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Warum haben wir Geflüchtete in unseren Wohnungen aufgenommen? Ganz einfach: Wir konnten nicht anders.
Unsere Strukturen konnten den Ansturm von Menschen, die in kürzester Zeit an der polnischen Grenze aufgetaucht waren, eigentlich nicht bewältigen. Laut Grenzschutz sind vom 24. Februar bis zum 24. März 2,2 Millionen Menschen vor dem Krieg nach Polen geflohen, überwiegend Frauen und Kinder (im Zuge der russischen Invasion trafen innerhalb eines Monats mehr Schutzsuchende in Polen ein als während der gesamten Flüchtlingskrise 2015 in Europa, als Menschen aus Afrika und dem Nahen Osten wegen Hunger und Krieg ihre Heimat verließen).
Und obwohl niemand damit gerechnet hatte, die Hilfsmaßnahmen nicht geplant und überwiegend spontaner Natur waren, denke ich, dass wir die bestmögliche Strategie gewählt haben: Unterkünfte anbieten, für Verpflegung sorgen, helfen, bis die städtischen, staatlichen und europäischen Strukturen langfristige Hilfsmaßnahmen entwickelt haben würden.
Die Bahnhöfe in unseren Großstädten sind zu einem Symbol geworden. Ganz gewöhnliche Menschen kamen dorthin, sie brachten Essen, boten Übernachtungen an und halfen mit Kontakten weiter. Sie verteilten Infoblätter auf Russisch und Ukrainisch und nutzten den Google Übersetzer, um sich zu verständigen. Sie organisierten sich über das Internet, verschafften sich einen Überblick über die Bedarfslage, besorgten Getränke, Tiernahrung, Transportboxen, Hundeleinen. Sie sorgten für medizinische und psychologische Betreuung. Sie stellten Isomatten und Schlafsäcke für diejenigen bereit, die auf ihren Anschlusszug warteten und lieber am Bahnhof übernachteten.
Es entstanden sehr viele Wohnungsbörsen. Viele meiner Bekannten hatten Anzeigen geschaltet, wo sie nur konnten, um sicherzugehen, dass ihre Angebote bei den Hilfesuchenden ankommen würden. Neben den selbst organisierten Hilfsbörsen im Internet gab es auch offizielle Listen der Stadtverwaltung und von NGOs. Darüber hinaus hatten sich etliche Hotelbetreiber bereit erklärt, ihre Häuser für Geflüchtete zur Verfügung zu stellen.
Die Stadt Krakau hörte wegen Sicherheitsbedenken bald auf, Geflüchtete bei beliebigen Privatleuten unterzubringen. Man wich auf öffentliche Räume und städtische Gebäude aus, die man im Zeitraum von wenigen Tagen bis zwei Wochen bereitstellen konnte: Studentenheime, Gebäude der städtischen Sozialhilfe, Stadionhallen. In einem heruntergekommenen Einkaufszentrum wurden ehemalige Geschäftsräume zu Unterkünften umgebaut. Ein Bekannter von mir war daran beteiligt. Die Fotos, die er mir später zeigte, wirkten wie aus einer postkapitalistischen Welt.
Das Problem war bloß, dass die Zeit davonlief und der Staat viel weniger tat, als er sollte. Krakau, die Stadt in der ich lebe, versuchte, der Krise Herr zu werden, doch dazu musste sie auf eigene Ressourcen zurückgreifen, weil von staatlicher Seite kaum Hilfe kam. Später hat der Staat einen Teil der von Freiwilligen ins Leben gerufenen Strukturen übernommen und eigene geschaffen, die auf dem bestehenden Sozialhilfesystem basierten. Das funktionierte mal besser, mal schlechter, aber immerhin passierte endlich etwas. Mal brauchten die Prozesse entschieden zu lange, mal wurde mit einer bewundernswerten Voraussicht auf die sich ändernde Bedarfslage gehandelt. Es war landauf, landab das Gleiche: Bei der Mehrheit der offiziellen Initiativen handelte es sich um Bürgerinitiativen. Der Großteil der Hilfe wurde immer noch von normalen Menschen geleistet.
Übrigens hat die Regierung unser selbstorganisiertes System bereitwillig übernommen und nach ein paar Wochen sogar einen zeitlich befristeten Bonus an Menschen gezahlt, die Geflüchtete bei sich aufnahmen. Das Geld ging also nicht an Menschen aus der Ukraine, sondern unmittelbar an Polen, die Verpflegung und Unterkünfte anboten. Eine solche Verteilung der finanziellen Mittel raubt den Gästen aber die Eigenverantwortung und macht sie von der Gnade (und Ungnade) ihrer Gastgeber abhängig.
Und damit nicht genug. Die Regierenden machten sich die spontanen Hilfsaktionen, mit denen sie nichts zu tun hatten, politisch zunutze und behaupteten, sie wären es, die „die Krise fabelhaft gemeistert“ hätten. Dieses Narrativ bedienten sie immer wieder auf Pressekonferenzen und in den Medien.
Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie, hatte sich doch gerade herausgestellt, dass die von der regierenden Partei verhasste Zivilgesellschaft nicht nur existiert, sondern allen Torpedierungsversuchen zum Trotz auch noch bestens organisiert ist.
Hätte mich jemand eine Woche vor Kriegsausbruch gefragt, wie die Polen auf die Flüchtlingswelle aus der Ukraine reagieren würden, wäre meine Prognose nicht besonders rosig ausgefallen. Seit Jahren beobachte ich, wie die politische Rechte durch die populistische Kategorie des Fremden die niedersten Angstinstinkte anspricht. Die polnisch-belarusische Grenzkrise (wobei Krise ein zu schwaches Wort ist für Menschen, die im Wald vor Hunger und Kälte umkommen) hat die polnische Gesellschaft noch stärker gespalten.
Vielleicht hört es sich übertrieben an, aber ich glaube, dass die Wochen nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine unsere Gesellschaft verändert haben. Ich kann mit Sicherheit sagen, dass ich zum ersten Mal seit Jahren wirklich stolz auf mein Land war, obwohl ich nicht zum Patriotismus neige. Eine Freundin, die sich seit Jahren in der Flüchtlingshilfe engagiert, erzählte, sie hätte wieder begonnen, an die Menschheit zu glauben (was in Zeiten des Krieges eine merkwürdige Feststellung ist, aber natürlich weiß ich, was sie meint).
(Übersetzung: Alexandra Tobor)
Dominika Slowiks Roman Tal der Wunder ist im KATAPULT-Verlag erschienen.
Für Teil III geht's hier lang.
Autor:innen
Dominika Słowik wurde 1988 in Jaworzno im südlichen Polen geboren. Der Roman Tal der Wunder (polnischer Originaltitel: Zimowla) wurde in Polen als literarisches Ereignis gefeiert. Sie gewann mit ihm 2019 den renommierten Kulturpreis Paszport Polityki in der Kategorie Literatur und war bereits mit ihrem Debüt Atlas: Doppelganger Finalistin des Gdynia Literary Award.
Alexandra Tobor kam 1989 als Achtjährige nach Deutschland und studierte Soziologie, Psychologie und Kunstgeschichte in Marburg. Heute lebt sie als Übersetzerin, Podcasterin und freie Autorin in Augsburg. In ihren autofiktionalen Romanen beschäftigt sie sich mit dem Aufwachsen zwischen Ostblock und dem goldenen Westen.