Wie gerade erst wieder geschehen, führen die jährlichen Berichte im »Yearbook« des Stockholmer Friedenforschungsinstituts (SIPRI) über die globalen Militärausgaben, internationalen Rüstungstransfers und weltweiter Rüstungsproduktion zu einem fast schon ritualisierten Aufschrei in der bundesdeutschen Medienlandschaft. Die sich dahinter verbergenden grundlegenden Vorbehalte gegen das »Geschäft mit dem Tod« sind im Laufe der Jahre zu einem der konstitutiven Elemente der strategischen Kultur der Bundesrepublik geworden. Militär und alles, was damit zu tun hat, wurde seit Ende des Zweiten Weltkriegs aus sehr unterschiedlichen Gründen von einem Großteil der Bevölkerung lange Jahre kritisch gesehen, wenn nicht sogar abgelehnt. Dementsprechend hat die Beschaffung von Rüstungsgütern für die eigenen Streitkräfte die Aufmerksamkeit der (west-)deutschen Öffentlichkeit in den vergangenen gut 60 Jahren besonders dann auf sich gezogen, wenn es sich dabei um wirkliche oder vermeintliche Beschaffungsskandale handelte. Durch zum Teil mangelhafte Kenntnisse und undifferenzierte Haltungen gegenüber dem Produktionsprozess von militärischem Material erfahren deutsche Rüstungsgüterhersteller in der Öffentlichkeit zumeist große Ablehnung. Geprägt und immer wieder geschärft wurde diese negative Sichtweise hierzulande vornehmlich durch eine häufig einseitige Berichterstattung in den Medien und tendenziöse wissenschaftliche Publikationen. Besonders deutlich niedergeschlagen hat sich diese Entwicklung im Gebrauch des aus dem angelsächsischen Sprachraum Ende der 1960er Jahre übernommenen Begriffs des »Militärisch-Industriellen Komplexes« (MIK), mit dem in der Bundesrepublik von diesem Zeitpunkt an – häufig sehr stark vereinfacht – die Kooperation zwischen Staat, Militär und Wirtschaft im Rahmen der Beschaffung von Rüstungsgütern bezeichnet wurde. Im Laufe der 1970er Jahre entwickelte sich dieser Begriff zu einem normativen Kampfbegriff der westdeutschen Friedensbewegung gegen das »politische Establishment«, die Industrie und das Militär. Die Beschaffung von Wehrmaterial ist oft Teil der nationalen Identität. In Deutschland ist das nicht der Fall Hierin unterscheidet sich Deutschland grundlegend von den meisten anderen Rüstungsgüter produzierenden Ländern. In diesen Ländern ist die Beschaffung von Wehrmaterial ein Teil der nationalen Identität. Die Entwicklung und Herstellung von militärischem Material dient vor allem der politischen und rüstungstechnischen Unabhängigkeit, schafft aber auch die Möglichkeit einer selbstbestimmten militärischen Machtprojektion. Der Militärisch-Industrielle Komplex In den Ländern, in denen ein MIK existiert, kooperieren Politik, Wirtschaft und Militär bei der Entwicklung und Beschaffung von Rüstungsgütern für die nationalen Streitkräfte sehr eng miteinander, um die quantitative wie qualitative Versorgung der eigenen Streitkräfte mit hochwertigen Waffensystemen und militärischen Dienstleistungen sicherzustellen. In einigen Ländern sind zudem nichtstaatliche Organisationen, wie universitäre Einrichtungen und Thinktanks, in diesen Prozess involviert. Zwischen den beteiligten Institutionen eines MIK gibt es eine sehr hohe Durchlässigkeit von Personal, Informationen, Geldflüssen und Ressourcen. Diese Interaktionen werden vorzugsweise durch Rüstungslobbyisten sichergestellt, die sich zudem relativ uneingeschränkt mit den entsprechenden Entscheidungsträgern vernetzen können. Ein MIK kann grundsätzlich nur in Staaten entstehen, in denen eine eigene bedeutende Rüstungsindustrie aufgebaut wurde, die in der Lage ist, selbstständig den Großteil der erforderlichen modernen Waffensysteme zu entwickeln und herzustellen. Zur Finanzierung der Fixkosten, die insbesondere bei komplexen Waffensystemen extrem hoch sind, und zur Senkung der Stückkosten für die nationalen Streitkräfte haben diese Länder niedrige Hürden für den Export von Rüstungsgütern – teilweise fördern sie ihn zusätzlich auf höchster politischer Ebene. Die Mehrzahl der Länder mit einem MIK betreiben durch ihre Rüstungsexportpolitik gleichzeitig ausdrücklich Außen- und Sicherheitspolitik. Diese Konzentration von Macht, Wissen und Finanzen hat immer wieder Kritiker auf den Plan gerufen. Eine der ersten Persönlichkeiten, die vor möglichen Problemen eines MIK warnten, war bemerkenswerterweise der damalige amerikanische Präsident Dwight D. Eisenhower – bereits Anfang der 1960er Jahre. Ein Militärisch-Industrieller Komplex kann ein nicht legitimiertes Machtzentrum im Staate herausbilden Dwight D. Eisenhower, 1961 Wenn man der Argumentation von Eisenhower folgt, besteht die Gefahr, dass ein MIK ein nicht legitimiertes Machtzentrum im Staate herausbildet, wenn die Abläufe der Rüstungsgüterbeschaffung nicht von dem dafür verantwortlichen Parlament beziehungsweise der Regierung ausreichend kontrolliert werden, oder gar aufgrund eines hohen Verflechtungsgrades zwischen den beteiligten Institutionen und Akteuren nicht mehr überwacht werden können. Mehr Kontrolle durch Rüstungsinterventionismus? Warum die Systeme zur Beschaffung von Rüstungsgütern nicht in allen Staaten dem gerade beschriebenen MIK entsprechen, hat recht unterschiedliche Gründe. Sehr häufig hat das entsprechende Land aufgrund der Größe und Struktur der eigenen Volkswirtschaft nur eine kleine oder gar keine Rüstungsindustrie. Dies geht zumeist mit einer fehlenden Tradition der Waffenherstellung oder auch geringen Größe und Bedeutung der nationalen Streitkräfte einher. Dementsprechend sind viele dieser Länder, wie beispielsweise die Schweiz und Österreich, von Rüstungsimporten abhängig. Um mit den international agierenden Rüstungskonzernen angemessen verhandeln zu können, haben einige dieser Staaten Beschaffungsstrukturen und -richtlinien geschaffen, die die eigene Position stärken und eine Form von Wettbewerb zwischen den verschiedenen Anbietern bewirken – auf Basis der jeweiligen nationalen politischen und rechtlichen Besonderheiten. Infolge der fehlenden oder unbedeutenden Rüstungsindustrie exportieren die meisten dieser Länder keine Rüstungsgüter und haben keinen oder nur einen geringfügigen Austausch von Personal, Informationen und Ressourcen zwischen den am Rüstungsprozess beteiligten Akteuren. Dementsprechend können die von Eisenhower befürchteten »nicht legitimierten Machtzentren« in diesem Sektor nicht entstehen – dies galt während des Kalten Krieges für marktwirtschaftlich organisierte Staaten ebenso wie für Zentralverwaltungswirtschaften. Einige Staaten entwickelten bewusst Beschaffungsstrukturen und -prozesse, die ihre Position am Markt gestärkt haben, wie zum Beispiel beim Erwerb von militärischem Material und Dienstleistungen so viele Wettbewerber wie möglich zuzulassen. Hierfür wird ein eindeutiges, präzises, faires, rechtlich abgesichertes und nachvollziehbares Auswahlverfahren benötigt. Dies geschieht grundsätzlich auf der Grundlage einer umfassenden politischen Kontrolle, die in den meisten dieser Staaten durch parlamentarische Ausschüsse sichergestellt wird. Aber auch konsequent angewandte rechtsstaatliche Rahmenbedingungen, die angemessen geprüft werden, gehören dazu. Dabei handelt es sich vor allem um bürokratische Verfahren wie beispielsweise das Ausschreibungsverfahren. Aber auch nichtpolitische Kontrollinstitutionen wie Rechnungshöfe überprüfen die staatlichen Ausgaben und weisen auf mögliche Fehler hin. Entscheidend ist die enge Begleitung und Kontrolle des Rüstungsprozesses durch nicht am eigentlichen Beschaffungsvorgang beteiligte Institutionen. Demnach fußt diese Vorgehensweise auf der Lenkung und Beschränkung der Verteidigungsausgaben durch politisch-rechtliche Vorgaben und – gegebenenfalls – dem Eingreifen des Staates in rüstungswirtschaftliche Prozesse. Dies geschieht, um wichtige volkswirtschaftliche Globalgrößen im Sinne der gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrt entlang der jeweiligen nationalen Rahmenbedingungen positiv zu beeinflussen. Selbstverständlich geht es dabei auch um die immer wieder im politischen Raum geforderte »Einhegung profitgetriebener (Rüstungs-)Dynamiken«. In Abgrenzung zum Begriff des Militärisch-Industriellen Komplexes und in Anlehnung an den ordnungspolitischen Begriff des Staatsinterventionismus wird diese Methode der Rüstungsgüterbeschaffung »Rüstungsinterventionismus« genannt. Militärisch-Industrieller Komplex vs. Rüstungsinterventionismus Um noch deutlicher zwischen den Staaten unterscheiden zu können, bietet es sich in dem vorliegenden Fall an, den Stellenwert genauer zu bewerten, den die Rüstung im engeren Sinne in dem jeweiligen Land einnimmt. Dieser Stellenwert ist aber kein einzelner, beispielsweise ökonomischer Wert, sondern vielmehr eine Kombination verschiedener Faktoren. Hierzu zählen Politikfelder wie die der Außen-, Wirtschafts-, Industrie-, Außenhandels-, Regional- oder auch Arbeitsmarktpolitik. Darüber hinaus müssen aber auch die volkswirtschaftliche, militärische und auch die historische Bedeutung beachtet werden, die die Rüstung im engeren Sinne für das jeweilige Land während des Kalten Krieges hatte. Die beiden Tabellen (siehe unten) verdeutlichen noch einmal die Unterschiede in der Rüstungsgüterbeschaffung der betrachteten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg. Dabei ist sehr gut erkennbar, dass insbesondere (1) ein hoher Einfluss von Lobbyisten auf Beschaffungsprozesse, (2) eine enge Zusammenarbeit von Militär und Rüstungsindustrie, (3) der Wille, primär nationale Rüstungsgüter zu erwerben und gleichzeitig Militärmaterial zu exportieren, sowie (4) eine unzureichende staatliche Kontrolle der Abläufe einem Militärisch-Industriellen Komplex den Weg bereiten können. Besonders deutlich wird dies bei der Umsetzung der Kriterien in das zweidimensionale Koordinatensystem (siehe oben). Hier zeigt sich ein deutliches Muster. Grafik herunterladen Neben einer national stark ausgeprägten Rüstungsindustrie ist der Stellenwert, den ein Staat der Rüstung beimisst, das entscheidende Kriterium für die Entstehung eines MIK. Die Eigendynamik dieses Beschaffungssystems verfestigt den Militärisch-Industriellen Komplex. Genau davor und vor den davon ausgehenden Gefahren für die Demokratie hatte US-Präsident Eisenhower in seiner Rede im Januar 1961 gewarnt. Im Gegensatz dazu ist der Rüstungsinterventionismus weniger davon geprägt, wie groß der Stellenwert der Rüstung in dem jeweiligen Land ist, sondern vielmehr von der Art und Weise, wie der Staat die Rüstungsgüter beschafft und wie er seine eigene Position durch rechtliche und institutionelle Maßnahmen absichert. Daraus ergibt sich im zweidimensionalen Koordinatensystem ein weniger eindeutiges Muster als das des MIK. Vielmehr umfasst der Rüstungsinterventionismus alle denkbaren Ausprägungen der Rüstungsgüterbeschaffung, in denen der Staat die Verteidigungsausgaben lenkt und beschränkt sowie fallweise in rüstungswirtschaftliche Prozesse eingreift, um wichtige volkswirtschaftliche Globalgrößen im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrt positiv zu beeinflussen. Diese Form des staatlichen Interventionismus ist nach Eisenhower »[the] guard against the acquisition of unwarranted influence, whether sought or unsought, by the military-industrial complex«. Die Verteidigungsbudgets werden weiter sinken, die Produktionskosten für militärische Waren hingegen steigen In Zukunft wird es immer schwieriger werden, diese Form der Beschaffung im nationalstaatlichen Rahmen aufrecht zu erhalten, da die Verteidigungsbudgets vermutlich weiter sinken und gleichzeitig die Entwicklungs- und Produktionskosten für militärische Waren und Dienstleistungen weiter steigen werden. Eine Möglichkeit, dieser Herausforderung zu begegnen, ist, bei der Entwicklung und Herstellung von aufwendigen Waffensystemen multinational zu kooperieren und auf diese Weise die Kosten unter den Kooperationspartnern zu teilen. Dabei wird es insbesondere darauf ankommen, die unterschiedlichen Beschaffungsstrukturen der beteiligten Staaten zu harmonisieren. Ausführlich in: Kollmer, Dieter H. (Hrsg.): Militärisch-Industrieller Komplex? Rüstung in Europa und Nordamerika nach dem Zweiten Weltkrieg, Freiburg 2015. Aktuelle Ausgabe Dieser Artikel erschien in der ersten gedruckten Ausgabe von KATAPULT. Hat er Ihnen gefallen? Dann abonnieren Sie KATAPULT doch einfach. KATAPULT abonnieren