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Klimaflucht

Ein Staat geht unter. Wohin kommt das Volk?

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Vor der Küste Alaskas versinkt ein ganzes Dorf im Meer. Es heißt Shishmaref und liegt auf einer Sandbank. Früher war es von Meereis umgeben, heute brechen die Wellen direkt am Rand des Dorfes. Die Siedlung wurde ursprünglich auf Dauerfrostboden errichtet. Auch dieser schmilzt, was die Erosion der Insel nochmals beschleunigt und viele Häuser bereits ohne den Landverlust unbewohnbar macht. Trotz Schutzmauern verschiebt sich die Küstenlinie jedes Jahr mehrere Meter ins Innere der Insel. In dem einzigen Ort der Insel leben rund 600 Menschen, die meisten davon Iñupiat, Angehörige eines indigenen Stammes. Sie wollen mit dem gesamten Dorf umziehen, darüber haben sie bereits abgestimmt. Ein neuer Standort für die Siedlung wurde schon gefunden, nur wenige Kilometer entfernt auf dem Festland. Allerdings fehlen für den Umzug etwa 180 Millionen US-Dollar. Wer soll dafür aufkommen? Ihr Ansprechpartner im US-Innenministerium, das sich um die Anpassungsstrategien alaskischer Gemeinden an den Klimawandel kümmern soll, wurde vor zwei Jahren versetzt. Das Zeichen ist klar: Der aktuellen US-Regierung unter Donald Trump sind die Folgen des Klimawandels egal. Das versinkende Dorf ist auf sich allein gestellt.

Klimaflucht: seit 40 Jahren ein Thema, Lösungen gibt es keine

Schon Ende der 1970er-Jahre hat sich die Wissenschaft mit Klimaflucht als zukünftigem Konfliktthema beschäftigt. Der Umweltwissenschaftler Essam El-Hinnawi soll 1985 erstmals die Begriffe »Umwelt-« oder »Klimaflüchtling« in einem UN-Bericht eingeführt haben. Angesichts der wachsenden Probleme infolge des Klimawandels ist die Thematik immer weiter in den Vordergrund migrationspolitischer Diskussionen gerückt. Denn: Die Folgen des Klimawandels haben direkte Auswirkungen auf die internationalen Migrationsbewegungen, da der Lebensraum vieler Menschen unbewohnbar wird – sei es durch Wüstenbildung (Desertifikation), den steigenden Meeresspiegel, den Verlust von Dauerfrostböden oder durch eine Kombination mehrerer Ursachen wie im Fall von Shishmaref. Zwar gibt es einige nationale Präzedenzfälle, jedoch fehlt bisher für den Umgang mit Klimaflüchtlingen eine allgemeine Lösung auf globaler Ebene. Welche Rechte haben Klimaflüchtlinge? Welche Staaten sind – angesichts des menschlichen Einflusses auf den Klimawandel – für den materiellen und immateriellen Schaden verantwortlich? Müssten diese Staaten gerechterweise Reparationen leisten? Und wie könnten diese aussehen? Die im letzten Jahr erschienene Studie »Reparative Justice for Climate Refugees« der politischen Philosophin Rebecca Buxton gibt mögliche Antworten auf diese Fragen.

Um ihre Argumentation zu vereinfachen, konzentriert sich Buxton in ihrer Arbeit auf die Folgen des steigenden Meeresspiegels für Inselstaaten und auf deren dauerhaften Territoriumsverlust. Zwischen 310 und 630 Millionen Menschen leben aktuellen Schätzungen zufolge in Küstengebieten, die bis zum Jahr 2100 unter dem Meeresspiegel liegen oder zumindest jährlich überschwemmt werden könnten. Hierbei wird von einem Meeresspiegelanstieg von einem halben bis zwei Metern ausgegangen – abhängig von Klimaprognosen. Kleine Inselstaaten wie die Malediven, die Marshallinseln, Kiribati oder Tuvalu könnten komplett unbewohnbar werden. Ihnen droht laut Buxton also der »state death«, ein Begriff, der bisher nur im Zusammenhang mit Invasionen oder Annexionen verwendet wurde.

Sieben Länder stoßen 60 Prozent der globalen Treibhausgase aus

Für den Klimawandel und die damit einhergehende Notlage der betroffenen Inselstaaten sind größtenteils die Treibhausgasemissionen der großen Industrienationen verantwortlich. Die USA, China, Russland, Indien, Japan, Brasilien und Deutschland emittieren momentan mehr als 60 Prozent der globalen Treibhausgase (hauptsächlich Kohlenstoffdioxid, Methan und Lachgas). Die bedrohten Inselstaaten hingegen gehören zu den Ländern mit den geringsten Emissionen.

Finanzielle Zuschüsse für den Bau schützender Infrastruktur, etwa von der Asiatischen Entwicklungsbank oder den Vereinten Nationen, seien allein weder zufriedenstellend noch genügten sie dem Gerechtigkeitsanspruch: Die Staaten, die den materiellen und immateriellen Schaden verursacht haben, müssten auch dafür aufkommen, fordert Buxton. Inwiefern die Verursacher des Klimawandels moralisch oder auch rechtlich verantwortlich gemacht werden können, ist umstritten. Der Moralphilosoph Stephen Gardiner bezeichnete die Debatte über die Verantwortlichkeit für den Klimawandel als den »perfekten moralischen Sturm«, in Anspielung auf Sebastian Jungers Buch »The Perfect Storm«. Dieser erzählt darin die wahre Geschichte eines Fischerbootes, das durch das Zusammentreffen dreier Wetterphänomene in ein schweres Unwetter geriet und versank. Bezogen auf den Klimawandel, erschwerten drei Probleme die Diskussion: dass mehrere Generationen sowie alle Staaten betroffen seien und dass theoretische Lösungsansätze fehlten, wie damit umzugehen sei.

Wie soll so eine Rechnung angesichts dieser Probleme also aussehen? Die Komplexität des Klimawandels könne die Erdatmosphäre nicht zu einem »Raum moralischen Alibis« machen, so Buxton. Dass Treibhausgase zum Anstieg des Meeresspiegels beitragen, sei allen bekannt. Staaten müssten deshalb für die Auswirkungen ihres Handelns verantwortlich gemacht werden – auch wenn sie vielleicht moralisch unschuldig seien: Nur weil China ein weiteres Kohlekraftwerk baut, will es ja nicht zwangsläufig, dass Kiribati deswegen untergeht.

Strafgelder für die Zerstörung eines Staates?

In der Vergangenheit fanden Reparationen meist in Geldform statt. Deutschland beispielsweise zahlte insgesamt 71 Milliarden Euro an Opfer der Nazidiktatur – sowohl an einzelne Opfer als auch an Staaten. Der Vorteil finanzieller Reparationen liegt in ihrer Übertragbarkeit. Die Entschädigten können mit dem Geld machen, was sie wollen, und es zum Beispiel in die Entwicklung ihres Landes investieren. Was aber, wenn es keine Zukunft im eigenen Land gibt, für die das Geld verwendet werden könnte? Wie lässt sich der immaterielle Wert von Heimat und – bei einem State Death – der Verlust staatlicher Selbstbestimmung festlegen? Beispiel Australien: Hier sollten zwei Aborigine-Stämme Geld für die Vertreibung aus ihrer Heimat und die gezielte Auslöschung ihrer Kultur erhalten. Im noch laufenden Rechtsstreit wurde bisher jedoch nur der wirtschaftliche Schaden, also vor allem der Verlust ihres Landes, berücksichtigt – zur Unzufriedenheit der betroffenen Stämme. Denn Entschädigungen für jahrzehntelange Unterdrückung und erzwungene Assimilierung gab es nicht. Bei der Suche nach einer angemessenen Art und Höhe einer Wiedergutmachung müsse die Forderungen der Opfer im Vordergrund stehen, so Buxton. Diese dürfe nicht in dem Versuch enden, Unrecht durch finanzielle Entschädigungen zu kompensieren. Vielmehr müsse »restaurative Gerechtigkeit« hergestellt werden: eine Art Wiedergutmachungsverfahren, das Täterund Opferstaaten zusammenführt, Betroffenen möglichst ihren ursprünglichen Status zurückgibt und eine Aussöhnung der involvierten Parteien ermöglicht.

Recht auf Asyl in einem beliebigen Land

Der Politikwissenschaftler James Souter schlägt daher ein Recht auf Asyl für die vom Klimawandel betroffenen Menschen vor. Dadurch bestehe die Chance, ihnen annähernd die Wiederherstellung ihres vorherigen Status, Kompensation und Zufriedenheit zu verschaffen. Staaten, die es anderen Ländern unmöglich machen, den Schutz ihrer Bevölkerung zu gewährleisten, seien für die Vertriebenen verantwortlich. Klimaflüchtlinge könnten zukünftig Anspruch auf Asyl haben und dürften nicht mehr in ihre Heimat abgeschoben werden, sollte der Klimawandel dort eine »unmittelbare Gefahr« darstellen. Dieses Urteil fällte das UN-Menschenrechtskomitee Anfang des Jahres.

Doch selbst wenn sich die Betroffenen ihr Zielland aussuchen könnten, würde dieses Asyl den Verlust staatlicher Selbstbestimmung und kultureller Gemeinschaft nicht kompensieren. Im Fall von Shishmaref wurde vorgeschlagen, die Bevölkerung auf verschiedene Siedlungen in der Nähe aufzuteilen. Es ist die kostengünstigste Variante. Die Bewohner Shishmarefs lehnen diesen Vorschlag jedoch ab. Sie befürchten, dass ihre Kultur durch die Verstreuung und die dadurch einhergehende Anpassung an fremde Gesellschaften nicht überlebt.

Ersatzland für untergehende Staaten

Die beste Form von Reparationen wäre laut Buxton daher die Bereitstellung von Land oder sogar die Gründung autonomer Staaten auf dem Gebiet der verantwortlichen Länder. Die Vorteile sind offensichtlich: Die Bevölkerung untergehender Staaten bekommt ein Territorium, auf dem sie neue Siedlungen gründen darf. So bliebe der gesellschaftliche Zusammenhalt erhalten und ihre Kultur würde durch andere Kulturen nicht zu sehr beeinflusst. Auch wenn das neue Territorium mittelfristig nicht dem immateriellen Wert ihres verlorenen Landes entspricht, bestehe für die umgesiedelte Bevölkerung langfristig die Chance, ein vergleichbares Gefühl von Heimat zu entwickeln.

In der Praxis besorgen sich Länder sogar bereits Ersatzgebiete: Kiribati, der Staat, der Prognosen zufolge als Erster komplett unbewohnbar werden könnte, kaufte Fidschi kürzlich einige Inseln ab, um seiner Bevölkerung langfristig sicheren Lebensraum zu geben. Zwar werden diese Inseln nicht unter kiribatischer Hoheit stehen, das kulturelle Erbe könne jedoch erhalten werden, hofft Kiribatis Regierung.

Viele Betroffene lehnen solche Massenumsiedlungen allerdings ab. Beispiel Nauru: In den 1950er-Jahren wurde befürchtet, die Pazifikinsel könnte aufgrund des intensiven Phosphatabbaus durch australische, britische und neuseeländische Bergbauunternehmen unbewohnbar werden. Die beteiligten Länder schlugen vor, die damals aus rund 5.000 Menschen bestehende Bevölkerung Naurus auf eine größere Insel vor der Küste Australiens umzusiedeln. Nauru sorgte sich jedoch um sein Recht auf staatliche Souveränität und lehnte den Vorschlag ab.

Künstliche, schwimmende Inseln im Pazifik

Aber selbst wenn die Staaten die Bereitstellung von Territorien akzeptieren, wäre die Suche nach einem angemessenen Ersatzgebiet kompliziert: Um den Schaden an der Lebensweise der jeweiligen Bevölkerungsgruppe möglichst gering zu halten, müsste das neue Territorium den angestammten klimatischen und topographischen Aspekten ähnlich sein. Nationen, deren Wirtschaft vom Fischfang geprägt ist, sollten also weiterhin über Zugang zum Meer verfügen. Das Problem: Küstenregionen sind weltweit bereits dicht besiedelt. Schlimmer noch: Sie sind ebenfalls vom Meeresanstieg bedroht und stellen daher keine langfristige Lösung dar.

Als vielversprechende Idee bewertet Buxton ein gemeinsames Projekt von Französisch-Polynesien und einem US-amerikanischen Thinktank: Seasteading, ein Kofferwort aus »Sea« (»Meer«) und »Homesteading« (»Besiedlung«). An die untergehenden Inseln sollten künstliche, schwimmende Inseln angebaut werden, so der Plan aus dem Jahr 2017. Für den Klimawandel verantwortliche Staaten müssten somit kein Land abtreten. Die Kultur und Lebensweise der betroffenen Bevölkerung könnte erhalten werden und deren politische Selbstbestimmung wäre nicht in Gefahr. Allerdings wurde die Zusammenarbeit nach nur einem Jahr abgebrochen. Der Inselstaat befürchtete zu wenig Mitspracherecht.

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Footnotes

  1. Milman, Oliver: Alaskan towns at risk from rising seas sound alarm as Trump pulls federal help, auf: theguardian.com (10.8.2017).
  2. Morrissey, James: Rethinking the ›debate on environmental refugees‹: from ›maximilists and minimalists‹ to ›proponents and critics‹, in: Journal of Political Ecology, (19)2012, H. 1, S. 36-49, hier: S. 36.
  3. Buxton, Rebecca: Reparative Justice for Climate Refugees, in: Philosophy (94)2019, H. 2, S. 193-219.
  4. Kulp, Scott; Strauss, Benjamin: New elevation data triple estimates of global vulnerability to sea-level rise and coastal flooding, in Nature Communications (10)2019.
  5. Diese Berechnung geht nicht auf mögliche demographische Entwicklungen, Migrationsbewegungen oder infrastrukturelle Schutzmaßnahmen ein.
  6. Ge, Mengpin; Friedrich, Johannes: 4 Charts Explain Greenhouse Gas Emissions by Countries and Sectors, auf: wri.org (6.2.2020).
  7. Gardiner, Stephen: A Perfect Moral Storm: Climate Change, Intergenerational Ethics and the Problem of Moral Corruption, in: Environmental Values, (15)2006, Nr. 3, S. 397-413.
  8. Benito Müller schlägt vor, dass Staaten nur für Emissionen nach 1970 verantwortlich gemacht werden sollten. Vorher hätte es über deren Einfluss auf den Klimawandel zu wenige Forschungsergebnisse gegeben.- Vgl. Müller, Benito; Höhne, Niklas; Ellermann, Christian: Differentiating (historic) responsibilities for climate change, in Climate Policy, (9)2009, H. 6, S. 593-611.
  9. Buxton 2019, S. 207.
  10. Käppner, Joachim: Summe der Schande, auf: sueddeutsche.de (15.3.2015).
  11. Souter, James: Towards a Theory of Asylum as Reparation for Past Injustice, in: Political Studies (62)2014, H. 2, S. 326-342.
  12. Picheta, Rob: Climate refugees cannot be sent back home, United Nations rules in landmark decision, auf: edition.cnn.com (20.1.2020).
  13. Martin, Amy: An Alaskan village is falling into the sea. Washington is looking the other way, auf: pri.org (22.10.2018).
  14. Robinson, Melia: An island nation that told a libertarian ›seasteading‹ group it could build a floating city has pulled out of the deal, auf: businessinsider.com (14.3.2018).

Authors

Julius Gabele, geboren 1993, ist seit 2017 Redakteur bei KATAPULT und vor allem für die Berichterstattung internationaler Politik zuständig. Er hat Geographie an der Universität Augsburg und der Universitat de Barcelona studiert. Er ist zudem als freiberuflicher Fotograf tätig.

Zu seinen Schwerpunkten zählen geopolitische Konflikte und Entwicklungspolitik.

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