Unter Spitzeln zu leben, bedeutete in der DDR: ein Leben mit begrenzter persönlicher Freiheit und unter ständiger Beobachtung und Beurteilung der wachsamen Staatsbeamt:innen und ihrer Informant:innen. Die Unterdrückungspolitik des SED-Regimes setzte vor allem auf stillschweigende Überwachung und weniger auf offene Verfolgung. Dafür errichtete die Regierung mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) eines der größten und dichtesten Überwachungsnetzwerke aller Zeiten. In keinem anderen Land gab es – gemessen an seiner Einwohnerzahl – jemals mehr Spione als in der DDR.
Das riesige Arsenal sogenannter Inoffizieller Mitarbeiter (IMs) der Staatssicherheit (Stasi) umfasste in den Achtzigerjahren rund ein Prozent der DDR-Bevölkerung. Obwohl die Stasi Ende 1989 Teile ihrer Akten vernichtete, wurden viele Unterlagen gesichert, als Demonstrant:innen begannen, Stasi-Zentralen im ganzen Land zu besetzen. Sie retteten, was noch zu retten war.
Das dunkle Erbe der Stasi-Überwachung
»Die bedrückenden Auswirkungen der ständigen Bedrohung durch die Stasi-Überwachung [...] können kaum überschätzt werden. Sie führte zu einer fortwährenden Unsicherheit in den persönlichen Beziehungen und hinterließ ein schwieriges Erbe
für das Deutschland nach der Wiedervereinigung.«
Mary Fulbrook, Historikerin, University College London
Wie sich die Massenüberwachung auch dreißig Jahre nach dem Ende der DDR noch auf die Gesellschaft auswirkt, haben Andreas Lichter, Max Löffler und Sebastian Siegloch von den Universitäten Düsseldorf, Maastricht und Mannheim untersucht. In ihrer 2021 veröffentlichten Studie beschreiben die Wissenschaftler anhand der Stasi die langfristigen Kosten und Auswirkungen staatlicher Überwachung. Ihre Analyse zeigt, wie gravierend sich die Stasi-Tätigkeiten noch heute auf das soziale und ökonomische Kapital der Bespitzelten auswirken. Und zwar nach dem Prinzip: Je mehr geheime Informant:innen in einer Region im Einsatz waren, umso schwerwiegender sind die langfristigen negativen Auswirkungen auf die dortige Bevölkerung. Eine besonders hohe Dichte an Spitzeln gab es beispielsweise in den Kreisen Greifswald, Wolgast, Grevesmühlen, Schwerin, Altentreptow, Parchim, Jüterbog, Luckenwalde, Merseburg, Hohenmölsen, Boma, Dippoldiswalde, Schmölln und Riesa.
Das Ergebnis der Untersuchung: Menschen, die 1988 – im Jahr vor dem Mauerfall – an Orten mit einer hohen Dichte an Stasi-Informant:innen gewohnt haben, sind im Schnitt länger arbeitslos und haben ein geringeres Monatseinkommen – im Gegensatz zu Personen aus Landkreisen mit weniger Spitzeln. Hinzu komme, dass sich Menschen aus ehemals stark bespitzelten Landkreisen im Durchschnitt seltener beruflich selbständig machen, fasst Sebastian Siegloch vom Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsförderung zusammen. Damit hat die Stasi-Überwachung auch heute noch einen negativen Effekt auf die individuelle Wirtschaftsleistung.
In Zahlen: Befragte, die im Jahr vor dem Mauerfall in DDR-Landkreisen mit besonders intensiver Überwachung durch den Stasi-Apparat lebten, verbringen pro Monat durchschnittlich fünfTage mehr in Arbeitslosigkeit und verfügen über ein um 84 Euro niedrigeres Monatseinkommen als Personen aus Landkreisen, in denen die Stasi weniger aktiv war. Werden erwerbsunabhängige Einkünfte hinzugerechnet, beträgt der Einkommensunterschied sogar 108 Euro. Zudem verringert sich in den ehemals stark überwachten Landkreisen die Zeit, die Menschen in selbständiger Arbeit verbringen.
Was das Sozialkapital angeht, also so etwas wie zwischenmenschliches Vertrauen, kooperatives Verhalten oder politisches Engagement, zeigen sich ebenfalls negative Auswirkungen. Das gilt auch für diejenigen, die den Osten bereits direkt nach der Wende verlassen haben. Menschen aus Ostdeutschland haben weniger Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten, ihr Umfeld und den Staat. Das könnte auch erklären, warum Einrichtungen wie das Robert-Koch-Institut im Osten der Bundesrepublik kritischer gesehen werden als in den westlichen Bundesländern.
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»Horch und Guck« waren überall: Über eine halbe Million Spion:innen in der DDR
1989 lebten etwa 16,4 Millionen Menschen in der DDR. Ob bewusst oder unbewusst: Ihr Leben war stark durch die Präsenz der Stasi geprägt. Nach der Wende fand man in den Archiven Akten von über 10 Millionen ausspionierten DDR-Bürgern. Darin jeweils persönliche Angaben – aus verschiedenen Quellen. Die geheimpolizeiliche Durchdringung aller Gesellschaftsschichten habe dabei »tendenziell den Charakter einer flächendeckenden Überwachung« angenommen, so der<br>Politikwissenschaftler Helmut Müller-Enbergs. Er forscht und lehrt seit Jahren zu Nachrichtendiensten und ist seit 2015 Leiter der Spionageabwehr beim Berliner Verfassungsschutz.
Ungefähr 189.000 Inoffizielle Mitarbeiter beschäftigte die Stasi 1989. Von 1950 bis zum Jahr des Mauerfalls waren es insgesamt circa 620.000, darunter auch rund 12.000 Menschen in Westdeutschland. Diese waren übrigens überwiegend männlich: Die Frauenquote unter den geheimen Informant:innen in der DDR lag bei 17 Prozent, bei denen in der Bundesrepublik betrug sie 28 Prozent. Die Mehrheit von ihnen war Mitglied in der herrschenden Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Etwa jedes zwanzigste Parteimitglied war für die Staatssicherheit tätig. Die stille Überwachung der Bevölkerung durch IMs war eine der bevorzugten Methoden und wichtigstes Instrument des MfS, das als »Schild und Schwert« der Partei galt.
Die IMs selbst waren normale Bürger, mit gewöhnlichen Jobs und Hobbys, die allerdings ein Doppelleben führten. Innerhalb ihres beruflichen und sozialen Netzwerks sammelten sie heimlich Informationen über Mitbürger, Gesellschaft und Institutionen, protokollierten Meinungen und Stimmungen, und missbrauchten so das Vertrauen von Nachbarn, Kollegen und Freunden sogar von Verwandten. Und das nicht zu knapp: Die Historikerin Mary Fulbrook meint, die Auswirkungen der Stasi-Überwachung könne man kaum überschätzen. Die IMs sollten »politische Untergrundtätigkeit« ebenso aufdecken wie mögliche Staatsgefährdungen. Kleinste persönliche Details in den Händen der Stasi konnten erhebliche Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen haben. Ein falsches Wort, eine zu intensive Brieffreundschaft, etwas Reisefreudigkeit oder eine nicht systemtreue Aktivität reichten aus, um zum Verdächtigen zu werden und damit zum Ziel intensiver Beobachtung.
Das Ausspionieren der Bevölkerung konnte dabei auch weitere, noch schwerwiegendere Konsequenzen für die Betroffenen haben. Teilweise manipulierten die IMs Personen, Lebensläufe oder Ereignisse direkt. Verdächtige mit mutmaßlich staatsfeindlichen Einstellungen durften beispielsweise nicht studieren, wurden nicht befördert oder gar entlassen. Um den Druck der Systemtreue auch innerhalb der Familien zu erhöhen, wurden oft nicht nur diejenigen bestraft, die durch systemabweichendes Verhalten auffielen, sondern auch deren Familienangehörigen. Ein freies, selbstbestimmtes Leben war in der DDR unter diesen Umständen kaum möglich.
Die Paranoia des Ostens
»Wann hätte man jemals wissen können, ob es sicher war, seine Meinung offen zu sagen? Jede ideologische Abweichung hätte zu katastrophalen Folgen für die jeweilige Person führen können. Diese Bedingungen erzeugten starke Gefühle der Unsicherheit, des Misstrauens und auch der Angst.«
Ulrike Neuendorf, Anthropologin, University College London
Darüber hinaus gab es neben den IMs auch eine vermutlich deutlich höhere Zahl an weiteren »Auskunftspersonen« der Stasi, die die soziale Kontrolle in der DDR wissentlich und unwissentlich stärkten. Zahlreiche historische Berichte belegen, dass der DDR-Bevölkerung das tiefgreifende Spitzelnetzwerk bewusst war: Es sei kaum übertrieben, zu sagen, dass alle Bürger:innen der DDR ihre persönliche Stasi-Geschichte gehabt hätten, sei es durch direkten Kontakt oder durch
die Erlebnisse von engen Bekannten, so Gary Bruce von der Universität Waterloo. »Allein das Wissen, dass die Stasi da war und sie beobachtete, diente dazu, die Gesellschaft zu atomisieren und unabhängige Diskussionen in allen außer den
kleinsten Gruppen zu verhindern«, schrieb der Historiker Richard Popplewell bereits kurz nach der Wende.
Es gerieten aber auch vermeintlich Andersdenkende grundlos ins Visier der Stasi. Vor allem, wenn viele Spitzel in einer Straße, einem Betrieb oder einer Schule mit- und gegeneinander tätig waren. Eine gängige Stasi-Methode bestand darin, aus intimen Details des Lebens der Bespitzelten verzerrte Geschichten aufzubauen und zu verbreiten. Dadurch sollte Misstrauen gesät und der Einzelne diskreditiert werden, wodurch schließlich Beziehungen, Ansehen und Karrieren zerstört wurden.
Die Folgen: die Schädigung von Vertrauensbeziehungen zwischen Offizieren und ihren Untergebenen, zwischen Anwältinnen und Klienten, Ärzten und Patientinnen, Lehrerinnen und Studenten, Pastoren und ihren Gemeinden, Freunden, Nachbarn, Familienmitgliedern und Liebhabern. Ehen wurden konstruiert, Karrieren beendet, Leben zerstört, Potenziale innovativen Denkens unterdrückt und Menschen missbraucht. Zum Zwecke eines einzigen Ziels: der Aufrechterhaltung der SED-Herrschaft um jeden Preis.
Die Kinder der Stasi
Wie weit das Regime dafür gehen würde, wurde bereits in den Sechzigerjahren deutlich. Als Minister für Staatssicherheit befahl Erich Mielke 1966, auch Minderjährige anzuwerben und zu Stasi-Spitzeln zu machen. Gegen Ende der DDR befanden sich unter den IMs etwa 8.000 Kinder und Jugendliche. Vielversprechende Kandidat:innen wurden von der Stasi sogar auf dem Schulhof angeworben. Dabei ging es der SED-Führung um frühe Ideologisierung und Indoktrination.
Hinzu kamen die Kinder der etwa 90.000 hauptamtlichen Mitarbeiter:innen des MfS – der Traumaforscher Harald Freyberger schätzte ihre Zahl auf etwa 150.000 –, die gegenseitigen Bespitzelungen und einem hohen Anpassungsdruck ausgesetzt waren. Viele dieser Stasi-Kinder seien heute noch am Leben und laut Freyberger »jedenfalls zu einem großen Teil sehr massiven« traumaauslösenden Faktoren ausgesetzt gewesen.
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Überwachung gefährdet die Gesundheit
»Seit über 15 Jahren wissen wir, dass Überwachung zu erhöhten Stress-Niveaus, Müdigkeit und Angstzuständen führt«, erklärt Chris Chambers, Professor für kognitive Neurowissenschaften an der britischen Universität Cardiff. Psychologische Schäden und komplexe Traumata sind nach einem Leben in Ländern wie der DDR bei vielen heutzutage also nicht auszuschließen.
Wie sich das SED-Unrecht auf Betroffene und deren Kinder insbesondere langfristig auswirkt, untersucht derzeit eine Forschungsgruppe von unter anderem Psycholog:innen, Historiker:innen und Politikwissenschaftler:innen an der Berliner Charité. Für ihre Studie suchen sie weiterhin ehemals politisch Inhaftierte der DDR oder deren Nachkommen.
Die Aufarbeitung der DDR-Geschichte ist noch lange nicht abgeschlossen. Und wer selbst erforschen will, wer oder was vielleicht noch hinter der eigenen Lebensgeschichte steckt, kann beim Bundesarchiv einen Antrag auf Einsicht in die mehr als 111 Kilometer Stasi-Akten stellen.
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