Die spinnen, die Briten. Als Beleg dieser These kursierte 2016 eine zigtausendfach geteilte Grafik in den sozialen Medien. Sie zeigte anhand zweier Karten einen Zusammenhang zwischen Rinderwahn und Brexit: Eine stellte die Häufung von BSE-Fällen in den 1990ern dar, die andere die Abstimmungsergebnisse zum EU-Austritt. Beide Karten ähneln sich stark. Dort, wo sich BSE-Fälle gehäuft hatten, stimmten demnach auch besonders viele Wähler für den Brexit. Statistikkenner wiesen zwar darauf hin, dass es einen Unterschied zwischen Korrelation und Kausalität gibt: Nicht immer, wenn zwei Phänomene in den gleichen Gebieten vermehrt auftreten, hängen diese auch zusammen. Doch auch sie lagen falsch. Die Wahrheit ist: Die Grafik stellte nicht einmal eine Korrelation dar, sondern sie war eine komplette Lüge. Sie zeigte denselben Sachverhalt – die Abstimmungsergebnisse zum Brexit – lediglich in unterschiedlichen Farben und mit anderer Beschriftung. Das Internet, oder zumindest ein Großteil seiner Nutzer, fiel auf diese einfache Täuschung herein. Medientrend: mehr Karten, geringere Qualität Nur selten sind Täuschungen so offensichtlich wie in diesem Fall, nicht immer bleiben sie witzig und folgenlos. Die Geschichte von Karten ist vielmehr eine Geschichte der Manipulationsversuche. Auch heute noch füllen unpassende Visualisierungen die Nachrichten. Oft wissen deren Ersteller selbst nicht einmal, dass ihre Karten in die Irre führen. Das jedenfalls meint Martin Dodge, Humangeograf an der Universität Manchester. Er beobachtet, dass die Verwendung von kartenbasierten Visualisierungen in Nachrichten zunimmt. Demnach reagierten Medienmacher auf die verstärkte Bildorientierung sozialer Medien und veränderte Konsumgewohnheiten des Publikums. Neben der Hinwendung zu Grafiken identifiziert er jedoch einen weiteren Trend: weniger Zeit und weniger qualifiziertes Personal, um diese zu erstellen. Der kurze Nachrichtenzyklus und der Zwang zu ständigen Updates reduzieren die Kontrollschleifen. Zudem mangele es vielen Redaktionen an Grundlagenwissen zu geografischen Konventionen, Karten seien daher oft provisorisch. Das ist problematisch, beeinflussen sie doch unsere Wahrnehmung der Welt. Grafik herunterladen Das Grundproblem: Jede Karte muss verzerren Was Geografen im ersten Semester lernen, ist vielen Menschen nicht bewusst: Karten täuschen. Immer. Ob im Schulatlas, in den Nachrichten oder im Katapult-Magazin. Die Erdkugel wirklichkeitsgetreu auf einer zweidimensionalen Karte abzubilden, ist nicht möglich. Um aus der gebogenen Oberfläche des Globus eine flache Visualisierung herzustellen, müssen Kartenmacher Kompromisse eingehen. Wer etwa Flächen in der richtigen Größe abbilden will, muss Verzerrungen bei Winkeln oder Form in Kauf nehmen. Das hat ganz praktische Konsequenzen: Wer mit einer Karte navigieren möchte, sollte nicht die Winkel verändern, sondern stattdessen lieber die Flächen anpassen. Eine der wichtigsten Kartendarstellungen, sogenannter Projektionen, versucht genau das. Die Mercator-Projektion, benannt nach ihrem Erfinder Gerhard Mercator, entstand bereits vor 450 Jahren und diente Seefahrern zur Orientierung. Ihr Grundprinzip verwenden die meisten Navigationsdienste und Onlinekarten bis heute. Die authentischen Winkel haben jedoch einen Nachteil: Je weiter ein Gebiet vom Äquator entfernt liegt, desto größer erscheint es fälschlicherweise. Die Fläche Grönlands wirkt auf einer Mercator-Karte fast so groß wie die Afrikas, würde in Wahrheit jedoch 14-mal in den Kontinent passen. Der Norden erscheint zu groß, Afrika und Südamerika hingegen zu klein. Karten im Kalten Krieg: Nicht immer falsch, aber manipulativ Dieses Wissen lässt sich politisch missbrauchen – was beispielsweise im Propagandawettstreit des Kalten Krieges passierte. So nahm in der US-amerikanischen Berichterstattung der Fünfzigerjahre nicht nur die Verwendung von Weltkarten zu, sie zeigte die Länder zudem meist in der Mercator-Projektion. Diese unterstrich den Bedrohungsfaktor der Sowjetunion optisch: Diese erscheint aufgrund der Flächenverzerrungen besonders groß. Selbst die Positionierung der USA auf der Karte hatte sich geändert. Bislang war sie meist zentral oder am rechten Kartenrand eingezeichnet, wo sie durch den Pazifik vom eurasischen Kontinent getrennt schien. Nun lag sie meist auf der linken Kartenseite. Nicht nur der Atlantische Ozean, sondern auch Europa trennte die USA so topografisch vom Einflussbereich der konkurrierenden Weltmacht. Umso wichtiger, so die implizite Botschaft, war das Engagement für Europa und die übrigen NATO-Staaten. Grafik herunterladen Eine ähnliche Symbolik verfolgten in den 1950ern zahlreiche weitere Darstellungen, wie etwa die Karte »Two Worlds« aus dem renommierten US-amerikanischen Magazin »Time«. Die annähernd polzentrierte Projektion, die als eine Art Draufsicht nur Teile der nördlichen Hemisphäre abbildet, verdeutlichte, wie eng Sowjet­union und Vereinigte Staaten beieinanderliegen – und dass die Amerikaner sich in Reichweite sowjetischer Raketen befinden. Die Gestaltung verstärkt diese Botschaft. Von der prominent platzierten und rot eingefärbten Sowjetunion gehen strahlenförmig Linien in weitere asiatische und europäische Staaten aus, das Einflussgebiet Stalins. Mit den USA verbündete Staaten hingegen sind wesentlich dezenter in Blau eingefärbt. Die Schattierung der NATO-Staaten hebt diese zugleich optisch heraus und erzeugt den Eindruck eines Schutzwalls. Ob in den Nachrichten oder in Schulatlanten: Dynamische Elemente wie geschwungene Pfeile, das Einfärben in Signalfarben sowie Weltkarten in polzentrierter oder der Mercator-Projektion sind typisch für antikommunistische Grafiken jener Epoche. Doch nicht nur US-Karten hatten Schlagseite. So durften die Kartografen des Warschauer Paktes lediglich verfälschte topografische Karten herausgeben. Bei detailgenauer Darstellung der DDR oder der UdSSR fehlten wichtige Geländemarken, und sie wiesen grobe Verzerrungen auf. Orte wurden absichtlich ungenau eingezeichnet, ganze Dörfer und Regionen wanderten entlang der Längen- und Breitengrade – unter anderem, um feindliche Angriffe zu erschweren. Lediglich den Sicherheitsorganen standen die korrekten Karten zur Verfügung. Bereits unter Stalin hatten gefälschte amtliche Karten einen Zweck: Sie sollten den Gegner täuschen. Statt der eingezeichneten Dörfer fanden beispielsweise deutsche Soldaten, denen diese Karten zugespielt wurden, Sümpfe oder Schluchten vor. Terrorismus im 21. Jahrhundert – schlecht kartografiert Auch heute dienen nicht alle Karten rein informativen Zwecken, manche sollen manipulieren. Selbst die tägliche Berichterstattung produziert Karten mit fragwürdigen Darstellungen. Das zeigt sich am Beispiel des sogenannten Islamischen Staates (IS). Seit 2013 gewann die Terror­organisation militärischen Einfluss und wurde immer häufiger in den Nachrichten thematisiert. Berichte von grausamen Hinrichtungen und Massenmorden prägten das Bild. Von der Organisation selbst veröffentlichte Videos sollten ihren Machtanspruch weltweit, über ihren tatsächlichen Einflussbereich hinaus, transportieren. Dabei halfen auch deutsche Nachrichten. So veröffentlichte der »Merkur« im Sommer 2015 eine Karte unter der Überschrift »IS will 2020 vor Bayern stehen«. Die Länder des arabischen Raumes waren komplett schwarz eingefärbt, ebenso Spanien, Südosteuropa und Österreich. Die Visualisierung stammte vom IS selbst. Damit verarbeitete die Zeitung nicht nur Propagandamaterial unkritisch zu einer Schlagzeile. Dieses realitätsferne Szenario erweckte auch kartografisch einen falschen Eindruck. Es übertrieb den potenziellen und tatsächlichen Einfluss der Organisation. Mit solchen problematischen Visualisierungen steht die Zeitung allerdings keineswegs allein da. Auch Nachrichtensender wie »n-tv« verwendeten Darstellungen, in denen Syrien und Irak einheitlich als IS-Gebiet markiert waren. Staaten der nördlichen Hemisphäre wie Deutschland, Skandinavien, die USA, Kanada und Russland färbten die Macher als »akut bedrohte« Regionen ein. Die Darstellung als Mercator-Projektion ließ die nördlichen (»akut bedrohten«) Gebiete besonders groß erscheinen. Grafik herunterladen Konfliktkarten stellen Medien vor Herausforderungen Das Grundproblem: Beim IS ließ sich bis zu seinem Niedergang kaum von einem festen Staatsgebiet sprechen. Das tatsächliche Herrschaftsgebiet veränderte sich stetig und konzentrierte sich auf bestimmte Städte sowie wichtige Infrastruktur in Syrien und dem Irak. Die Berichterstattung stand vor der Herausforderung, wie sich der Machtbereich der Terrormiliz visualisieren ließ, ohne deren Anspruch staatlicher Herrschaft gleichzeitig zu legitimieren. Die Resultate waren sehr unterschiedlich, wie Dietmar Offenhuber von der Northeastern University in Boston herausfand. Er analysierte mehr als 180 Karten, die in der internationalen Berichterstattung über den IS verwendet wurden. Er folgert: Eine optimale kartografische Darstellung ist nicht möglich, es existierten jedoch verschiedene spezifische Methoden. Die Machart der Karten hänge vor allem mit der Überzeugung und der Absicht der jeweiligen Autoren zusammen. Einige Agenturen und Organisationen färbten das Herrschaftsgebiet der Terrororganisation großflächig ein, andere hingegen reduzierten die Darstellung auf einzelne Städte und Gebiete unter unmittelbarer IS-Kontrolle. Unbewohnte Wüste als IS-Herrschaftsgebiet? Besonders groß erschien der vom IS kontrollierte Bereich bei zwei Organisationen mit unterschiedlichen Interessen: Einerseits verfolgte der IS selbst mit seinen Karten die Intention, besonders stark zu erscheinen. Andererseits kartierte die Organisation »Coalition for a Democratic Syria« (CDS) das Territorium des IS sehr großzügig, indem sie nicht einzelne Städte, sondern ganze Provinzen einfärbte. Die syrisch-amerikanische CDS beliefert nicht nur verschiedene Medien mit Visualisierungen, sondern verfolgt darüber hinaus ein eigenes Ziel: Sie wirbt für eine aktive Unterstützung der syrischen Opposition durch die USA. Im Großteil des markierten Gebietes leben jedoch keine Menschen, dort ist Wüste. Medien wie die BBC, die New York Times oder der Spiegel versuchten deshalb, die Einflusszone der Terrororganisation differenzierter darzustellen. Sie nutzten vermehrt Karten, in denen nur besiedelte Gebiete oder Städte als Herrschaftsgebiet eingefärbt waren. Wichtige Infrastruktur, die unter der Kontrolle des IS standen, markierten sie ebenfalls. Das entstandene Bild gleicht eher einem verzweigten Netz als einem einheitlichen Staatsgebiet. Grafik herunterladen Solche detaillierten Grafiken spiegeln einen aktuellen Trend in der Konfliktforschung wider. Dennoch bergen sie ihrerseits Probleme, basieren sie doch häufig auf unsicheren Daten. Daher unterliegen die Verästelungen des IS-Herrschaftsgebietes in den Darstellungen verschiedener Medien großen Schwankungen und sind nur schwer vergleichbar. Karten täuschen exakte Grenzen vor Nicht nur aktuelle Konflikte führen zu Kartierungsproblemen. Es gibt zahlreiche Gebiete, deren Grenzen politisch umstritten sind. Selbst mitten in Europa bestehen Separationsbestrebungen – etwa in Katalonien – oder Forderungen nach mehr Autonomie. Die meisten Karten ignorieren diese und vermitteln das Bild eindeutiger staatlicher Grenzverläufe. Besonders umstritten ist beispielsweise die Zugehörigkeit der Krim. Trotz des Referendums 2014 ist deren völkerrechtlicher Status international nicht geklärt. Für die Kartierungen solcher Regionen, zu denen etwa auch Nordzypern, Abchasien oder Grenzgebiete zwischen Indien und Pakistan gehören, haben nur große Digitalkonzerne wie Google einen einfachen Ausweg gefunden: Je nachdem, von wo Nutzer auf die Kartendienste zugreifen, erscheinen die Gebiete entweder dem einen oder dem anderen Staat zugehörig. Offiziell markiert Google umstrittene Regionen mit gestrichelten Grenzlinien, doch tatsächlich berichten Medien immer wieder über solche ortsabhängigen Anzeigevarianten. Grafik herunterladen Manipulative Karten lassen sich nicht immer erkennen Keine Karte kann die Realität exakt widerspiegeln. Zwischen notwendigen Kompromissen und bewusster Manipulation zu unterscheiden, ist für Laien oft schwierig. Einige zentrale Aspekte einer Karte kritisch zu prüfen, kann dabei helfen. Nachrichtenkonsumenten sollten darauf achten, wer eine Karte erstellt hat. Steht dahinter eine Organisation mit besonderen Interessen? Zudem ist zu bedenken, ob eine Darstellung vor allem Ängste und Emotionen transportiert. Themen wie Migration oder militärische Bedrohungen sind dafür besonders typisch. Grobe Einfärbungen ohne Differenzierungen, dynamische Pfeile oder flächenmäßige Verzerrungen können diesen Eindruck verstärken. Aktuelle Ausgabe Dieser Text erschien in der 15. Ausgabe von KATAPULT. Unterstützen Sie unsere Arbeit und abonnieren Sie das gedruckte Magazin für nur 19,90 Euro im Jahr. KATAPULT abonnieren