1. Tim kauft Dachpappe
Das ist Brenndachpappe mit grober Körnung für den Außenbereich. Damit klappt das, meint Tim.
Ich frage nicht nach, ob es sinnloserweise auch Dachpappe für den Innenbereich gibt, bestehe aber drauf, dass wir einen Obi-Mann holen, bevor wir das kaufen. „Na gut“, sagt Tim, und macht sich auf die Suche. Nach drei Minuten kommt er zurück, im Schlepptau einen latzhosetragenden Obi-Mann.
„Habt ihr überhaupt Ahnung davon?!“, fragt uns die Latzhose. Tim und ich antworten gleichzeitig. Tim sagt: „Ja klar“, und ich: „Nee“. Der Obianer guckt uns verstört an und meint: „Dachpappe is nich gleich Dachpappe, da gibts was mit Rohfilz, Polyestervlies, Glasfaservlies und verstärktem Glasfaservlies, dat ham wir aber gar nicht im Angebot. Habt ihr wirklich Ahnung?“ „Ja klar“, sagt Tim noch mal, „und außerdem gibt es auch noch Brenndachpappe.“
„Es gibt Oxidbitumen, SBS-Polymerbitumen, Schmelzfolie und PE-Folie“, fährt die Latzhose fort. „Ganz genau“, bestätigt Tim, „und Brenndachpappe für den Außenbereich.“
Kurze Stille.
„Nee, sowas gibt es nicht. Habt ihr da wirklich Ahnung von?“ Auch diesmal antworten Tim und ich gleichzeitig. Tim sagt jetzt „Ein bisschen“ und ich sage nur noch „Ja klar“, um Tim zu unterstützen.
Nach ein paar Details über Oxi-irgendwas und Polybums-Pappen entscheiden wir uns für die grobkörnige „BAUPROFI PYE PV 200 S5“. Mich hatte das Wort „Bauprofi“ schnell überzeugt und Tim meint seit ein paar Minuten, das wäre die besagte Brennpappe – „mit der wirds klappen“.
„Pff“, schnauft der Obi-Verkäufer. „Bauprofi 200, die is aber schon bisschen teurer. Ihr seht nich so aus, als könntet ihr euch dat leisten.“ Tim guckt nicht mehr ganz so freundlich und auch ich bin jetzt empört. „Was heißt denn hier aussehen? Wie sehen denn Leute aus, die sich die BAUPROFI leisten können? Haben die Geldscheine im Haar oder was? Muss man die BAUPROFI mitm Porsche abholen oder wie?!“ Der Obi-Mann verkürzt das Gespräch:
„Okay. Wie viele braucht ihr?“
„Na wie viele habt ihr denn?“, frage ich zurück.
„Müsste ich erst nachzählen.“
„Kaufen wir“, sag ich, „alle einpacken. Jede Rolle.“
Tim strahlt. Er freut sich wohl.
Was mir jetzt erst auffällt, wir waren vorher in der Abteilung für Arbeitsbekleidung, weshalb wir beide noch Bauhelm falschrum und Warnweste richtigrum tragen. Tim hat zudem keine Schuhe mehr an, weil er ein paar Sicherheitstreter anprobiert hatte. Und ich in der Zwischenzeit seine normalen Schuhe bei den Dachpappnägeln versteckt, die eigentlich Dachpappstifte heißen. Nun stehen wir da wie die Bauarbeiter. Tim hat zu allem Überfluss zwei unterschiedliche Socken an, was ich total peinlich finde. Wahrscheinlich hat der Typ uns deshalb so komisch angemacht. Die Schweißerbrillen hatten wir vor dem heiklen Dachpappengespräch noch schnell abgenommen. Ein Glück.
Die Latzhose zählt immer noch Dachpappen. Eine Obi-Frau kommt den Gang entlang und fragt: „Hans-Jürgen, vorne hat jemand nach Brenndachpappe gefragt, haben wir sowas?“ „Ha!“, platzt Tim heraus und strahlt wieder. Hans-Jürgen Latzhose guckt hoch und stöhnt: „Nee, haben wir nicht, weil es sowas GAR NICHT gibt! Es gibt nur Schmelzfolie!“ – „Und Brennpappe“, ergänzt Tim fröhlich.
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Hans-Jürgen Latzobi gibt uns 24 Rollen von der BAUPROFI und fragt, wie groß unser Dach eigentlich ist. Ich antworte, das reicht grad so aus. Wahrscheinlich müssen wir noch zu nem anderen Baumarkt und noch mehr BAUPROFI kaufen. Hans-Obi Jürgenhose reibt sich genervt das Gesicht glatt, gibt uns die Pappen und will einfach nur weg. Als er sich gerade umgedreht hat, fragt Tim noch schnell: „Haben Sie hier auch Dachpappennägel?“ Scheiße, denke ich, da findet Tim seine Schuhe wieder.
„Ja, gleich hier drüben, wie viele braucht ihr denn?“, antwortet der Latzkaus verzweifelt.
Tim fragt: „Na, wie viele haben Sie denn?“
„Na, dieses Regal hier“, zeigt Latzobi.
„Wir nehmen alle, alle einpacken!“, befiehlt Tim, als könnte man sich hier Sachen einpacken lassen.
Hat Tim jetzt echt alle Nägel gekauft? Damit können wir alle Dächer Greifswalds dichtnageln. Na egal, müssen wir wohl ein zweites Holzhaus bauen. Dann fragt Tim, wie viele Zwei-Meter-Bretter die noch auf Lager haben. Er würde direkt mal alle nehmen. „Alle einpacken“, sagt er wieder. „Tim, du, das reicht langsam“, flüster ich zu ihm rüber, während er noch alle Bauhelme ordert. Tim, wir brauchen gar keine Bauhelme, sag ich genau in dem Moment, als Hans-Jürgen uns wissen lässt, dass dieser Baumarkt etwas zu klein für unser Vorhaben ist, um anschließend den Befehl erteilt zu bekommen: „Sie packen mir jetzt noch schön Hammer, also Hämmer ein. Da kann man nie genug von haben.“ Jetzt reichts aber, denke ich und sage: „Tim, jetzt reichts aber“ – „Akkubohrer? Alle einpacken!“ Tim ist im Rausch. Ich schrei ihn an. „Komm runter jetzt!“, und Tim verspricht, runterzukommen.
Uns fehlen eindeutig Einkaufswagen für das ganze Zeug. Tim holt sie. Wir packen alles alleine ein, obwohl wir die ganze Zeit dachten, dass die uns das hier einpacken werden, wenn wir so eine Großbestellung machen. Gar kein Service im Obi. Die Wagen sind voll und auf dem Weg zur Kasse packe ich ab und zu ein paar Schraubenpackungen wieder aus dem Wagen raus und lege sie zwischen den Fugenspachtel. Tim bekommt es nicht mit. Drei Dachpappenrollen schiebe ich schnell in ein Regal mit Consolan-Wetterschutzfarbe, als Tim seinen Schuh sucht. „Benni, jetzt sag mal bitte endlich, wo meine Schuhe sind.“ Ich erkläre, dass es hier grad kalt ist. Aber im nächsten Gang, da wirds wärmer. Tim geht in Gang acht und ich nehme ein paar Bauhelme aus dem Wagen. An der Kasse merken wir, dass wir gar nicht im Obi sind, sondern im Toom. Na toll.
Als wir bezahlt haben, sagt die Kassierin: „Dankeschön für Ihren Einkauf.“ Ich antworte: „Gerneschön.“ Wir verlassen den Obi, also den Toom, oder den Toobi, und bekommen nicht alles in den Transporter.
2. Die Baustellenbesichtigung
Dani läuft von Tür zu Tür und ruft alle paar Sekunden: „Das hier wird mein Raum. Ist das schön!“ Tobi interveniert: „Den Raum hatte ich mir vorhin schon ausgesucht.“ Was Dani gar nicht mehr hört, weil sie bereits den nächsten Raum für sich entdeckt hat: „Das ist er, das ist mein Raum, Leute!“ Ich hatte etwas Angst vor diesem Moment. Was, wenn die anderen bei Katapult das Haus gar nicht mögen. Was, wenn die gar nicht ins Industriegebiet ziehen wollen? Wir laufen zu vierundzwanzigt durch ein altes Schulgebäude. Zwei Etagen, jeweils 1.000 Quadratmeter, und ein kleinen Wald als Nachbarn. Nachbarn sind wichtig und mit diesem Wald könnte ich es aushalten. Dani und Tobi nehmen mir jede Sorge. Sie sind so begeistert von der Schule, dass ich mir sicher bin: Wir haben eine gute Entscheidung getroffen. Dieser Ort, diese Schule, dieser Wald – das alles hat das Zeug dazu, unsere neue Zentrale zu werden. Ich war vorher schon begeistert, aber durch ihre Begeisterung bin ich jetzt noch mal mehr begeistert.
Tim, Baster und ich waren schon mehrmals hier, bevor wir die Schule kauften. Manche Fenster standen offen, später gab uns die Stadt einen Schlüssel. Eine echte Schulklasse war hier schon lange nicht mehr drin gewesen. Dafür aber der Theaterfundus und wohl auch ein paar Jugendliche und Obdachlose.
An manche Wände sind große Gesichter gemalt, an anderen steht einfach „Heil Hitler“ oder „Keine Macht für niemand“. Mir wird klar, auf Meinungsfreiheit wird in diesem Haus viel Wert gelegt. Das ist unser Haus! Wir gehen ins Lehrerzimmer, das noch immer ein Schild mit dem Schriftzug „Lehrerzimmer“ trägt.
Tim gibt sich seit der Aktion im Obi als Experte für Baumaterialien aus. Er betritt das alte Lehrerzimmer, hält in der Mitte des Raumes an und rümpft die Nase, so wie es Baumaterialexperten eben machen. Er geht auf die Knie, hält seine Nase dicht an den Teppich, den er vorher bereits als „Shaggy mit Fransen“ kategorisiert hatte. Er schnuppert am Teppich und steht auf. Baster und ich beobachten das merkwürdige Schauspiel.
„Scheiße! Auf diesen Teppich hat mal jemand raufgeschissen. Ob Mensch oder Tier, kann ich noch nicht zuordnen“, sagt Tim und tippt sich bedeutungsvoll mit dem Finger gegen das Kinn.
„Tja, vielen Dank Tim. Das wollten wir unbedingt wissen“, moderiert Baster die Situation.
„Gern geschehen“, nickt Tim ab. „So einen Shaggy mit Fransen haben die Leute in der DDR wahrscheinlich nicht genutzt“, führt er weiter aus. Seiner Meinung nach müsste der erst danach von den Obdachlosen oder vom Theater hier angeschleppt worden sein. Shaggys seien wohl erst später in Mode gekommen. „Aber mit Sicherheit hat mal jemand da raufgeschissen.“
Tim möchte noch mal aufs Dach. Baster nicht. Höhenangst. Aufs Dach kommt man nur über eine wackelige Feuerleiter. „Wenn man ihr vertraut, macht sie einen guten Job“, sagt Tim grinsend und klopft auf das Geländer der Leiter. Baster grinst zurück, aber ich sehe seine Verachtung für so viel Risikobereitschaft in seinen Augen. Wir gehen hoch und stellen uns vor, was wir hier oben auf dem Dach alles machen können. Hochbeet. Schwimmbad. Eishockeyfeld. „Da kommt ne Photovoltaikanlage rauf“, ruft Baster von unten. „Ja genau“, schreit Tim zurück, „und ein Schwimmbad!“ Recht hat er natürlich. Greifswald hat bis heute kein Hochschwimmbad. Wir wären damit die Nummer eins in der Stadt, was Hochschwimmbäder angeht.
Von hier oben sieht man auch unsere restlichen Nachbarn. Ein Hotel, die Stadtwerke, eine Firma namens ml&s und den Wald, den wir „Walder“ nennen. In der Ferne sehen wir Windkraftanlagen. „Man, ist das idyllisch“, sag ich, und Tim stimmt zu: „Diese Windkraftanlagen, sowas brauchen wir auch. Passen die aufs Dach?“
Als wir runtergehen wollen, sehen wir, wie ein vermummter Typ auf die Schule zugeht. Er trägt eine zerfetzte Skimaske im Gesicht und zwei Müllsäcke über der Schulter. Als er uns entdeckt, bleibt er ruckartig stehen, fixiert uns eine Weile, dreht wieder um, geht in einem großen Bogen um die Schule und verschwindet im Wald.
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