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Deutschland, 1969: Der erste Sexualkunde-Atlas erscheint. Querformat, weißer Einband, 48 Seiten und zwölf Kapitel, finanziert vom Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit. Dort ist zu lesen: »Der Schamberg ist ein behaartes Fettpolster oberhalb der Scheide.« Fotos von Brüsten sind nicht zu finden, eine Penisabbildung gibt es nur mit Syphilis-Geschwür, und keine Infos über Zärtlichkeit. Themen wie Selbstbefriedigung, Petting oder Homosexualität fehlen. Stattdessen stehen gesundheitliche Themen im Mittelpunkt, also wie beispielsweise Geschlechtskrankheiten verhindert werden können. Pro-Tipp: Sex mit Unbekannten vermeiden.
Der Atlas verkaufte sich gut, löste allerdings auch große Skepsis aus: Manche Angaben – wie die Versagerquote bei chemischen Verhütungsmitteln – seien angeblich falsch, konservative Kritiker empörten sich über eine fehlende »ethische Wertung« und die spätere FDP-Vizechefin Hildegard Hamm-Brücher ließ verlauten, sie würde ihrer 14-jährigen Tochter »das Buch nicht in die Hand geben«.
Die Bundesländer konnten selbst entscheiden, ob sie den Atlas im Schulunterricht verwenden. Anfangs wurde er daher nur in einigen Klassen West-Berlins, Hamburgs und Niedersachsens erprobt. Die Jugendlichen selbst nutzten währenddessen Alternativen, um ihre eher »lebensweltlichen« Fragen loszuwerden und ließen sich – ebenfalls ab 1969 – von »Dr. Sommer« in der Jugendzeitschrift Bravo aufklären:
»Sina (14): Ich habe kürzlich zum ersten Mal mit meinem Freund geschlafen. Über die Verhütung konnten wir uns nicht einigen. Ich war für ein Kondom, aber mein Freund meinte, wenn wir es 'von hinten machen', könne nichts passieren. Stimmt das?
Sebastian (16): In unsere[r] Clique gucken wir häufig Pornos. Dort haben die Menschen 45 Minuten Geschlechtsverkehr. Bei mir geht das schneller. Bin ich normal?
Heidi (15): Mir ist etwas Blödes passiert. Für unser erstes Mal wollte ich meinen Freund mit etwas ganz Besonderem überraschen. Deshalb habe ich meine Schamlippen mit Lippenstift angemalt. Am anderen Morgen hatte ich an dieser Stelle einen Ausschlag, der nicht mehr weggeht. Das ist jetzt schon 2 Wochen her. Was soll ich tun?
Jan (13): Seit längerer Zeit habe ich gelbliche Pickel am Penis. Kann das vielleicht davon kommen, weil ich fast täglich onaniere? Ein Freund von mir sagt, das seien sogenannte Orgasmuspickel.«4
Solche Fragen der Jugendlichen wurden damals im Unterricht gar nicht oder nur unzureichend besprochen. Themen, die nur auf die Gesundheit zielen, gehen oft am Alltag der Jugendlichen vorbei und können somit nur einen Teil des notwendigen Wissensstandes liefern. Doch obwohl seit Erscheinen des Aufklärungsatlas über 50 Jahre vergangen sind, gibt es auch heute noch viel Nachholbedarf in Sachen Sexualkunde.
Unterricht an europäischen Schulen lässt die wichtigsten Fragen offen
Sexuelle Erziehung ist Staatsauftrag, in Deutschland ist das sogar gesetzlich festgeschrieben: Nach mehreren Klagen entschied das Bundesverfassungsgericht 1977, dass Eltern zwar ihre Kinder nach eigenen Vorstellungen erziehen sollten, der Staat dürfe aber eingreifen und eigene Ziele verfolgen. Denn: Sexualität habe gesellschaftliche Bezüge, Sexualverhalten sei ein bedeutender Teil des Allgemeinverhaltens.
Deswegen hat auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Standards festgelegt, was zur Sexualerziehung gehört. Neben biologischen Fakten über Geschlechtskrankheiten, Schwangerschaft und Verhütungsmethoden sollen auch Gespräche über Einstellungen, Werte und Emotionen von Menschen auf dem Unterrichtsplan stehen. Wissen über Sex sei die Voraussetzung dafür, dass junge Menschen Grenzen in intimen Beziehungen erkennen und respektieren lernten. Dadurch fördere Sexualaufklärung in der Schule die Toleranz in Beziehungen, verhindere Gewalt und Geschlechterungerechtigkeit und könne Vorurteile abbauen, beispielsweise gegenüber Homosexualität.
Aber werden Kinder und Jugendliche in Deutschland und anderen Ländern Europas wirklich aufgeklärt? Auf den Stundenplänen stehen zwar Themen wie Schutz vor HIV, Schwangerschaft und Verhütung – doch ist dies nur das Nötigste an Informationen, die Kinder und Jugendliche brauchen, um eine sozial gerechte Gesellschaft zu formen. Wichtige weitergehende Fragen bleiben unbeantwortet. Das ergab eine Untersuchung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und der International Planned Parenthood Federation in 25 europäischen und zentralasiatischen Ländern.
Gespräche über Liebe, Lust und Partnerschaft sind selten Teil des Unterrichts. Der Umgang mit Medien, Menschenrechte, Schwangerschaftsabbrüche und häusliche Gewalt werden, wenn überhaupt, nur sporadisch thematisiert. Hinzu kommt, dass es zunehmend alternative Familienmodelle gibt, etwa Mutter-Mutter-Kind- oder Patchwork-Familien – aber von Gesprächen über gesellschaftlichen Wandel ist der Sexualkundeunterricht weit entfernt.
Albanische und tadschikische Regierungen setzen Sexualkundeunterricht durch, gegen den Willen der Bevölkerung
Für die meisten Kinder beginnt sexuelle Aufklärung in der Grundschule. In einigen Ländern ist Sexualität erst seit Kurzem Unterrichtsthema. Dazu gehören beispielsweise Albanien und Tadschikistan, die seit 2005 beziehungsweise 2008 jedoch große Fortschritte darin machen, Sexualpädagogik in den Lehrplan zu integrieren.
Entscheidend ist dabei der politische Wille der Regierungen. Sie erarbeiten gemeinsam mit NGOs zeitgemäße Konzepte für sexuelle Aufklärung in Schulen und starteten in einigen Schulen erfolgreiche Pilotprojekte. Und das, obwohl ein Großteil der Gesellschaft und die Kirche lautstark gegen den Sexualkundeunterricht protestieren. Kritiker sehen vor allem traditionelle Vorstellungen von Geschlechterrollen und Partnerschaft gefährdet. In anderen Ländern wie Bosnien-Herzegowina, Georgien, Lettland und Russland setzen die Regierungen die Empfehlungen der WHO nur in sehr geringem Maße um.
Das bedeutet: Ob und wie gut Kinder über Sexualität aufgeklärt werden, hängt auch davon ab, wo sie leben. Manchmal ist dabei das Land entscheidend, manchmal aber auch nur die Region. Das zeigt ein Blick in die USA: Forscher des Washingtoner »Center for American Progress« wollten wissen, wie Sexualkunde in den amerikanischen Bundesstaaten unterrichtet wird. analysierten dafür die 24 US-Staaten und Washington D.C., wo Sexualkunde an öffentlichen Schulen verpflichtend ist.
Die zentrale Frage lautete: Welche Staaten vermitteln Jugendlichen, was freiwillige (sexuelle) Beziehungen von unfreiwilligen unterscheidet und wie sie in intimen Beziehungen gesund bleiben? Nur elf Staaten und die Hauptstadt listen diese Themen in ihren Lernzielen für sexuelle Aufklärung im Schulunterricht auf.
Problem: Durch Pornos mehr über Sex erfahren als im Unterricht
Solch ein Mangel scheint Jugendlichen in manchen Ländern bewusst zu sein, wie eine qualitative Studie der schwedischen Universität Karlstad nahelegt: Obwohl Beziehungen und Sex für die Befragten eines der wichtigsten Schulfächer sei, fehlten ihnen wichtige Themen – oder sie erinnerten sich gar nicht daran, was genau im Unterricht vermittelt wurde.
Beziehungen, Vorurteile, sexueller Missbrauch und ungewollte Schwangerschaften wurden nicht behandelt, obwohl die Jugendlichen gern darüber gesprochen hätten. Einige der Befragten hätten durch Pornos mehr über Sex erfahren als im Unterricht. Das zeigt: Wenn Eltern und Schule die Informationslücken der Kinder nicht füllen können oder wollen, suchen sich Jugendliche ihre Antworten woanders.
Das eröffnet eine neues Problemfeld: Denn bei eigenen Recherchen und Experimenten müssen die Heranwachsenden einerseits bewerten können, wie seriös Quellen und Inhalte sind. Andererseits müssen sie über mögliche Gefahren aufgeklärt werden. Dazu gehören unter anderem Cybermobbing, unerwünschte Sex-SMS (Sexting) oder das Anstiften zu sexuellen Handlungen. Außerdem können pornografische Inhalte ein falsches Bild von Sexualität vermitteln und zu sexistischen Einstellungen führen. Nur mit ausreichender Medienkompetenz können Jugendliche mit dem, was ihnen online begegnet, besser umgehen.
Polen will Sexualkunde verbieten, Großbritannien will sie ausbauen
Sexualkunde trägt auch dazu bei, dass Heranwachsende später seltener sexuell übertragbare Krankheiten bekommen und weniger unerwünschte sexuelle Erfahrungen machen. Das ergab eine Erhebung unter 4.978 jungen Schweizer Erwachsenen. Den Ergebnissen zufolge hängt das sexuelle Wohlbefinden auch davon ab, von wem die Befragten aufgeklärt wurden. Die meisten hätten ihre ersten Informationen im eigenen Freundeskreis bekommen, erst danach kommen Eltern und Schule.
In Europa gibt es momentan gegensätzliche Meinungen darüber, welche Themen in Sexualkunde behandelt werden sollten – und ob das Fach überhaupt unterrichtet werden sollte. In Polen beispielsweise ist es nicht verpflichtend in den Lehrplänen verankert. Kritische Stimmen behaupten, über Sex zu sprechen führe dazu, dass Jugendliche zu früh Sex hätten. Empirisch belegen lässt es sich aber nicht, dass Kinder dadurch früher Sex haben. Ein weiteres Vorurteil: Aufgeklärte Kinder würden dazu erzogen, Gefallen am Masturbieren zu finden. Damit seien sie leichte Opfer für Pädophile, so die Logik. Auch das lässt sich wissenschaftlich nicht nachweisen.
Gegner versuchen mittlerweile auch, juristisch gegen Sexualkunde vorzugehen. Ein Gesetzentwurf der konservativen polnischen Regierung beispielsweise soll verhindern, dass Minderjährigen ein positives Bild von Geschlechtsverkehr vermittelt wird. Lehrkräfte, die ihnen gegenüber sexuelle Handlungen legitimierten, müssten mit bis zu drei Jahren Haft rechnen. Verhütung, Pubertät, übertragbare Krankheiten und Toleranz gegenüber Geschlechterdiversität sollen zu Tabuthemen erklärt werden.
Vollkommen anders soll die Aufklärung zukünftig in Großbritannien ablaufen: Ab September 2020 wird an britischen Schulen verpflichtend über alle relevanten Sexthemen gesprochen. Lehrkräfte können Kinder so dabei unterstützen, ihre eigene Sexualität und die anderer zu verstehen und zu respektieren. Die umfassenden neuen Richtlinien erfüllen viele Vorgaben der WHO. Um auf die universelle Bedeutung von Wissen über Sex hinzuweisen, verabschiedete sie 2002 ihre Definition sexueller Rechte, die vom Recht jedes Menschen auf Bildung abgeleitet sind. Dazu zählen sexuelle Aufklärung und die Möglichkeit, ein befriedigendes, sicheres und lustvolles Sexualleben anzustreben.
Dieser Text erschien in der 17. Ausgabe von KATAPULT. Unterstützen Sie unsere Arbeit und abonnieren Sie das gedruckte Magazin für nur 19,90 Euro im Jahr.