Am 11. Juni 1957 verschleppen französische Fallschirmjäger den 25-jährigen Mathematiker Maurice Audin in Algier. Der Kommunist und Vater dreier Kinder unterstützt die algerische Unabhängigkeitsbewegung gegen die Fremdherrschaft Frankreichs. Wenige Tage später erklären Soldaten seiner Ehefrau Josette, dass ihrem Gatten die Flucht gelungen sei. Sie hört nie wieder von ihm. Erst mehr als ein halbes Jahrhundert später, im Jahr 2014, gibt der französische Präsident François Hollande zu: Audin war nicht geflohen, sondern in der Haft gestorben. Weitere vier Jahre vergehen, bis Hollandes Nachfolger Emmanuel Macron eingesteht, dass der junge Aktivist vom französischen Militär zu Tode gefoltert oder exekutiert worden sei, und die nunmehr 87-jährige Witwe Josette Audin um Verzeihung bittet. 61 Jahre nach Audins Verschleppung ordnet Macron die Öffnung der Archive für Familien und Historiker an, um das Schicksal Tausender weiterer Menschen aufzuklären, die während des Algerienkriegs verschwanden. Josette Audin, die ihr ganzes Leben lang für die Wahrheit über die Verschleppung ihres Mannes gekämpft hatte, stirbt wenige Monate später. Angehörige sind psychologischer Folter ausgesetzt Die Praxis des Verschwindenlassens ist fest in die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts eingewoben. Als einer der ersten setzte Hitler diese Praxis systematisch ein. Der sogenannte Nacht-und-Nebel-Erlass von 1941 sah vor, Widerstandskämpfer aus dem besetzten Westeuropa nach Deutschland zu bringen und im Geheimen festzuhalten, wenn schnelle Todesurteile bei Gerichtsprozessen unwahrscheinlich waren. Die fortdauernde Ungewissheit über das Schicksal der Verschleppten sollte die Bevölkerung in den besetzten Gebieten abschrecken. Doch bereits aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg ist die Praxis dokumentiert. Mit der Entführung, geheimen Hinrichtung und dem Verstecken der Überreste ihrer Opfer verfolgen die Täter drei Ziele: Sie beseitigen vermeintliche Feinde, verbreiten Terror, indem Familien permanent im Unklaren über das Schicksal ihrer Angehörigen gelassen werden, und sie verschleiern das Verbrechen.
Das Verschwindenlassen produziert somit zwei Arten von Opfern: die Entführten selbst und deren Angehörige. Letztere sind durch die nicht selten jahrzehntelange Ungewissheit psychologischer Folter ausgesetzt. »Recht auf Wahrheit« als neues Menschenrecht Die Politikwissenschaftler Paloma Aguilar und Iosif Kovras argumentieren, dass die verschärften internationalen Normen zur Einhaltung von Menschenrechten und die zunehmende mediale Berichterstattung über Menschenrechtsverletzungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dazu geführt hätten, dass viele Regierungen ihre Repressionsstrategien veränderten: Zunehmend hätten sie auf heimliche und außergerichtliche Formen der Unterdrückung wie das Verschwindenlassen gesetzt. Download Graphic Insbesondere die rechtsgerichteten Militärdiktaturen Lateinamerikas perfektionierten diese Praxis zwischen den 1970er- und 1990er-Jahren in ihrem Krieg gegen Oppositionelle. Bis heute sind viele Fälle unaufgeklärt. So wurde die Region aber auch zum Ausgangspunkt der Gegenbewegung: Angehörige, insbesondere Mütter, demonstrierten für die Freilassung ihrer Söhne und Töchter und forderten ihr »Recht auf Wahrheit«. Besondere Berühmtheit erlangten die »Madres de Plaza de Mayo« in Argentinien, die während der Militärdiktatur (1976-1983) unter hohem Risiko für die Freilassung der Verschwundenen demonstrierten und auch nach dem Ende der Gewaltherrschaft unermüdlich für juristische Aufarbeitung stritten. Nach ihrem Vorbild organisierten sich weltweit Opfer des Verschwindenlassens. Diese Graswurzelbewegungen haben seither viel erreicht. Ohne sie wäre das Verschwindenlassen wohl weder 2002 im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt worden, noch gäbe es die 2006 von der UN-Vollversammlung verabschiedete »Internationale Konvention zum Schutz aller Menschen vor dem Verschwindenlassen«. Das Abkommen ist ein Beispiel dafür, wie das Völkerrecht auch durch außereuropäische Gewalterfahrungen geprägt und weiterentwickelt wird. Es definiert sowohl die Verschwundenen selbst als auch deren Angehörige als Opfer und garantiert ihnen somit bestimmte Rechte. So bekräftigt der Vertrag das Recht jedes Opfers, »die Wahrheit über die Umstände eines Verschwindenlassens« zu erfahren. Dies umfasst auch die Identifizierung der mittelbaren und unmittelbaren Täter. Das »Recht auf Wahrheit« spielt seit Jahrzehnten eine zunehmende Rolle in den Urteilen von Menschenrechtsgerichtshöfen, nationalen Gerichten sowie in UN-Resolutionen und kristallisiert sich als neues Menschenrecht heraus. Spanier wenden sich an argentinische Gerichte Doch mittlerweile ist der internationale Kampf gegen das Verschwindenlassen ins Stocken geraten. Nur 62 Staaten haben die Konvention vollständig ratifiziert – weniger als ein Drittel aller UN-Mitgliedstaaten. Einflussreiche Nationen wie Russland, China und die Vereinigten Staaten verweigern sich dem Abkommen. »Vor allem dass die Zahl der Ratifizierungen in den letzten beiden Jahren stark zurückgegangen ist, ist bedauerlich«, sagt Rainer Huhle gegenüber KATAPULT. Der Menschenrechtler gehörte zwischen 2011 und 2019 dem UN-Ausschuss gegen das Verschwindenlassen an. »Der Ausschuss und die UN haben immer wieder zu mehr Ratifizierungen aufgerufen, allerdings ist das nicht Aufgabe des Ausschusses, sondern der ‚Staatengemeinschaft’. Vor allem von den Europäern würde ich hier noch mehr Bemühungen erwarten.« Dazu gehört auch, sich der eigenen Vergangenheit zu stellen. Doch auch in Europa bleibt der Kampf um Aufklärung oft erfolglos. Zehntausende Menschen verschwanden etwa während des Spanischen Bürgerkriegs (1936-1939) und der darauffolgenden Diktatur des Generals Francisco Franco (bis 1975). Aus politischen Gründen wurden die meisten Massengräber nie geöffnet, die Toten nicht identifiziert, die Täter nie bestraft. Anfang des 21. Jahrhunderts zogen die Angehörigen der Verschwundenen vor Gericht – und wurden abgewiesen. In ihrer Not wandten sie sich an die mit Fällen von Verschwindenlassen vertraute argentinische Justiz und baten diese, das Weltrechtsprinzip anzuwenden. Diesem zufolge können Staaten auch solche Verbrechen verfolgen, die in anderen Ländern geschehen, solange sie nach dem Völkerrecht strafbar sind. Argentinische Richter forderten daraufhin die Auslieferung von 20 Menschen, die sie verdächtigten, für das Verschwindenlassen verantwortlich zu sein. Zwar lehnten die spanischen Behörden die Auslieferung ab, doch führte das Verfahren zumindest zu mehreren Exhumierungen im Januar 2016. Im Juli 2018 kündigte die neue sozialdemokratische Regierung Spaniens schließlich an, zusammen mit Archäologen, Gerichtsmedizinern und Opferverbänden einen Zensus der Opfer von Bürgerkrieg und Diktatur erstellen zu wollen. Download Graphic Das Verschwindenlassen ist jedoch keine Sache der Vergangenheit, sondern bleibt auch heute ein gefährliches Problem. Das Ausmaß des Phänomens ist allerdings enorm schwierig zu beziffern. Der fünfköpfigen UN-Arbeitsgruppe gegen das Verschwindenlassen, die Familien dabei unterstützt, Auskunft von Staaten zu erhalten, liegen gegenwärtig 45.811 ungeklärte Fälle aus 92 Nationen vor. Diese stellen aber nur den winzigen Ausschnitt derer dar, die sich an das Gremium gewandt haben. Zudem muss der mutmaßliche Verantwortliche ein staatlicher Akteur sein. So zählt die Arbeitsgruppe in Mexiko 357 Fälle. Insgesamt werden in dem Land 61.637 Menschen vermisst. Die große Mehrheit davon verschwand, seit der damalige Präsident Felipe Calderón im Jahr 2006 seinen »Krieg gegen die Drogen« begann. Allein 2019 wurden 800 geheime Gräber gefunden und 1.124 Leichen exhumiert. Die Verstrickung von Militär und Polizei in das Verschwindenlassen ist belegt. Im Irak werden 300.000 bis eine Million Menschen vermisst. Bis heute werden geheime Massengräber mit Opfern der Saddam-Diktatur entdeckt. Doch das Land ist auch seit Jahrzehnten ständig im Krieg: Wieviele der Verschwundenen tatsächlich durch das Regime und marodierende Milizen verschleppt wurden und wieviele stattdessen in den Kriegswirren verschollen sind, ist unmöglich zu beziffern. Noch vor dem Ausbruch der Massenproteste im Frühjahr 2011 hatte das Assad-Regime in Syrien Schätzungen zufolge mindestens 17.000 Menschen verschleppt. In den letzten neun Jahren verschwanden weitere 98.000 Menschen in dem Bürgerkriegsland – die große Mehrheit wahrscheinlich in den Kerkern des Regimes. Der Human-Rights-Watch-Analytiker Nadim Houry zitiert einen syrischen Deserteur: »Wenn man jemanden verhaftet, schränkt das seine Handlungsfähigkeit ein. Aber lässt man jemanden verschwinden, lähmt das die ganze Familie. Sie wird all ihre Energie darauf verwenden, die Person zu finden. Als Instrument zur Kontrolle ist das kaum zu schlagen.« Aktuelle Ausgabe Dieser Text erschien in der 17. Ausgabe von KATAPULT. Unterstützen Sie unsere Arbeit und abonnieren Sie das gedruckte Magazin für nur 19,90 Euro im Jahr. KATAPULT abonnieren