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Wenn sich ein Mensch in Libyen in ein Boot setzt, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass er auf dem Weg nach Europa ertrinkt, ziemlich groß. Jeder elfte Geflüchtete ist in den ersten Monaten des Jahres 2019 auf der Route von Libyen nach Italien gestorben, so Zahlen des UNHCR. Damit gilt der Weg über das Mittelmeer als die gefährlichste Fluchtroute weltweit. Die Zahl der in Europa Ankommenden ist in den letzten Jahren gesunken. Gleichzeitig ist die Überfahrt immer gefährlicher geworden. Ein wesentlicher Grund für diese Entwicklung: Es gibt keine europäische Seenotrettung. Die Politik behindert zivile Rettungsorganisationen, die eigenen Programme hat sie eingestellt. Stattdessen hat die Europäische Union die Verantwortung für die Rettung von Schiffbrüchigen auf die libysche Küstenwache abgewälzt. Die Zusammenarbeit hat das Ziel, die Zahl der ankommenden Flüchtlinge in Europa zu reduzieren, Grenzen zu »sichern« und Waffenschmuggel zu stoppen.
Angefangen hat es mit Gaddafi und Berlusconi
Nachdem ab 2014 die Zahlen der Migrierenden extrem zugenommen hatte, versprachen Deutschland und die EU, die Ursachen des Problems anzugehen: Fluchtursachen bekämpfen. Genutzt wurden finanzielle Mittel aus dem EU-Nothilfe-Treuhandfonds für Afrika (EUTF). Fast ein Drittel des Geldes für Projekte in Libyen wurde in die libysche Küstenwache gesteckt – zur Abwehr von Migranten. Seit 2016 bildet die EU die libysche Küstenwache aus und liefert ihr Ausrüstung. Das geschieht im Rahmen verschiedener Ausbildungsmissionen, unter anderem der im März 2020 beendeten EU-Marinemission »Sophia« und aktuell in der Nachfolgemission »Irini«. Bis jetzt durchliefen mindestens 477 Personen die Schulungen. Da sich Libyen seit 2011 selbst im Bürgerkrieg befindet, erfolgte die Ausbildung zum Teil auf Schiffen vor der libyschen Küste oder in europäischen Ländern, beispielsweise in Kroatien, wo ein Tauchkurs für die Kandidaten stattfand.
Auch die Zusammenarbeit zwischen Italien und Libyen zur Migrationsabwehr hat Tradition: Ein Vertrag zwischen dem damaligen libyschen Diktator Muammar al-Gaddafi und dem italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi aus dem Jahr 2008 regelte, dass die italienische Marine Migranten, die sie auf dem Mittelmeer aufgriff, ohne Prüfung wieder zurück nach Libyen bringen konnte. Das war rechtswidrig, wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Jahr 2012 urteilte. Das Abfangen und das Zurückbringen von Geflüchteten in unsichere Drittstaaten durch europäische Akteure sind illegal.
Patrouillenboote für den eigenen Bürgerkrieg
Seit 2018 ist die libysche Küstenwache offiziell für die Seenotrettung in einer eigenen »Search and Rescue«-Zone (SAR-Zone) von 76 Seemeilen vor der libyschen Küste verantwortlich. Zuvor koordinierte Italien alle Notfälle im zentralen Mittelmeer. Nun kann die italienische Küstenwache Notrufe und Schiffsdaten außerhalb ihrer eigenen Zone an die libyschen Behörden weiterleiten – und ist formal nicht für den Einsatz verantwortlich. Die SAR-Zone ist nach Einschätzung von Menschenrechtsorganisationen vor allem ein politisches Instrument, damit weniger Migranten Europa über das Mittelmeer erreichen.
Küstenstaaten treten dem SAR-Abkommen freiwillig bei. Um Seenotrettungen koordinieren zu dürfen, verpflichten sich die Staaten unter anderem, eine eigene Seenotrettungsleitstelle einzurichten – ein Maritime Rescue Coordination Centre (MRCC). Dessen Funktion: Hilferufe entgegennehmen und dafür sorgen, dass entweder die Küstenwache oder in der Nähe befindliche Schiffe zur Rettung eilen. Für Menschen in Seenot ist das oft die letzte Hoffnung, daher muss die Leitstelle 24 Stunden erreichbar sein und über Personal mit Englischkenntnissen verfügen. Funktioniert die Leitstelle in Libyen? Nein. Oft geht die Küstenwache nicht ans Telefon oder spricht nur Arabisch.
Dies bestätigen Berichte von privaten Seenotrettungsmissionen, beispielsweise SOS Méditerranée: »Von den 27 der insgesamt 29 Einsätze der Ocean Viking zwischen August 2019 und Februar 2020, für die die libyschen Behörden offiziell koordinierend zuständig waren, war die libysche Rettungsleitstelle in 231 Fällen [Kontaktversuche, Anm. d. R.] nicht erreichbar.«5 Zudem konnte die libysche Küstenwache im April 2019 zeitweise gar keine Such- und Rettungsmissionen durchführen. Der Grund: Die libyschen Patrouillenboote wurden für Kampfeinsätze im libyschen Bürgerkrieg gebraucht, der seit dem Sturz von Gaddafi in Libyen herrscht.
Libyen macht für die EU die Drecksarbeit
Weil Libyen seit Juni 2018 formal die Koordination der Seenotrettung innehat, führte Italien ab diesem Zeitpunkt keine weiteren Rettungseinsätze mehr durch. Rettete die italienische Marine in der ersten Jahreshälfte noch 2.600 Menschen, die aus Libyen geflohen und in Seenot geraten waren, fuhr sie in der zweiten Jahreshälfte gar keinen Einsatz mehr.
Zur gleichen Zeit wurden die Einsätze privater Seenotrettungsorganisationen durch verschiedene Auflagen stark behindert. Das Ergebnis: Die Zahl der geretteten Personen sank von 22.752 Menschen in der ersten Jahreshälfte 2018 auf 5.635 in der zweiten Jahreshälfte – obwohl gleichbleibend viele Menschen die Flucht wagten. Außerdem gelangte von den geretteten Flüchtlingen in der zweiten Jahreshälfte kaum jemand nach Europa. Beispielsweise kamen nur drei Prozent nach Italien, 85 Prozent wurden zurück nach Libyen gebracht. In der ersten Jahreshälfte konnte noch gut die Hälfte der Personen in Italien von Bord gehen.
Die libysche Küstenwache leitet aber nicht nur Rettungseinsätze, sondern fängt auch gezielt Boote ab und bringt die Geflüchteten teilweise mit Gewalt zurück nach Libyen. Diese sogenannten Pull-Backs verstoßen ebenfalls gegen internationales Recht. Jedes Mal, wenn die libysche Küstenwache einen Flüchtenden daran hindert, libysche Hoheitsgewässer zu verlassen, bricht sie also internationales Recht. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration wurden bis Mitte September 2020 etwa 8.435 Menschen in das Bürgerkriegsland zurückgebracht. Dort drohen ihnen willkürliche Inhaftierung, Misshandlung, Zwangsarbeit und systematische Menschenrechtsverletzungen, wie NGOs und Menschenrechtsorganisationen dokumentieren.
Zusammenarbeit mir Warlords und Schmugglern
Wer ist die libysche Küstenwache, an die die EU die Verantwortung für die Seenotrettung abgegeben hat? Die Kandidaten, die im Zuge von Sophia ausgebildet wurden, durchliefen zunächst ein Prüfverfahren, um sicherzustellen, dass sie keiner extremistischen Gruppierung angehören. Hierbei wurden Informationen von Interpol und Europol genutzt. Teil der Ausbildung sind medizinische Schulungen, aber auch Kurse zum Thema Menschenrechte. Das Problem: Es wird nicht kontrolliert, ob die Standards eingehalten werden. Zwar gehörte die Überwachung der libyschen Küstenwache zur Operation Sophia dazu, allerdings konnte diese Kontrollfunktion zeitweise nicht durchgeführt werden. Die Kontrolle der Küstenwache fiel zwischen Mai und November 2018 aufgrund von »Sicherheits- und administrativen Gründen« aus.
Mittlerweile gibt es zahlreiche Belege dafür, dass die libysche Küstenwache selbst zum Teil aus Menschenschmugglern besteht oder mit diesen zusammenarbeitet. Amnesty International sammelte hierfür Belege. In der Praxis äußert das beispielsweise so, dass die Schmuggler Schmiergeld an die Küstenwache zahlen. Das Boot wird dann markiert und kann die Küstenwache ungehindert Richtung Europa passieren. Nicole Hirt, Wissenschaftlerin am Giga-Institut für Afrikastudien, beschreibt die Küstenwache wie folgt: Sie »besteht aus unterschiedlichen Warlords, die sich den Namen ›Küstenwache‹ gegeben haben, um Geld von Europa zu kriegen«. Hirt geht davon aus, dass die Küstenwache die Menschen rettet, um sie später selbst verkaufen zu können.
Menschenschmuggler bei der libyschen Küstenwache
Ein Beispiel für die Verstrickung der libyschen Küstenwache in den organisierten Schmuggel ist die Verhaftung des ehemaligen Küstenwachen-Kommandeurs Abd al-Rahman Milad, genannt »Bija«, im Oktober 2020 in Tripolis. Der Grund für die Festnahme: Bija soll Migranten und Treibstoff geschmuggelt haben. Bereits seit 2018 steht Bija auf der Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates. Aus Berichten der UN aus dem Jahr 2017 geht zudem hervor, dass Bija mit Anführern bewaffneter Gruppen zusammengearbeitet hat. Im selben Jahr war Bija mehrere Male zu offiziellen Besuchen in Italien eingeladen, unter anderem nahm er nach eigenen Aussagen an Treffen des Innen- und des Justizministeriums teil. Die Einheit, die Bija leitete, wurde von der EU finanziell unterstützt. Das Paradoxe daran: Das Ziel der Missionen Sophia und Irini ist es, den Menschenschmuggel zu bekämpfen. Dabei arbeitete die EU aber mit bekannten Menschenhändlern zusammen.
Ein weiterer Vorwurf gegen Bija lautet, auf Migranten geschossen und Boote versenkt zu haben. Verschiedene zivile Seenotrettungsorganisationen haben immer wieder beobachtet, wie brutal die libysche Küstenwache gegen Migranten vorgeht und selbst zu Schiffsunglücken beigetragen hat. Ein Überlebender berichtete gegenüber Amnesty International von einem Vorfall, bei dem bewaffnete Männer auf ein Flüchtlingsboot mit über 80 Menschen schossen. Der Motor geriet dabei in Brand und das Boot kenterte. Menschen ertranken oder erlitten Verbrennungen. Auch gegen die Seenotretter selbst ging die libysche Küstenwache brutal vor. Diese Gewalttätigkeit ist für die EU oft ein Beleg für die Notwendigkeit, noch mehr Ausrüstung und Geld zur Verfügung zu stellen. Dass diese Praxis nicht zielführend ist, erläutert Martin Lemberg-Pedersen, Migrationsforscher an der Universität Aalborg. Das zusätzliche Geld, so Lemberg-Pedersen, verstehe die Küstenwache als Legitimation ihrer Gewalt. Je gewalttätiger die Küstenwache vorgehe, desto mehr Geld bekomme sie von der EU.
EU: Beobachten, aber nicht retten
Obwohl der EU das brutale Vorgehen der libyschen Küstenwache bekannt ist, zieht sie sich aus dem Mittelmeer zurück – oder verlagert ihre Einsatzorte weiter weg von den bekannten Flüchtlingsrouten. Sophia wurde zuletzt nur noch aus der Luft unterstützt. Überwachen und beobachten aus der Luft ist auch die aktuelle Strategie der Grenzschutzorganisation Frontex. Drohnen und Aufklärungsflugzeuge retten aber keine Menschen aus Seenot. So wird Frontex vorgeworfen, zwischen 2017 und 2019 in mindestens 42 Fällen unter anderem die libysche Küstenwache über den Standort von Booten in Seenot informiert zu haben. Auch wenn Schiffe privater Missionen in der Nähe waren, die schneller hätten helfen können.
Das internationale Seerecht schreibt vor: Die Rettung von Menschen in Seenot ist Pflicht. Außerdem verpflichtend: ein sicherer Ort für die Geretteten. Libyen ist dies auf keinen Fall, wie Menschenrechtsorganisationen bestätigen. Auch die EU und Frontex wissen, dass Libyen die Geretteten gewaltsam dorthin zurückführt – und kooperieren trotzdem. Über diesen Zwischenschritt verstoßen sie offiziell nicht gegen das Zurückweisungsverbot. Das Ertrinken geht derweil weiter.
Dieser Text stammt aus KNICKER-Ausgabe 10 zum Thema Seenotrettung. Wir finanzieren uns durch Spenden und Abonnements. Den KNICKER gibt es mit KATAPULT im Kombi-Abo oder als Einzelausgabe im KATAPULT-Shop.
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Editorial Team