Es wäre leicht gewesen, zu behaupten, die Katapult-Redaktion hätte sich damit mal wieder ein geschmackloses Experiment erlaubt. Die Wahrheit ist: Wir haben es selbst nicht bemerkt, verdienen also keine Sonderbehandlung. Im deutschen Alltagswortschatz gibt es viele Begriffe, die nach dem Dritten Reich nicht ausgemerzt wurden und selbst von Kulturschaffenden ganz unschuldig verwendet werden. Allein in diesem Absatz finden Sie vier davon: Sonderbehandlung, Drittes Reich, ausmerzen, Kulturschaffende. In der letzten Ausgabe schrieben wir von »Gottgläubigen« und meinten damit religiöse und gläubige Menschen. Der NS-Begriff bedeutet aber etwas viel Spezielleres. Grafik herunterladen Einige der NS-Wörter sind unscheinbar. Viele verbinden diese vermutlich gar nicht mit der Zeit des Nationalsozialismus. Andere springen einen als Nazibegriff geradezu an: entartet, Endlösung, Euthanasie, Führer, Gleichschaltung, Überfremdung, Umvolkung. Aber auch die »Festung Europa« gehört ins politische Vokabular der NS-Zeit. Im Nationalsozialismus gab es verschiedene Strategien, Sprache als Mittel der Propaganda oder Verschleierung zu verwenden: Auf der Wortebene wurden entweder bestehende Begriffe mit einer zusätzlichen Bedeutung versehen, komplett umgedeutet oder ganz neu gebildet. »Ausmerzen« etwa war ursprünglich ein landwirtschaftlicher Begriff, der bis ins 18. Jahrhundert nur in der Schafzucht verwendet wurde. Demnach wurden im März (früher Merz) schwache oder zur Zucht unbrauchbare Schafe ausgesondert. Um 1900 taucht das Wort im Zusammenhang mit Fragen der sogenannten Rassenhygiene auf. Ernst Rüdin, Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene, schrieb 1904: »Auch beim Menschen war eine scharfe Auslese stets notwendig, damit die Fähigkeiten der höchsten Rassen entstehen und von Dauer sein konnten. Nur durch beständige Ausmerze der körperlich untüchtigen, namentlich aber der intellektuell minderbegabten und der sozial unangepaßten, nutzlosen oder schädlichen Individuen, also durch ständige Beseitigung schwacher Erbwerte oder minderwertiger generativer Anlagen konnte sich eine bestimmte Rasse im Daseinskampfe gegen andere behaupten und zu einer höheren aufschwingen.« Im Nationalsozialismus wurde »ausmerzen« schließlich in genau dieser Bedeutung auch für Menschen verwendet und zog rechtliche Zwangsmaßnahmen wie Eheverbot und Sterilisation nach sich, um unerwünschte Erbanlagen zu »beseitigen«. Auch heute wird der Begriff noch gebraucht, jedoch nur in der abstrakteren Bedeutung, etwas Fehlerhaftes gründlich zu tilgen. Wir buchstabieren heute übrigens auch oft noch wie die Nazis, obwohl wir es nicht so meinen. Im Nationalsozialismus wurde die sogenannte Buchstabiertafel geändert. D wie Dora? Ursprünglich hieß es D wie David. Die Nazis hatten den jüdischen Namen verbannt – erfolgreich, bis heute. Auch das N wie Nordpol lautete vor 1934 N wie Nathan. Einige Änderungen wurden nach dem Krieg offiziell wieder rückgängig gemacht, aber haben sich im allgemeinen Sprachgebrauch gehalten: Siegfried und Zeppelin aus der NS-Zeit heißen heute eigentlich wieder Samuel und Zacharias. Eine komplette Umwertung erfuhr hingegen das Wort »fanatisch«. Genauso wie heute hatte es bis 1933 die negative Bedeutung einer »einseitige[n], irrationale[n] Begeisterung für eine Idee oder ein Ziel«. Unter Hitler aber wurde »Fanatismus« zu einem positiven Kampfbegriff und bezeichnete die unbedingte, rücksichtslose, blinde, enthusiastische Einsatzbereitschaft. Was heute kaum nachvollziehbar ist: Fanatismus war eine Tugend. Es wurden in der Nazizeit aber auch komplett neue Begriffe gebildet. »Kulturschaffende« und »Gottgläubige« beispielsweise gelten als Wörter, die es vor den Nazis nicht gab. Die Bezeichnung »gottgläubig« war eine von drei Möglichkeiten, seine Religionszugehörigkeit anzugeben: 1. Angehörige einer Religions- oder einer Weltanschauungsgemeinschaft, 2. Gottgläubige und 3. Gottlose. Gottgläubige waren demnach Menschen, die aus der Kirche ausgetreten waren, trotzdem aber an Gott glaubten, nur ohne konfessionelle Bindung. Die Bezeichnung ersetzte den zuvor verwendeten, abwertenden Begriff »Dissident«. Im Kampf gegen die Kirche bot der neue, positive Ausdruck den Nationalsozialisten eine einfache Möglichkeit, sich von der Institution Kirche zu distanzieren, ohne dabei die als tugendhaft empfundene Frömmigkeit aufzugeben. Mehr noch: Die Einstufung als »gottgläubig« signalisierte eine starke ideologische Nähe zum Nationalsozialismus. Papst Pius XI. kritisierte den Begriff, weil er die Rasse oder das Volk an die Stelle Gottes setze. Nicht der Sprecher bestimmt die Bedeutung seiner Aussage, sondern der Empfänger Neben dem Philologen Victor Klemperer, der aufgrund seiner jüdischen Herkunft 1935 seine Professur verlor, sind vor allem Dolf Sternberger, Gerhard Storz und Wilhelm Emanuel Süskind als Kritiker des NS-Sprachgebrauchs bekannt geworden. Die drei Letztgenannten veröffentlichten 1957 das »Wörterbuch des Unmenschen«, in dem sie eine Reihe von Wörtern beschreiben und zeigten, wie deren Gebrauch in der NS-Zeit noch bis in ihre Gegenwart nachwirkte. Sie wollten die Deutschen für den bewussten Gebrauch ihrer Sprache sensibilisieren, denn »[d]er Verderb der Sprache ist der Verderb des Menschen«, so Sternberger. Ihre Begriffsauswahl beschränkte sich interessanterweise aber vor allem auf Wörter, die nicht zentral für die NS-Ideologie waren. »Diese Orientierung erlaubte es den Verfassern, eher verborgene sprachliche Kontinuitätslinien vom NS-Deutschland bis weit in die junge Bundesrepublik hinein aufzuzeigen.« 1989 erschien die letzte Auflage des Buches, in der Sternberger noch immer eine sprachliche Verbindung zwischen Gegenwarts- und NS-Sprache diagnostiziert. Obwohl ihre weite Auffassung der Kontinuitätskriterien auch in der Sprachwissenschaft bemängelt wurde, verliert die Grundidee der Arbeit nicht an Bedeutung: sensibilisieren für einen humanen Sprachgebrauch. Viele Begriffe, die der Nationalsozialismus inhuman verwendet hat, wurden seitdem wieder umgedeutet und haben ihre Gewalt – manchmal auch nur teilweise – verloren. Andere Begriffe – wie Gottgläubigkeit – sind zumindest historisch noch stark mit der NS-Zeit verbunden. Was kritische Leser uns hier als übertriebene »Political Correctness« vorwerfen könnten, hat aber auch einen ganz praktischen Hintergrund: Nicht der Sprecher bestimmt die Bedeutung seiner Aussage, sondern der Empfänger. Wie jemand einen Satz versteht, kann der Sprecher gar nicht in letzter Konsequenz beeinflussen. Nebenbedeutungen und Assoziationen kann er nicht komplett ausschalten. Wer verstanden werden will, muss sich möglichst präzise ausdrücken und potentielle Missverständnisse mitdenken. Dies gilt in noch höherem Maße für die schriftliche Kommunikation. Vielen Dank an unsere Leserin für den Hinweis. Sie sind bis heute die Einzige, die sich gemeldet hat. Aktuelle Ausgabe Dieser Text erschien in der 13. Ausgabe von KATAPULT. Unterstützen Sie unsere Arbeit und abonnieren Sie das gedruckte Magazin für nur 19,90 Euro im Jahr. KATAPULT abonnieren