Die knapp 22.000 Geflüchteten im Camp bei Moria sind über die Gefahren des Coronavirus bestens informiert. Auch ihre Social-Media-Feeds sind voller Ratschläge: häufig Hände waschen, Social Distancing einhalten und Menschenmengen meiden. Befolgen können sie die Ratschläge jedoch nicht. Es gibt keine Seife und den wenigen Brunnen im Lager wird regelmäßig das Wasser abgestellt. Rund 170 Menschen teilen sich eine Toilette, knapp 250 eine Dusche. Vor den Sanitäranlagen bilden sich lange Schlangen, ebenso bei der Essensausgabe – das Lager ist komplett überfüllt. Ursprünglich war das Camp für rund 3.000 Menschen ausgelegt. Innerhalb des letzten Jahres hat sich die Zahl der Bewohner ungefähr vervierfacht. Aktuell leben rund 22.000 Geflüchtete im Lager und in den umliegenden Olivenhainen. Sie stammen vor allem aus Afghanistan, Syrien, dem Irak und Palästina. Tessa Kraan, eine Fotojournalistin vor Ort, sagt gegenüber KATAPULT: Es besteht unter den Geflüchteten wenig Hoffnung, dass das Camp vor einem Corona-Ausbruch verschont bleibe oder die Verbreitung kontrolliert werden könnte. Kaum noch ärztliche Hilfe vor Ort Den Hilfsorganisationen, die sich im Lager um die Versorgung der Geflüchteten kümmern, fehlt Personal – nur noch rund zehn Freiwillige mit medizinischer Ausbildung helfen aktuell in Moria. Viele haben die Insel bereits wieder verlassen. Grund dafür sind einerseits gewaltsame Zusammenstöße demonstrierender Geflüchteter mit der griechischen Polizei und rechtsextremen Gruppen auf der Insel in den vergangenen Wochen. Dabei wurden auch Angestellte von Hilfsorganisationen attackiert und ein NGO-Gebäude brannte nieder – vermutlich durch Brandstiftung. Andererseits kehren Freiwillige aber auch wegen des Corona-Virus und auf Anraten der jeweiligen Botschaften in ihre Heimatländer zurück. Neuankömmlinge müssen nach der Ankunft auf der Insel zuerst zwei Wochen in Quarantäne, bevor sie im Camp helfen können. Viele Ärzte und Ärztinnen nutzen für gewöhnlich ihre Urlaubszeit, um sich in Flüchtlingslagern zu engagieren – diese Urlaube werden jedoch angesichts Überlastung der Krankenhäuser in vielen europäischen Ländern aktuell gestrichen. Abschottung des Lagers: Behörden geben dem Druck der Bevölkerung nach Die griechischen Behörden begannen vor rund einer Woche mit der Abschottung der Camps im ägäischen Meer. Das ist einerseits psychisch belastend für die Geflüchteten, außerdem sind sie auf Einkäufe in den umliegenden Dörfern angewiesen. Während andere Lager bereits völlig isoliert sind, ist das Camp auf Lesbos bisher nur nachts komplett geschlossen. Tagsüber können noch hundert Geflüchtete zur gleichen Zeit unter verschärften Auflagen das Lager verlassen. Allen nicht-medizinischen Hilfsorganisationen wurde der Zugang zum Camp verboten – das gilt neben Freiwilligen, die pädagogische oder psychologische Unterstützung leisten, auch für die Presse. Tessa Kraan kritisiert die Entscheidung der griechischen Behörden: Die Abschottungsmaßnahmen würden eher als Vorwand dienen, die Berichterstattung über die katastrophale Lage im Lager zu behindern und dem Druck der griechischen Bevölkerung nachzugeben. Effektiven Schutz vor der befürchteten Ausbreitung des Virus in den Lagern würden sie nur sehr begrenzt leisten. Download Graphic Das Verhältnis zwischen den Geflüchteten und der griechischen Bevölkerung ist äußerst angespannt. Der Tourismusbranche auf Lesbos - der wichtigste Teil der lokalen Wirtschaft - kämpft seit mehreren Jahren mit sinkenden Touristenzahlen. Der Grund dafür ist die “Flüchtlingskrise”. Rund eine halbe Million Geflüchtete kam allein 2015 auf Lesbos an, die Insel entwickelte sich innerhalb weniger Monate vom beliebten Urlaubsziel zum Brennpunkt der Flüchtlingskrise in Europa. Der zuständige griechische Regionalgouverneur bezeichnete Lesbos als ein “Pulverfass kurz vor der Explosion” – und das noch bevor die Corona-Pandemie die Berichterstattung der Medien dominierte. Sollte sich das Virus auf der Insel verbreiten, könnte die Lage ein weiteres Mal innerhalb weniger Wochen eskalieren. »Wer weiß, was dann hier los ist, wenn die Einheimischen die Flüchtlinge auch noch als potenzielle Virus-Überträger betrachten«, so ein Vertreter einer lokalen Hilfsorganisation gegenüber der Süddeutschen Zeitung. Hilfsorganisationen fordern die sofortige Evakuierung Mehrere EU-Staaten verhandeln seit Monaten mit der griechischen Regierung über eine europäische Lösung für die insgesamt knapp 42.000 Geflüchteten in den verschiedenen Lagern auf den griechischen Inseln im ägäischen Meer. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen auf Lesbos fordert angesichts der Bedrohung durch das Virus zumindest die sofortige Evakuierung aller Geflüchteten, die Risikogruppen zugeordnet werden können – also vor allem ältere Personen und Menschen mit Vorerkrankungen. Außerdem bereitet die Hilfsorganisation das Lager für den Fall eines Corona-Ausbruchs vor: Unter anderem errichtet sie eine neue Krankenstation, isoliert von den anderen Anlagen. Zwar wohnen im Lager vor allem jüngere Menschen, für die sich das Virus in anderen Ländern als weniger tödlich erwiesen hat, jedoch ist ein Großteil mangelernährt, lebt teilweise seit Jahren unter unhygienischen Bedingungen und ist dadurch gesundheitlich angeschlagen. Auf der gesamten Insel gibt es nur eine einzige Intensivstation mit einer Handvoll Betten, die erst an Betroffene der griechischen Bevölkerung vergeben werden würden, so die Einschätzung von Carla Rohde, einer Ärztin vor Ort, gegenüber KATAPULT. Sollte es in den nächsten Tagen keine internationale Lösung geben, könnte es im schlimmsten Fall zu einem “Massensterben” im Camp kommen, dem die Hilfsorganisationen hilflos zusehen müssten. Aktuelle Ausgabe KATAPULT ist gemeinnützig und unabhängig. Wir finanzieren uns durch Spenden und Abonnements. Unterstützen Sie unsere Arbeit und abonnieren Sie das gedruckte Magazin für nur 19,90 Euro im Jahr. KATAPULT abonnieren