Dieser Artikel erschien zuerst am 16.3. und wurde am 6.4. umfassend aktualisiert. In Südkorea starben bislang 1,8 Prozent aller gemeldeten COVID-19-Erkrankten, in Italien liegt dieser Wert zur Zeit bei 12,3 Prozent, in Deutschland sind es 1,6 Prozent, in China sind es vier Prozent. Weltweit starben 5,5 Prozent aller diagnostizierten Krankheitsfälle (Stand 6. April, mittags).

Bei diesen Zahlen handelt es sich um den groben Fall-Verstorbenen-Anteil (case fatality ratio, CFR), beziehungsweise die Fallsterblichkeit. Er beziffert den Prozentsatz der Verstorbenen an den offiziell bekannten Krankheitsfällen und ist eine Momentaufnahme. Dieser Wert beschreibt aber nicht, wie tödlich das Virus für Infizierte ist, weil insbesondere milde oder symptomfreie Verläufe oft nicht erfasst werden. Der Wert, der auch diese Zahlen einschließt, heißt Infizierten-Verstorbenen-Anteil (infection fatality ratio, IFR) und dürfte deutlich geringer ausfallen. Ihn zu berechnen ist wegen der Dunkelziffer aber auch weitaus komplizierter. Bei der Mortalität, ein Begriff der in diesem Zusammenhang oft fälschlicherweise verwendet wird, handelt es sich wiederum um eine andere Zahl. Sie wird definiert als Anzahl der Todesfälle im Verhältnis zur gesamten Bevölkerung (oder eines bestimmten Teils davon) und wäre somit noch einmal deutlich kleiner als CFR und IFR. Doch warum variiert nun die CFR so stark zwischen verschiedenen Ländern? Zeit Die Pandemie ist in vollem Gange. Definitiv lässt sich die CFR erst bestimmen, wenn der Ausbruch abgeebbt ist und die Infizierten entweder genesen oder verstorben sind. Im Falle von COVID-19 kann es laut Daten, die die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in China gesammelt hat, bis zu acht Wochen dauern, bis ein Erkrankter verstirbt. Milde Krankheitsfälle sind jedoch meist schon nach zwei Wochen wieder gesund. Bei den gegenwärtig kursierenden CFR handelt es sich also oft um sehr grobe Momentaufnahmen, was die WHO auch deutlich macht, indem sie in solchen Fällen von der „crude fatality rate“ spricht und stets zu bedenken gibt, dass es dabei zu Verzerrungen kommen kann. Das zeigte sich auch während der SARS-Epidemie 2002/2003: Die Fallsterblichkeit fiel hier letztlich mehr als doppelt so hoch aus wie anfänglich von der WHO kommuniziert. Somit ist die CFR auch davon abhängig, wie weit die Epidemie in einem Land fortgeschritten ist. Dass die CFR in Südkorea und Deutschland in den letzten Wochen deutlich gewachsen ist, bedeutet also nicht, dass das Virus tödlicher wird. Es vergeht nur mehr Zeit, in der Erkrankte sterben und somit gezählt werden können. Testrate Die Anzahl der Tests auf das Virus, die ein Land durchführt, beeinflusst die CFR massiv. Je mehr Tests durchgeführt werden, desto öfter werden auch milde Verläufe der Krankheit als solche diagnostiziert und fließen in die Statistik ein. Das senkt den Anteil der Verstorbenen in den Daten. Wird also wenig getestet, wird die CFR massiv überschätzt. Für weitere Unsicherheit sorgt wiederum die Testrate unter bereits Verstorbenen. Denn unklar ist, wie viele (insbesondere Ältere) Menschen an COVID-19 sterben, ohne je diagnostiziert worden zu sein. Dies kann wiederum dazu führen, dass die CFR unterschätzt wird. In den am stärksten von COVID-19 betroffenen Regionen Italiens, Frankreichs und Spaniens war die Mortalität im März drastisch höher als im Vorjahr und weit höher, als sich durch die Zahl der offiziell gemeldeten Corona-Toten erklären ließe. Der Bürgermeister von Bergamo erklärt: „Zu viele Opfer werden nicht in der Statistik geführt, weil sie zu Hause sterben.“ Zugleich könnte dieser Anstieg der Mortalität auch daran liegen, dass viele wegen der Überforderung des Gesundheitssystems auch bei anderen medizinischen Notfällen wie Infarkten oder Schlaganfällen nicht die notwendige Behandlung erhalten. Überlastung der Kliniken Ob das Gesundheitssystem eines Staates mit dem Ansturm von vielen Erkrankten überfordert ist, spielt ebenfalls eine entscheidende Rolle. Südkorea ist nicht überfordert und es gelingt dem Land bislang gut, die Krise zu managen. Das Gesundheitswesen in Norditalien hingegen ist in der Krise völlig überlastet. Die Folgen können fatal sein, wie auch das Beispiel China zeigt: Starben in Wuhan, dem überforderten Epizentrum des COVID-19-Ausbruchs, bis zum 1. Februar 5,8 Prozent aller bekannten Infizierten, lag die CFR im Rest des Landes nur bei 0,7 Prozent. Auch wirken sich entsprechende Krisensituation negativ auf die Testrate aus, was insbesondere die Erfassung milderer Krankheitsverläufe betrifft und somit wieder die CFR nach oben treibt. Demografie In Italien sind etwa 23 Prozent der Bevölkerung älter als 65 Jahre. In Korea sind es nur 14 Prozent. Und COVID-19 ist für ältere Menschen gefährlicher als für junge. Die bisher in diesem Text aufgeführten CFR berechnen außerdem nur einen groben Durchschnitt für alle Verstorbenen. Weder das erhöhte Risiko für Menschen mit Vorerkrankungen noch das für ältere Menschen wird so abgebildet. Unter Menschen zwischen 70 und 79 liegt die CFR nämlich auch in Südkorea bei 7,5 Prozent In Italien starben den letzten Daten zufolge 22,6 Prozent aller Erkrankten dieser Altersgruppe. Unter noch älteren Menschen sieht die CFR noch kritischer aus. Grafik herunterladen Grundlegende Definitionsprobleme Ab wann zählt ein Verstorbener überhaupt als COVID-19-Todesfall? Oft ist das schon der Fall, wenn ein infizierter Patient stirbt – ganz gleich, ob der Tod tatsächlich unmittelbar auf das Virus zurückzuführen ist. Die meisten Corona-Toten hatten jedoch Vorerkrankungen. „Viele von denen, die jetzt am Coronavirus sterben, wären möglicherweise auch ohne das Virus gestorben, aber später“, sagt der Medizinstatistiker Gerd Antes. „Nehmen wir etwa eine Person, die schwer herzkrank ist. Wenn sie sich nun mit dem Coronavirus infiziert und stirbt, war dann das Herzleiden entscheidend oder das Virus? Stirbt jemand am oder mit dem Virus? Das lässt sich kaum auseinanderdividieren.“ Für mehr Klarheit bräuchte es mehr Obduktionen. Das Argument einiger Kritiker lautet deshalb: Würde man die Mortalität in neun Monaten aufs ganze Jahr bezogen berechnen, würden viele zusätzliche COVID-19-Todesfälle wieder statistisch neutralisiert werden, die ohne das Virus beispielsweise in drei Monaten ihrer Krebserkrankung erlegen wären. Das ist allerdings nur Spekulation, annähernd belastbare Daten gibt es hierfür nicht. Zudem vernachlässigen solche Annahmen diejenigen Fälle ohne unmittelbar tödliche Vorerkrankungen. Als Grundlage für Prognosen oder eine seriöse Abschätzung notwendiger Maßnahmen taugen solche Annahmen daher nicht. Zu allem Überfluss definieren Länder Corona-Tote auch noch uneinheitlich. Und sogar verschiedene Behörden eines Landes können unterschiedliche Zählweisen anwenden. Bis zum 5. April 2020 zählte das Robert-Koch-Institut etwa 19 Tote in Hamburg. Die Gesundheitsbehörde der Hansestadt kommt hingegen auf 15. Denn nur in diesen Fällen konnte COVID-19 bis dato auch durch Rechtsmediziner als tatsächlich todesursächlich festgestellt werden. Allerdings heißt das nicht, dass die Gesundheitsbehörde in vier Fällen anderer Meinung ist: Leichenschauen nehmen nun mal Zeit in Anspruch und ein Teil der Differenz lässt sich dadurch erklären, dass die Untersuchung schlicht noch nicht abgeschlossen ist (am 4. April lag das Verhältnis bei 16 zu 14 Fällen). Leider gibt die Behörde nicht transparent an, in wie vielen Fällen ihr Urteil tatsächlich von dem des Robert-Koch-Instituts abweicht. Steigen die Fall- und Todeszahlen, sind solche Untersuchungen irgendwann gar nicht mehr möglich. Es gibt noch viele weitere Faktoren, die sich auf die Fallsterblichkeit auswirken. Wie zugänglich ist medizinische Versorgung auch für arme Menschen? Wie gut ist das Gesundheitswesen grundsätzlich aufgestellt? Wie gut hat sich ein Land vorbereitet und wie erfahren ist es im Umgang mit Epidemien? Leben alte Menschen eher allein oder in größeren Familien mit jüngeren Menschen zusammen? Mutiert das Virus? Von all den statistischen Unsicherheiten abgesehen, ist die Fallsterblichkeit also vor allem davon abhängig, wie viele Alte sich infizieren und ob es zu einer Überforderung des Gesundheitssystems durch zu viele Patienten kommt. Aus diesem Grund sind Absagen von Veranstaltungen, Besuchsverbote in Pflegeeinrichtungen, Social Distancing und andere derzeit breit diskutierte Maßnahmen so wichtig. So lassen sich Senioren und Menschen mit Vorerkrankungen schützen und so lässt sich die Zahl der Neuinfizierungen senken und das Gesundheitssystem vor Überlastung bewahren. Dabei geht es nicht nur um die Sterblichkeit unter COVID-19-Erkrankten: Ist das Gesundheitssystem überlastet, sterben auch mehr Menschen, die wegen Schlaganfällen, Herzinfarkten oder ähnlichen Notfällen auf intensivmedizinische Versorgung angewiesen wären und diese nicht in angemessener Qualität erhalten können. Aktuelle Ausgabe KATAPULT ist gemeinnützig und unabhängig. Wir finanzieren uns durch Spenden und Abonnements. Unterstützen Sie unsere Arbeit und abonnieren Sie das gedruckte Magazin für nur 19,90 Euro im Jahr. KATAPULT abonnieren