Anfang Juni 2020 nimmt das deutsche Schiff Helen Mary Kurs gen Afrika. Etwa eine Woche später erreicht es die Gewässer der Westsahara und beginnt mit seinem Beutezug: Die Fischfanggebiete vor der Küste des von Marokko besetzten Landes gehören zu den reichsten der Welt. 4.000 Tonnen Laderaumkapazität hat die mehr als 100 Meter lange Helen Mary. „Fischereimonster“ nennt Greenpeace solche Riesentrawler. Bis Ende September beutet das Schiff die Fischbestände der Westsahara aus, unterbrochen durch mehrere kurze Zwischenstopps im marokkanischen Agadir und auf den spanischen Kanaren. Die Helen Mary gehört einer deutschen Tochterfirma des niederländischen Fischereigiganten Parlevliet & Van der Plas. Heimathafen: Rostock. Der Konzern ist nur einer von vielen, die sich an der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen der Westsahara beteiligen. Mehrere europäische Schiffe sind dort unterwegs. Außerdem gehören die Phospatreserven des Landes zu den größten der Welt. Der Rohstoff wird benötigt, um Düngemittel herzustellen. Andere Konzerne profitieren von der Besatzung, indem sie dort mit technischen Dienstleistungen aktiv sind. Der deutsche Konzern Siemens liefert etwa Turbinen für Windkraftanlagen, die in der Westsahara entstehen. In vielen europäischen Supermärkten liegen Tomaten oder Melonen aus dem umstrittenen Territorium. Aber: Diese wirtschaftlichen Aktivitäten sind völkerrechtlich heikel. Die „letzte Kolonie Afrikas“ Mitte der 1970er-Jahre endete die spanischen Kolonialherrschaft über das Gebiet und die Unabhängigkeitsbewegung Frente Polisario rief die Demokratische Arabische Republik Sahara aus. Doch die benachbarten Staaten Marokko und Mauretanien hatten das Gebiet mit Billigung Spaniens unter sich aufgeteilt. Die Frente Polisario begann einen neuen Unabhängigkeitskampf. Mauretanien zog bald wieder ab, der Konflikt zwischen den Sahrauis und Marokko aber währte bis 1991. Seither gilt ein Waffenstillstand. Die Besatzung blieb und Kritikern gilt die Westsahara heute als „letzte Kolonie Afrikas“. Zehntausende sahrauische Flüchtlinge leben teilweise seit über 40 Jahren in der algerischen Wüste. Die Frente Polisario kontrolliert nur einen schmalen Wüstenstreifen im Osten des Landes. Ende 2020 kam es erneut zu bewaffneten Auseinandersetzungen. Von den Vereinten Nationen wird die Westsahara als „Hoheitsgebiet ohne Selbstregierung“ geführt. Das internationale Recht sieht vor, dass Land und Ressourcen nur mit dem Einverständnis der Bevölkerung genutzt werden dürfen. Doch wie kann das garantiert werden? Wer spricht für das Volk, wenn es keine Regierung gibt? Die marokkanische Besatzung des Gebiets ist völkerrechtswidrig. Auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) erachtet die Westsahara nicht als marokkanisches Staatsgebiet. 2018 erklärte er deshalb, dass ein Fischereiabkommen zwischen Marokko und der EU nicht die Gewässer der Westsahara einschließen dürfe. Ein solches Abkommen könne nur dann legal sein, wenn das sahrauische Volk konsultiert würde. Schon 2016 urteilte er gegen ein weiteres europäisch-marokkanisches Handelsabkommen, das die Westsahara mit umfasste. Fisch, Tomaten und Melonen im Wert von 434 Millionen Euro Als die EU 2019 ein neues Fischereiabkommen vorlegte, das angeblich die Bedenken des EuGH berücksichtigte, war der Widerstand groß. Diverse zivilgesellschaftliche sahrauische Organisationen protestierten. Auch die Frente Polisario bezog Stellung gegen das Abkommen. Die internationale Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch forderte damals: „Damit Marokko als Besatzungsmacht die Ressourcen der Westsahara rechtmäßig ausbeuten kann, müsste es einen Fonds mit transparenter Buchführung einrichten, aus dem die verwendeten oder exportierten Ressourcen, die erzielten Einnahmen und die Verwendung dieser Einnahmen zum alleinigen Nutzen der Bevölkerung der Westsahara hervorgehen.“ Kritiker sehen diese Voraussetzung nicht als gegeben – ebenso wenig wie eine angemessene Rücksprache mit der Bevölkerung.  Laut der Lobbyorganisation Western Sahara Resource Watch (WSRW), die die wirtschaftliche Ausbeutung des Landstrichs dokumentiert, sei lediglich mit 18 Organisationen offiziell gesprochen worden – darunter Marokkos größtes Bergbauunternehmen. „Die EU hat marokkanische Regierungsstellen und marokkanische Marionettenverbände in der Westsahara befragt, und sie sagten alle, das Abkommen sei eine gute Idee, während etwa 100 Gruppen dagegen waren“, kritisierte ein Sprecher von WSRW. Auch der Juristische Dienst der EU stellte in einem Gutachten infrage, ob wirklich von einer Zustimmung der Sahrauis die Rede sein kann. Die Frente Polisario zog deshalb erneut vor den Gerichtshof der Europäischen Union, um Exporte sahrauischer Ressourcen in die EU zu erschweren. Ein Urteil wird in diesem Sommer erwartet. 2019 belief sich der Wert der marokkanischen Exporte von Fisch, Tomaten und Melonen in die EU auf 434 Millionen Euro. Doch selbst wenn alle nur erdenklichen Parteien, Interessenverbände und Bürgerrechtsorganisationen konsultiert worden wären – können ihre Positionen als repräsentativ für die Bevölkerung angesehen werden? Was fehlt, ist eine anerkannte Regierung. Seit vielen Jahren fordern die Vereinten Nationen deshalb ein Referendum über den völkerrechtlichen Status der Westsahara. Dazu kam es bislang jedoch nie. Die Frage ist auch, wer daran teilnehmen dürfte. Längst stellen marokkanische Siedler die Bevölkerungsmehrheit. Für die EU haben Profite und Migrationsbekämpfung Priorität Als bei Weitem größter Handelspartner Marokkos hätte die EU eigentlich genug Einfluss, um dem Königreich politische Kompromisse in der Westsaharafrage abzuringen. Doch wirtschaftliche Erwägungen und die Bekämpfung der Migration aus Afrika haben für Brüssel einen höheren Stellenwert. Marokko treibt derweil die Normalisierung der Besatzung voran. Anfang 2020 erklärte das Parlament die Gewässer der Westsahara zum Teil der eigenen Ausschließlichen Wirtschaftszone, in der ein Land laut dem Seerechtsabkommen Fischbestände und Meeresböden exklusiv ausbeuten darf. Völkerrechtlich ist dieses Votum nicht relevant, aber es ist Ausdruck marokkanischer Fernziele. Nicht weit von der Zone entfernt findet sich auch der Tiefseeberg Tropic. Er birgt große Mengen Tellur und Kobalt, zwei seltene und wertvolle Elemente, die zur Produktion von Batterien und Solarzellen genutzt werden. Noch ist der Abbau technisch nicht möglich, doch sowohl Spanien als auch Marokko fordern das Recht zur Ausbeutung für sich, indem sie den Unterseeberg als Teil ihres Festlandsockels beanspruchen. Auf diesem Weg können Staaten sich das Recht zur wirtschaftlichen Erschließung von Meeresböden bis zu 350 Seemeilen vor ihrer Küste sichern. Entscheiden muss nun die Festlandsockelkommission der Vereinten Nationen. Da die UN in der Westsaharafrage eine kompromisslose Position vertritt, dürfte die Angelegenheit für Marokko jedoch aussichtslos sein. Zugleich ist das Königreich auf diplomatischer Charmeoffensive in Afrika, um die Besatzung der Westsahara zu normalisieren: Allein zwischen Ende 2019 und Anfang April 2020 brachte es zehn afrikanische Staaten dazu, diplomatische Vertretungen auf dem Gebiet der Westsahara zu eröffnen, darunter die Zentralafrikanische Republik, São Tomé und Príncipe, Gabun, Guinea, Dschibuti, Côte d'Ivoire und Liberia. Unter Donald Trump erkannten auch die USA die marokkanische Souveränität über die Westsahara an. Doch perfekt läuft dennoch nicht alles: Die Zahl der internationalen Firmen, die sich in Marokko am Phosphatabbau beteiligten, sinkt seit Jahren. 2019 erreichten die Exporte einen Tiefststand. Aktuelle Ausgabe KATAPULT ist gemeinnützig und unabhängig. Wir finanzieren uns durch Spenden und Abos. Unterstütze unsere Arbeit und abonniere das Magazin gedruckt oder als E-Paper ab 19,90 Euro im Jahr! KATAPULT abonnieren