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US-Wahl

Die Mehrheit entscheidet – nicht immer

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Dass Joe Biden bei der diesjährigen Präsidentschaftswahl mehr Wählerinnen- und Wählerstimmen erhalten wird als Donald Trump, gilt als sicher. Dass diese Mehrheit nicht mit dem Wahlsieg gleichzusetzen ist, liegt am Wahlsystem der USA. Unterschieden wird hier zwischen den Stimmenanteilen in der Bevölkerung - “popular vote” - und den Mehrheitsverhältnissen im Wahlleutekollegium, dem “electoral college”. Der Präsident wird in den Vereinigten Staaten von Amerika seit ihrer Gründung indirekt gewählt. Nicht die Wählerinnen und Wähler entscheiden also über den Einzug ins Weiße Haus, sondern das eigens hierfür eingerichtete “electoral college”.

Es setzt sich aus Abgesandten der 50 Bundesstaaten zusammen. Die Zahl der Abgesandten pro Bundesstaat basiert auf den Einwohnerzahlen. Das Verhältnis von Einwohnerinnen und Einwohnern auf der einen und Wahlleuten auf der anderen Seite ist allerdings nicht streng proportional. Das heißt, dass bevölkerungsreiche Bundesstaaten zwar mehr Wahlleute entsenden als bevölkerungsschwache, jedoch nicht in genau dem Verhältnis, das die Bevölkerungsstärke eigentlich verlangen würde. So stellt beispielsweise Kalifornien fünfmal so viele Wahlleute wie Arizona, zählt aber knapp sechsmal so viele Einwohner und Einwohnerinnen. Hierdurch kann es passieren, dass die Mehrheitsverhältnisse im Wahlleutekollegium sich nicht mit denjenigen innerhalb der Wählerschaft decken. Zuletzt war dies 2016 der Fall. Hillary Clinton erhielt damals knapp drei Millionen mehr Stimmen als Donald Trump, der jedoch die Mehrheit der Wahlleute auf sich vereinen konnte.

2016 war kein Einzelfall

In der gesamten US-amerikanischen Geschichte kam es fünfmal zu dieser Situation: 2016, 2000, 1888, 1876 und 1824. Letzterer Fall ist dabei eine Besonderheit. Der spätere Präsident John Quincy Adams konnte nämlich weder in der Wahlbevölkerung noch im “electoral college” die notwendigen Mehrheiten hinter sich bringen. Gemäß der US-amerikanischen Verfassung entschied letztlich das US-Repräsentantenhaus, das Quincy Adams zum sechsten Präsidenten der Vereinigten Staaten wählte.

In beinahe allen Fällen profitierten die Republikaner vom komplizierten Wahlsystem, und zwar 1976, 1888, 2000 und 2016. 1824 waren beide Parteien noch nicht gegründet. Die Demokratische Partei entstand 1828, die Republikaner Mitte der 1850er-Jahre. Es ist allerdings Vorsicht geboten: Die Demokratische Partei im 19. Jahrhundert hat mit jener des späten 20. nicht viel mehr gemeinsam als den Namen. Im 19. Jahrhundert standen die Demokraten beispielsweise mehrheitlich hinter der Sklaverei und stritten gegen die staatliche Regulierung der Wirtschaft. Programmatisch zu wandeln begann sich die Partei erst im 20. Jahrhundert. Entscheidend hierfür war vor allem die Präsidentschaft Franklin D. Roosevelts in den Jahren 1933 bis 1945.

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Footnotes

  1. Mathers, Matt/Zoellner, Danielle: Who is winning the popular vote in the US 2020 election?, auf: independent.co.uk (6.11.2020).
  2. Waller, Alysson: The Electoral College Explained, auf: nytimes.com (5.11.2020).
  3. Robertson, Helena/Kirk, Ashley/Hulley-Jones, Frank: Electoral college explained: how the US election is an uphill battle for Biden, auf: theguardian.com (30.10.2020).
  4. Begley, Sarah: Hillary Clinton Leads by 2.8 Million in Final Popular Vote Count, auf: time.com (20.12.2016).
  5. Waller, Alysson: The Electoral College Explained.
  6. Kelly, Martin: The US Democratic Party. The Historic Roots of the Modern Democratic Party in the United States, auf: thoughtco.com (7.5.2019); McNamara, Robert: Founding of the Republican Party, auf: thoughtco.com (14.11.2019).
  7. Gerring, John: A Chapter in the History of American Party Ideology. The Nineteenth Century Democratic Party (1828-1892), in: Polity 26, H. 4 (1994), S. 729-768.
  8. Haught, James A.: How Democrats and Republicans switched beliefs, auf: houstonchronicle.com (15.9.2016).

Authors


Tobias Müller
geboren 1986, ist seit 2020 Redakteur bei KATAPULT. Er hat Politikwissenschaft und Geschichte in Freiburg und Greifswald studiert und wurde mit einer Arbeit im Bereich politische Ideengeschichte promoviert. Zu seinen Schwerpunkten zählen die deutsche Innenpolitik sowie Zustand und Entwicklung demokratischer Regierungssysteme.

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