Die Kontroverse um das Freihandelsabkommen TTIP ist in vollem Gange und wurde jüngst wieder durch neue Entwicklungen angeheizt. Die Initiative »Stop TTIP« sammelte mehr als drei Millionen Unterschriften für eine Petition; tausende Demonstranten in ganz Europa gehen gegen TTIP und seine intransparenten Verhandlungen auf die Straße. Während die Gegner des »Transatlantic Trade and Investment Partnership« (TTIP) größtenteils ihre Ängste vor verringerten Verbraucherschutzstandards – Stichwort »Chlorhühnchen« – thematisieren, fragen sich dessen Befürworter, was denn an dem 40. Freihandelsabkommen, das die BRD schließt, schlimmer sein soll als an den bereits bestehenden 39. In der Tat gibt es bereits tausende Freihandelsabkommen weltweit. Mit der Europäischen Union, dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen (NAFTA) und der ASEAN-Freihandelszone (AFTA) wurde die wirtschaftliche Integration ganzer Regionen in die Wege geleitet. Was lässt sich aus diesen Erfahrungswerten über den Charakter von Freihandelsabkommen lernen? Soziale Marktwirtschaft führt zum Totalitarismus Ein entscheidender historischer Moment im Entstehungsprozess von Freihandelsabkommen ist der Paradigmenwechsel in der Wirtschaftspolitik der USA und Großbritannien Anfang der 1980er Jahre, durch den das globale Weltwirtschaftssystem nachhaltig erschüttert wurde. Unter den Regierungen des US-Präsidenten Ronald Reagan und der britischen Premierministerin Margret Thatcher wurde der Neoliberalismus zur neuen Handlungsmaxime ernannt Während vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die 1980er Jahre die Wirtschaftstheorie des Keynesianismus vorherrschte, kam es unter den Regierungen des US-Präsidenten Ronald Reagan und der britischen Premierministerin Margret Thatcher zu einem Kurswechsel. Der sogenannte Neoliberalismus wurde zur neuen Handlungsmaxime ernannt. Dies beinhaltete die Zügelung und Zerstörung der Macht der Gewerkschaften, den Angriff auf alle Arten gesellschaftlicher Solidarität, die einen flexiblen Wettbewerb in den Augen Reagans und Thatchers behinderten, und den Abbau wohlfahrtsstaatlicher Leistungen. Zu den weiteren Maßnahmen zählte einerseits die Privatisierung öffentlicher Unternehmen – prominente Beispiele sind die Privatisierungen der britischen Bahn »National Express« und des gesamten Schienennetzes, der britischen Telekom sowie des Energienetzes. Andererseits wurde durch die Reduzierung insbesondere von Reichen- und Körperschaftssteuern versucht, private unternehmerische Initiativen zu fördern. Im Keynesianismus, der auch mit der sozialen Marktwirtschaft und dem Ausbau des Wohlfahrtsstaates assoziiert wird, wurde noch die Auffassung vertreten, dass ein in die Wirtschaft eingreifender Staat vonnöten sei, um Konjunktur- und Rezessionsphasen zu kompensieren und auf diesem Wege seine Wirtschaft und seine Bürger vor einem launenhaften Markt zu schützen. In den Ländern Skandinaviens und Mitteleuropas wurden weitreichende soziale Sicherheitsnetze beziehungsweise Wohlfahrtsstaaten etabliert und ausgebaut, sowie Eigentum von Reich zu Arm umverteilt. Mit der Durchsetzung neoliberaler oder marktradikaler Vorstellungen hatte dies ein Ende. Von nun an sollten sich Staaten damit begnügen, die Rahmenbedingungen eines Marktes zu gewährleisten, dem alles Weitere überlassen wurde. Staatlichen Regierungen wurde – nicht ohne Grund – die Kompetenz abgesprochen, die Logik des Marktes ersetzen zu können, und der Vorwurf gemacht, mehr Schaden als Heil anzurichten. Die frühen Vertreter des Neoliberalismus behaupteten, dass staatliche Eingriffe in den Markt in totalitären Regimen enden müssten Angelehnt an die Idee der unsichtbaren Hand des Marktes von Adam Smith behaupteten die frühen Vertreter des Neoliberalismus Ludwig von Mises, Friedrich August von Hayek und Milton Friedman, dass alle Versuche seitens der Regierung, in den Markt einzugreifen, staatliche Unternehmen zu führen und öffentliche Güter bereitzustellen, in totalitären Regimen enden müssten. Die »New Right« und der Washington Consensus Im Zuge der Regierungen Reagans und Thatchers, auch als die »New Right« (Neue Rechte) bekannt, wurden staatliche Unternehmen und öffentliche Güter in großem Stil privatisiert, Märkte dereguliert, also Gesetze abgebaut, und ihre Volkswirtschaften liberalisiert, das heißt, für ausländisches Kapital und Investitionen geöffnet. Im Rahmen des »Washington Consensus« übernahmen schließlich auch die Weltwirtschafts- und Finanzinstitutionen Internationaler Währungsfonds (IWF), Weltbank und Welthandelsorganisation (WTO) die wirtschaftspolitische Dogmatik des Neoliberalismus. Die Bundesrepublik Deutschland machte ihre ersten Schritte in Richtung Neoliberalismus unter der Regierung Kohl, indem diese eine »geistig-moralische Wende« weg von der sozialen Marktwirtschaft hin zu Sozialleistungskürzung, Privatisierung und Deregulierung in Form von Steuerreformen unternahm Die Bundesrepublik Deutschland machte ihre ersten Schritte in Richtung Neoliberalismus unter der Regierung Kohl, indem diese eine »geistig-moralische Wende« weg von der sozialen Marktwirtschaft hin zu Sozialleistungskürzung, Privatisierung und Deregulierung in Form von Steuerreformen unternahm. Diesem Weg folgte die SPD unter Gerhard Schröder, der gemeinsam mit dem Nachfolger Thatchers und Kopf der britischen New-Labour-Partei, Tony Blair, das sogenannte Schröder-Blair-Papier konzipierte und mit dem »Dritten Weg« die europäische Sozialdemokratie dem Paradigma des Neoliberalismus anpasste. Im Rahmen der Agenda 2010 wurden weitreichende neoliberale Reformen des deutschen Wohlfahrtsstaates in die Wege geleitet. In dieser Phase kam es auch zum Bruch zwischen der SPD und Oskar Lafontaine, der Schröders Politik als einen Verrat an den traditionellen sozialdemokratischen Werten betrachtete. Mit der neuen Bundeskanzlerin Angela Merkel wurde dieser Weg der Neoliberalisierung fortgeführt, der laut Merkel »alternativlos« sei. Worte, die nicht nur zufällig dem berühmten Ausspruch Margret Thatchers »There is no alternative« ähneln. Im Rahmen der momentan regierenden Großen Koalition scheint auch Sigmar Gabriel an ebenjenen neoliberalen Handlungsempfehlungen weiter festhalten zu wollen – ist er doch einer der großen Verfechter des geplanten Freihandelsabkommens TTIP. Auf diesem Wege konnte die Mehrzahl der Staaten dazu bewegt werden, ihre Wirtschaftspolitik entsprechend anzupassen und für ein – für die Investoren – günstiges Wirtschafts- und Geschäftsklima Sorge zu tragen. Dies führte zu einem aggressiven Standortwettbewerb zwischen den einzelnen Ländern, in dessen Folge die Arbeitnehmerschaft in den verschiedenen Staaten sowohl in ihrer politischen Verhandlungsmacht als auch in ihrer sozialen und wirtschaftlichen Stellung entscheidend geschwächt wurde: Die wohlfahrtsstaatlichen Sicherungen wurden abgebaut und Gewerkschaften – vor allem in Großbritannien – systematisch zerschlagen. Gleichzeitig wurde die Seite der Kapitaleigner und Großinvestoren gestärkt. Sämtliche öffentliche Güter wurden privatisiert, insbesondere die Finanzmärkte dereguliert und wirtschaftlich schwächere Staaten, Entwicklungs- und Dritte-Welt-Länder dazu gezwungen, ihre Ökonomien für ausländisches Kapital zu öffnen. Die Liberalisierung der Weltwirtschaft verschaffte den Kapitaleignern und Großkonzernen darüber hinaus einen Mobilitätsvorteil gegenüber gering- und normalverdienenden Arbeitern und standortgebundenen mittelständischen Unternehmen, indem sie die globale Beweglichkeit riesiger Geldsummen ermöglichte. Der neoliberale Klassenkampf Viele Wissenschaftler, wie beispielsweise der Anthropologe David Harvey, sehen in dieser neoliberalen Umstrukturierung die maßgebliche Ursache für die zunehmend auseinanderklaffende Einkommensschere zwischen Arm und Reich. Sie attestieren dem Neoliberalismus den Charakter eines einseitig geführten Klassenkampfes und einer Neokolonialisierung armer Länder. Durch die Politik und die Strukturanpassungen des IWF, der Weltbank und der WTO und mithilfe einer Vielzahl informeller Foren und Konferenzen der Wirtschaftseliten und wirtschaftsliberaler Denkfabriken konnten neoliberale Ideen gefördert und umgesetzt werden. Gleichzeitig zementierte die wachsende Zahl bi- und multilateraler Freihandelsabkommen und regionaler Integrationsprojekte wie die EU, NAFTA und die ASEAN die Verrechtlichung der Weltwirtschaft im Sinne der neoliberalen Agenda. Die Abkommen institutionalisieren und sichern die neuen Machtverhältnisse in der internationalen politischen Ökonomie. Alle Macht dem Kapital, Tod der Demokratie! Die zentrale Eigenschaft von Freihandels- und Investitionsschutzabkommen wie NAFTA, TPP und TTIP ist es, nationale Ökonomien für die Kapitalanlage ausländischer Investoren zu öffnen. Sie geben ihnen die Möglichkeit, Unternehmen und natürlich vorkommende Ressourcen wie Öl und Gas, Gold und Wasser zu privatisieren. Darüber hinaus werden diese Investitionen und die angeeigneten Besitztümer vor dem Zugriff der Regierung und der öffentlichen, demokratischen Kontrolle des jeweiligen Landes geschützt und rechtlich abgesichert. Der rechtliche Schutz von Investitionen wird vornehmlich durch sogenannte Schiedsgerichte durchgesetzt. Diese tagen in einer Reihe von internationalen Schiedsgerichtshöfen und befähigen Investoren, Staaten aufgrund entgangener Gewinne zu verklagen. Die Bundesrepublik Deutschland wird momentan beispielsweise von dem Energiekonzern Vattenfall auf 4,7 Milliarden Euro verklagt, da das Unternehmen im Zuge des Atomausstiegs seine Kernkraftwerke Brunsbüttel und Krümmel schließen musste. Ein weiteres Beispiel ist die Klage des Zigarettenherstellers Philip Morris gegen den Staat Uruguay, dessen Regierung strikte Nichtrauchergesetze einführte. Infolge des Neoliberalismus bekamen und bekommen Investoren und Großkonzerne also mächtige Instrumente an die Hand, mit deren Hilfe sie maßgeblichen Einfluss auf nationalstaatliche Politik nehmen können. Ein Zustand, der gewissermaßen demokratiefeindlich, mindestens aber -gefährdend ist. Vielleicht sollte in Zukunft weniger über Chlorhühnchen und mehr über den Einfluss des Geldes auf die Demokratie diskutiert und gestritten werden. Aktuelle Ausgabe Dieser Beitrag erschien in der 2. Ausgabe von KATAPULT. Unterstützen Sie uns und abonnieren Sie KATAPULT für 19,90 Euro im Jahr. KATAPULT abonnieren