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4.
Wie wird es weitergehen?
Bei meiner Nachbarin wohnen immer noch Frauen aus der Ukraine. Eine Bekannte hilft ihren neuen Mitbewohnerinnen, sich mit Handarbeiten selbstständig zu machen. Vor Kurzem hat sie für das traumatisierte Kind eine Therapie in ukrainischer Sprache organisiert. Die Wohnung neben meiner wird an eine ukrainische Familie vermietet. Die Frauen, die bei einem Freund lebten, sind nach einem Monat wieder ausgezogen – sie sind nach Dnipro zurückgekehrt. Der Kontakt zu ihnen ist abgebrochen.
Die Kommunen haben die Sache mal mehr, mal weniger im Griff, es ist von Stadt zu Stadt unterschiedlich. Viele Geflüchtete, die gesehen haben, dass die russische Invasion ins Stocken geriet, sind wieder in ihre Heimat gegangen. Einige davon sind nach wenigen Tagen wieder nach Polen zurückgekehrt. Sie hatten nur überprüfen wollen, ob ihr Haus Schaden genommen hat und ihre Nächsten an sich drücken wollen, die das Land nicht verlassen können. Die überwältigende Mehrheit hat in Polen ein neues Leben begonnen. Die Kinder gehen in die Schule, die Erwachsenen suchen Arbeit oder haben sie schon gefunden. Alle versuchen, so schnell wie möglich Fuß zu fassen.
Die Lage auf dem Wohnungsmarkt ist in polnischen Städten katastrophal. Es ist sehr schwer, etwas zur Miete zu finden. Auf dem Höhepunkt hielten sich allein in Krakau 180.000 Menschen aus der Ukraine auf (vor dem Krieg hatte die Stadt ca. 800.000 Einwohner). Nach aktuellen Schätzungen leben hier derzeit 80.000 Menschen aus der Ukraine.
Die letzte Welle von Geflüchteten erfordert eine differenzierte Betreuung – es handelt sich um schwer traumatisierte Menschen, die aus militärisch umkämpften Gebieten gekommen sind. Häufig waren sie Zeugen von Völkermord und Kriegsverbrechen. Zum Glück ist das System mittlerweile besser auf sie vorbereitet.
Und was ist mit uns, der polnischen Gesellschaft? Es zeichnen sich Konflikte und Meinungsverschiedenheiten ab. Es gibt böses Blut, üble Nachrede und Betrugsversuche. Alle sind müde. Erste Verschwörungstheorien tauchen im Internet auf. Trolle, die zu Beginn des Krieges wenig Wirkmacht in Polen hatten, erobern langsam wieder die Sozialen Medien.
Und doch dominieren immer noch Verständigung und Aufrichtigkeit. Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass es schlimmer kommen würde.
Die Polen beginnen langsam zu begreifen, dass Flüchtlinge auch nur Menschen sind: Sie werden nicht zu Heiligen, nur weil sie vor dem Krieg geflohen sind. Sie haben unterschiedliche Persönlichkeiten, unterschiedliche Fähigkeiten, sie bringen Schwächen und Stärken mit. Vor dem Krieg fliehen alle – auch Menschen mit psychischen Störungen und Suchterkrankungen, Menschen mit Aggressionen und Depressionen. Kriegstraumatisierung kann diese Probleme verstärken oder erst auslösen. Diese Menschen sind nicht zu ewiger Dankbarkeit verpflichtet. Sie wollen einfach nur überleben.
5.
Im Februar habe ich erkannt, dass ich über keinerlei Fähigkeiten verfüge, die in so einer Situation von Nutzen sind: Ich spreche weder Russisch noch Ukrainisch (um zu übersetzen), ich kann nicht besonders gut kochen (um Menschen zu ernähren), ich habe keinen Führerschein (um jemanden von A nach B zu transportieren), ich bin weder Ärztin noch Psychologin oder Juristin.
Also habe ich mich für einen Ukrainischkurs angemeldet und für den Führerschein.
Vor dem Krieg wäre es mir nicht in den Sinn gekommen, Ukrainisch zu lernen. Wozu auch? Bisher haben alle, die aus der Ukraine nach Polen gekommen sind, im Nu hervorragend Polnisch gelernt. Für meine Arbeit brauche ich kein Ukrainisch und im Notfall wäre ein Muttersprachler leicht zu finden. Doch der Krieg hat meinen opportunistischen Zugang zu Sprachen verändert. Oder vielmehr meine gute Freundin Basia, eine begabte Schriftstellerin, die mich eines Tages im März anrief. Sie spielte mit dem Gedanken, einen Ukrainischkurs für Bekannte zu organisieren, und damit jemandem Arbeit zu geben, der aus der Ukraine geflohen war.
„Warum sollen nur sie unsere Sprache lernen, aber wir nicht auch ihre?“ fragte sie mich. Genau, warum eigentlich nicht?
Jeden Donnerstag haben wir jetzt Ukrainisch. Unsere Lehrerin ist Mila, eine Dichterin aus der Nähe von Kiew. Sie schreibt gerade Gedichte über Polen. Gefunden haben wir sie auf Facebook.
Von ihr habe ich erfahren, dass chwylyna, ein Wort, das wie der polnische Ausdruck für Moment klingt, auf Ukrainisch Minute bedeutet. Wir amüsierten uns darüber, dass wir dank ihr nun endlich wüssten, wie lang genau ein „Momentchen“ dauert. Am meisten hat mich beeindruckt, dass die ukrainische Sprache das Fragewort wer für alle belebten Substantive benutzt (also für die Namen von Geschöpfen, die denken, fühlen und sich bewegen). Nach Tieren fragen sie also nicht mit was, sondern mit wer.
Genau so sollte es sein.
***
Polen in seiner mononationalen und monolingualen Form ist das Produkt der Nachkriegszeit. Vor dem Zweiten Weltkrieg und der Konferenz von Jalta war die Volksrepublik ein multiethnischer, multireligiöser und multilingualer Staat. In einem gewissen Sinne kehren wir also gerade zu unseren Wurzeln zurück. Ukrainerinnen und Ukrainer sind seit vielen Jahren ein nicht wegzudenkender Teil der polnischen Gesellschaft. In meinem Bekanntenkreis gibt es nicht eine Person, die im Studium, am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft oder in der Familie niemanden aus der Ukraine hätte. Dank der ukrainischen Minderheit gewinnen wir eine Sprache und eine Kultur dazu.
Gleichzeitig glaube ich, dass es eine Falle ist, Ähnlichkeiten zwischen Polen und der Ukraine zu konstruieren, wo keine sind. Allein der Versuch fußt auf der falschen Annahme, dass unsere Beziehungen sich auf Gemeinsamkeiten stützen müssten, als ob Unterschiede ausschließlich zu Problemen führen könnten (schließlich sorgen manchmal gerade Gemeinsamkeiten für Ärger und Unterschiede stellen sich als hilfreich und bereichernd heraus).
Wir dürfen auch nicht vergessen, dass Polen nie Teil der UdSSR war und die Geschichte nach 1989 unser Land in eine ganz andere Richtung geführt hat als die Ukraine. Unsere Gesellschaften sind in wirtschaftlicher, kultureller und politischer Hinsicht sehr unterschiedlich. Außerdem hat der Krieg in der Ukraine nicht erst in diesem Jahr begonnen. Seit vielen Jahren kämpft das Land in seinem Osten, was nicht ohne Einfluss auf die Ukraine von heute, ihre Infrastruktur und ihre Bevölkerung blieb.
Die Menschen in meinem Alter, Mittdreißiger, erinnern sich immer noch an den Balkankrieg, der über die Bildschirme flimmerte, als sie Kinder waren. Im Fernsehen zeigten sie von Bomben zerstörte Häuser und nachts träumten wir von Soldaten. Als Polen in die Nato eintrat, hörten die Albträume auf. Die Eingliederung in die Europäische Union stellte die zweite wichtige Zäsur im Leben meiner Generation dar.
Ich habe keinen Zweifel, dass wir vor einem Kampf um die Zukunft stehen.
Die Verschwörungstheoretiker basteln schon neue Videos, um Rassismus und Xenophobie zu schüren. Und die Politiker fragen sich, ob der Hass ihnen im Wahlkampf nicht gelegen kommen könnte (denn machen wir uns nichts vor, meistens lohnt er sich).
Die Gesellschaft selbst ist erschüttert vom Krieg im Nachbarland, erschüttert von der Inflation, von der ewigen Wohnungsnot (es werden zu wenige neue Wohnhäuser gebaut und die, die es schon gibt, entpuppen sich als unbezahlbar, sowohl auf dem Käufer- als auch auf dem Mietermarkt). Die Menschen sind ermattet von der Pandemie, erschöpft von ihren eigenen Problemen. Unter solchen Bedingungen ist ein Sündenbock schnell gefunden.
Ich weiß nicht, ob wir bessere Menschen sein werden, wenn alles vorbei ist. Ich hoffe bloß inständig, dass wir nicht zu schlechteren werden.
(Übersetzung: Alexandra Tobor)
Dominika Słowiks Roman Tal der Wunder ist im KATAPULT-Verlag erschienen.
Hier geht's zu Teil I
Hier geht's zu Teil II
Autor:innen
Dominika Słowik wurde 1988 in Jaworzno im südlichen Polen geboren. Der Roman Tal der Wunder (polnischer Originaltitel: Zimowla) wurde in Polen als literarisches Ereignis gefeiert. Sie gewann mit ihm 2019 den renommierten Kulturpreis Paszport Polityki in der Kategorie Literatur und war bereits mit ihrem Debüt Atlas: Doppelganger Finalistin des Gdynia Literary Award.
Alexandra Tobor kam 1989 als Achtjährige nach Deutschland und studierte Soziologie, Psychologie und Kunstgeschichte in Marburg. Heute lebt sie als Übersetzerin, Podcasterin und freie Autorin in Augsburg. In ihren autofiktionalen Romanen beschäftigt sie sich mit dem Aufwachsen zwischen Ostblock und dem goldenen Westen.