Russland ist ein Einwanderungsland. Nur in den USA leben mehr Menschen, die im Ausland geboren wurden. Ungefähr die Hälfte der schätzungsweise 12 bis 15 Millionen Migrantinnen und Migranten in Russland wohnt in den Metropolregionen Moskau und Sankt Petersburg, den beiden größten russischen Städten. Über 60 Prozent von ihnen stammen aus zentralasiatischen Ländern – vor allem aus Usbekistan, Tadschikistan und Kirgisistan. Schätzungen zufolge haben ähnlich viele keine Arbeitserlaubnis und werden demnach auch nicht in der staatlichen Statistik erfasst. Genaue Zahlen gibt es also nicht. Migration ist ein zentrales Thema in der russischen Politik und Gesellschaft, die Abneigung gegenüber Zugewanderten weitverbreitet. Laut einer Befragung sehen 61 Prozent der Bevölkerung die große Zahl an ausländischen Arbeitskräften als Last für das Land – sie würden ihnen die Jobs wegnehmen und das Sozialsystem ausnutzen. Die Fremdenfeindlichkeit spiegele sich auch stark in der russischen Politik wider, sagt die Politikwissenschaftlerin Davé Bhavna. Sie hat den Umgang mit zentralasiatischen Menschen in Russland und ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen untersucht. Corona: 80.000 Usbeken auf der Flucht Zugewanderte sind aus dem Alltag der russischen Großstädte nicht mehr wegzudenken, auch für die Wirtschaft spielen sie eine wichtige Rolle. Sie arbeiten größtenteils auf Baustellen (25 Prozent), im Hotel- und Restaurantgewerbe (14 Prozent) oder als Haushaltshilfen (13 Prozent) und erwirtschaften schätzungsweise zehn Prozent des russischen Bruttoinlandsprodukts. Dennoch wurden sie außerhalb der russischsprachigen Medien und Forschung bisher kaum beachtet. Das änderte sich schlagartig zu Beginn der Corona-Pandemie im März und April 2020. Namhafte westliche Medien wie der »Guardian« oder die »New York Times« berichteten plötzlich ausführlich über die zentralasiatischen Arbeitskräfte in Russland. Der Grund: Hunderttausende von ihnen wollten in ihre Heimatländer zurück und warteten teils wochenlang an russischen Flughäfen und Busbahnhöfen. Der Flug- und Busverkehr funktionierte jedoch aufgrund der Pandemie nur noch sehr eingeschränkt. Zwischenzeitlich standen so beispielsweise 80.000 Menschen aus Usbekistan auf den Wartelisten der Botschaft in Moskau, um einen Platz in einem der extra gecharterten Flugzeuge zu bekommen, die zweimal pro Woche flogen.

Laut einer Umfrage hatten in Moskau innerhalb weniger Wochen 76 Prozent der ausländischen Arbeitskräfte ihren Job verloren – entweder weil sie entlassen wurden oder aufgrund unbefristeter, unbezahlter Beurlaubungen. 58 Prozent standen so ohne jegliches Einkommen da. Unter den russischen Befragten lag dieser Wert mit 23 Prozent deutlich niedriger. Ausländische Arbeitskräfte wurden in der Regel also zuerst entlassen – unabhängig davon, ob sie sich illegal im Land aufhielten oder eine Arbeitserlaubnis hatten. Die meisten von ihnen konnten auf keine Ersparnisse zurückgreifen, denn sie überweisen ihren Lohn oft größtenteils direkt weiter in die Heimatländer. Deshalb hungerten viele und waren auf die Essensausgaben von Nichtregierungsorganisationen oder denjeweiligen Botschaften angewiesen. Rassistische Anfeindungen und polizeiliche Willkür Schnell gingen auch diese Bilder durch die Medien: Dutzende Menschen, die dicht gedrängt in Wohnungen oder Hostels warten, ohne Arbeit, aber in der Hoffnung, bald in die Heimat zurückkehren zu können. Die russischen Behörden veröffentlichen keine nach Nationalität aufgeschlüsselten Statistiken zu Todesfällen während der Corona-Pandemie, verschiedene Studien legen jedoch überdurchschnittlich hohe Sterberaten unter den ausländischen Arbeitskräften nahe. Selten haben sie die Möglichkeit, sich an Abstandsregeln zu halten, und nur bedingt Zugang zum Gesundheitssystem. Denn illegale ausländische Arbeitskräfte befürchten, abgeschoben zu werden, sollten sie medizinische Hilfe aufsuchen.

Der Grund für dieses Klima der Verunsicherung ist vor allem die russische Politik: Im Wahlkampf 2013 etwa setzten sowohl der noch immer amtierende Bürgermeister Moskaus, Sergei Sobjanin, als auch sein letzter ernsthafter Herausforderer, Alexei Nawalny, auf ausländerfeindliche, nationalistische Rhetorik. Strengere Auflagen für die Einwanderung und häufigere Abschiebungen waren zentrale Wahlkampfthemen beider Kontrahenten. Sogar von der »Säuberung« der Stadt war die Rede. Beide implizieren mit ihren Aussagen, dass es sich bei den »Gastarbajtery«, wie sie in Russland häufig mit einem etwas abfälligen Beiklang bezeichnet werden, um Menschen zweiter Klasse handelt. Auch noch 2018 erklärte Sobjanin mit Blick auf Moskaus Arbeitskräftemangel, dass man »leider« auf die Menschen aus Zentralasien angewiesen sei.

Die Folgen solch einer Rhetorik zeigen sich in den Erfahrungen zentralasiatischer Arbeitskräfte in Russland. So gaben 42 Prozent der Arbeitsmigrantinnen aus Zentralasien 2017 in einer Umfrage an, im Jahr zuvor wegen ihrer Herkunft belästigt worden zu sein. Das deckt sich auch mit dem Ergebnis einer qualitativen Umfrage unter heimgekehrten Kirgisinnen und Kirgisen. Diese zeigt, dass viele Befragte während ihrer Zeit in Russland rassistischen Anfeindungen, erpresserischer Bandenkriminalität oder willkürlichen Polizeikontrollen ausgesetzt waren. Das setzt besonders Saisonkräfte unter Druck. Denn seit 2013 drohen ausländischen Arbeitskräften Einreiseverbote nach Russland, sollten sie dort zwei oder mehr Ordnungswidrigkeiten begangen haben. Anfang 2018 betraf das laut Davé Bhavna mehr als zwei Millionen Menschen. Download Graphic Arbeitserlaubnis von Vermittlerbanden Korruption und Bandenkriminalität wurden jahrelang durch die restriktiven und komplizierten Einwanderungsgesetze gefördert. Vor 2010 gab es keine einheitliche offizielle Migrationspolitik. Arbeitskräfte aus Zentralasien wurden nicht registriert, sie arbeiteten inoffiziell und befanden sich illegal im Land. 2010 wurde das sogenannte Arbeitspatent eingeführt: Zentralasiatische Arbeitskräfte durften von nun an nach Zahlung einer Gebühr legal in privaten Haushalten arbeiten, jedoch nicht in Unternehmen. Für das Arbeitspatent benötigten sie diese Dokumente:

1. einen gültigen Pass
2. eine Migrationskarte
3. eine Meldebescheinigung
4. einen krankenversicherungsausweis
5. beglaubigte Kopie der Fingeradrücke
6. ein polizeiliches Führungszeugnis
7. eine Bescheinigung, weder drogenabhängig noch HIV-positiv zu sein
8. notariell beglaubigte russische Übersetzungen der Dokumente

Neben den neu ankommenden versuchten auch ausländische Arbeitskräfte, die teils schon seit Jahren in Russland tätig waren, an diese Dokumente zu gelangen, um ihren illegalen Status im Land aufzuheben. Vermittlerbanden, die eng mit den Behörden zusammenarbeiteten, rissen den Markt an sich und erschwerten es den ausländischen Arbeitskräften, eigenständig Arbeitspatente zu erwerben. 2015 wurde es abgeschafft und der Staat führte vermeintlich einfachere Regelungen ein. Ausländische Arbeitskräfte können seitdem offizielle Verträge mit Unternehmen abschließen. Dafür müssen sie allerdings unter anderem innerhalb weniger Tage nach ihrer Ankunft an einem festen Wohnort registriert werden. Da zentralasiatische Arbeitskräfte auf dem regulären Wohnungsmarkt aber kaum eine Chance haben, bezahlen sie meist Mittelsmänner, die ihnen eine fingierte Anschrift zur Verfügung stellen – sogenannte Gummiwohnungen. Download Graphic Kirgise: »Russland ernährt uns!« Warum ziehen dennoch so viele Menschen aus Zentralasien nach Russland? Ganz einfach: Arbeitsplätze in Russland und Armut in der Heimat. Russlands Bevölkerungsentwicklung ist seit Ende der 1980er Jahre von niedrigen Geburtenzahlen und steigenden Sterberaten gekennzeichnet – die Gesellschaft überaltert also. Das Land hat daher einen hohen Bedarf an jungen, günstigen Arbeitskräften. Jedes Jahr werden Kontingente festgelegt, wie viele Arbeitskräfte aus welchen Ländern – meist ehemalige Sowjetrepubliken – Arbeitserlaubnisse erhalten sollen. Die Vergabe von Arbeitserlaubnissen ist zu einem wichtigen diplomatischen Druckmittel Russlands geworden Die Vergabe dieser Kontingente und die Bevorzugung bestimmter Staaten sind zu einem wichtigen diplomatischen Druckmittel Russlands geworden. So drohte Moskau in der Vergangenheit mehrmals mit der Kürzung des Kontingents an tadschikischen Arbeitskräften, beispielsweise um die Genehmigung für den Ausbau eines russischen Militärstützpunkts in Tadschikistan zu erzwingen. Die ehemalige Sowjetrepublik ist in dieser Hinsicht enorm abhängig von Russland. Über eine Million Tadschiken arbeiten dort, also etwa jeder neunte Staatsbürger. Deren Überweisungen in ihre Heimat machten zuletzt ein Viertel des tadschikischen Bruttoinlandsprodukts aus – eine der weltweit höchsten Raten. In Tadschikistan leben 35,6 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze, in Russland dagegen nur ungefähr elf. Hinzu kommt, dass das russische Lohnniveau deutlich höher ist. Während das durchschnittliche Monatsgehalt in Tadschikistan 164 US-Dollar beträgt, verdient man in Russland im Durchschnitt rund sechsmal so viel. Verschiedene Langzeitstudien in Russland legen jedoch nahe, dass russische Arbeitskräfte bei der gleichen Tätigkeit bis zu 40 Prozent mehr Lohn erhalten als ihre ausländischen Kolleginnen und Kollegen. Download Graphic Männermangel in Tadschikistan Die meist temporäre, gelegentlich aber auch dauerhafte Migration nach Russland hat nicht nur enormen Einfluss auf die zentralasiatischen Volkswirtschaften, sondern prägt auch die Gesellschaften der Herkunftsländer. Arbeitsmigrantinnen und -migranten kehren oft mit neuen Fähigkeiten zurück, gründen ihr eigenes Gewerbe und fördern so die lokale Wirtschaft. Zudem stärkt die Einfuhr der vergleichsweise stabilen ausländischen Währung die Bankensysteme Zentralasiens. Allerdings stehen viele Arbeitsmigranten auch unter hohem psychischen Druck, denn oft tragen sie die finanzielle Hauptlast der Familie. Meist betrifft das die Männer. 83 Prozent der tadschikischen Auswanderer sind männlich. Das hat zum einen zur Folge, dass die Frauen in der tadschikischen Gesellschaft eine zentralere, emanzipiertere Rolle einnehmen, zum anderen gibt es schlichtweg einen »Männermangel « in vielen Regionen Zentralasiens. Als Konsequenz ist das durchschnittliche Heiratsalter von Frauen dort deutlich gesunken, weil die Familien befürchten, für ihre Töchter keinen Ehemann mehr zu finden. Deshalb kümmern sie sich so früh wie möglich darum. In Tadschikistan werden so wieder häufiger Mädchen unter 16 Jahren verheiratet, obwohl das gesetzliche Mindestalter 18 Jahre beträgt. Zugleich ist die Scheidungsratemenorm gestiegen: Jeder dritte Tadschike, der nach Russland auswandert, lässt sich von seiner Fraum wieder scheiden. Die Gründe: Sie lassen sich dauerhaft in Russland nieder, haben aber keine Möglichkeit, ihre Familie legal nachzuholen, oder sie gründen dort neue Familien. Tausende Migrantinnen und Migranten aus Zentralasien erhalten so jährlich die russische Staatsbürgerschaft – meist, weil sie entweder ein Kind auf russischem Boden zur Welt bringen oder weil sie jemanden mit russischer Staatsbürgerschaft heiraten. Beides erhöht ihre Chance, selbst einen russischen Pass zu bekommen. Aktuelle Ausgabe KATAPULT ist gemeinnützig und unabhängig. Wir finanzieren uns durch Spenden und Abonnements. Unterstützen Sie unsere Arbeit und abonnieren Sie das gedruckte Magazin für nur 19,90 Euro im Jahr. KATAPULT abonnieren