralregierung. Jeden Dissens unterdrückten die Militärs mit Terror, weshalb sich während der 70er-Jahre diverse meist ethnonationalistische Rebellengruppen gründeten, darunter auch die TPLF. Ein Bürgerkrieg entbrannte und 1991 wurde das Militärregime durch die Aufständischen beseitigt. Unter der Führung der TPLF organisierte dieses neue Regime den Staat grundlegend um und führte das aktuelle System des ethnischen Föderalismus ein. Eritrea wurde nach drei Jahrzehnten Abnutzungskrieg unabhängig. Diverse ethnonationalistische Gruppen agitierten und kämpften jedoch weiter gegen den Staat, so etwa in den Regionen Afar, Somali und Oromia. Denn auch weiterhin wurde die Bundesregierung – nun dominiert von den Tigrinern der TPLF – autokratisch geführt. Weiterhin agierte sie brutal und repressiv und viele Bevölkerungsgruppen sahen sich noch immer unterdrückt. Ab 2015 kam es deshalb vor allem in Oromia und Amhara zu Massenprotesten gegen das Regime. Drei Jahre später verbündeten sich ihre einstigen Koalitionspartner gegen die TPLF und so gelangte mit Abiy Ahmed erstmals ein Oromo ins Amt des Premierministers. Enttäuschte Verbündete Doch seiner Vision eines stärker zentralisierten Äthiopiens brachte zum einen die alten Eliten gegen ihn auf, die um ihre Macht fürchteten. Zum anderen sind auch viele von Abiys ursprünglichen Unterstützern von ihm enttäuscht. Darunter etwa junge Oromo, die sich erhofft hätten, dass sich Abiy stärker für sie engagieren würde. Denn als sie gegen das Regime der TPLF auf die Straße gegangen waren, hatten sie eine stärkere Regionalisierung gefordert, keine Zentralisierung. Abiy aber reagierte zunehmend wie alle äthiopischen Herrscher der Vergangenheit: Er ließ den Sicherheitsapparat gegen seine Gegner vorgehen und Tausende einsperren, darunter auch einstige Unterstützer. Im November 2020 eskalierten die Spannungen mit der TPLF und Abiy startete eine massive Militäroffensive, um die Gruppe zu verdrängen. Dabei erhielt er auch Eritreas Unterstützung, dessen Diktator Isaias Afwerki ein Erzfeind der TPLF ist. Angesichts der vielschichtigen Konflikte befand sich Abiy zuletzt in einer tiefen Legitimitätskrise. Die jüngsten Parlamentswahlen zwischen Juni und September sollten helfen. Doch Beobachter wie der Konfliktforscher Hassan Khannenje kritisierten: „Die Wahl ist mehr eine Formalität als ein legitimer Prozess. Unter diesen Bedingungen kann man keine freien und fairen Wahlen abhalten.“ Wichtige Oppositionsparteien boykottierten den Urnengang, in Tigray konnte gar nicht gewählt werden.  Nun verspricht Abiy einen nationalen politischen Dialog, um Gegner im In- und Ausland zu besänftigen. Doch nur wenig deutet darauf hin, dass die Ursachen der äthiopischen Krise so gelöst werden können – zumal die wichtigsten bewaffneten Gruppen aus Tigray und Oromia vom Staat längst zu Terrororganisationen erklärt wurden und somit von jedem Dialog ausgeschlossen sind. Aktuelle Ausgabe KATAPULT ist gemeinnützig und unabhängig. Wir finanzieren uns durch Spenden und Abonnements. Unterstützen Sie unsere Arbeit und abonnieren Sie das gedruckte Magazin für nur 19,90 Euro im Jahr. KATAPULT abonnieren