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Psychologie

Was zieht einen Menschen zum IS?

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Seit Beginn des Syrienkonfliktes sind laut deutschen Sicherheitsbehörden bis zum 30. Juni 2015 677 Menschen aus Deutschland nach Syrien oder in den Irak ausgereist, um für den Islamischen Staat (IS) zu kämpfen. Von den Ausreisenden waren 79 Prozent Männer. Das Durchschnittsalter betrug 25,9 Jahre. 61 Prozent wurden in Deutschland geboren, 82,4 Prozent aller Ausreisenden stammen aus Familien mit Migrationshintergrund.

Laut einer Untersuchung des Bundeskriminalamtes erreicht die Gewaltbereitschaft von Salafisten in Deutschland aber längst nicht das Gewaltniveau des Rechtsextremismus

Das Bundeskriminalamt bezeichnet den extremistischen Islamismus in Deutschland (und Europa) als eine neue, transnationale, neosalafistische Jugendbewegung, zu der neben Jugendlichen mit türkischem und arabischem Migrationshintergrund auch Deutsche gehören, die zum Islam konvertiert sind. Während in Deutschland rund vier Millionen Muslime leben, ist die vom Bundesamt für Verfassungsschutz ermittelte Anzahl von 7.500 Salafisten eher eine Minderheit. Als Salafismus wird die religiöse Form des politischen Extremismus bezeichnet, die zwar auf dem muslimischen Glauben basiert, sich dem Propheten Mohammed aber viel kompromissloser verpflichtet und das islamische Recht, die Scharia, als von Gott gesetzte, unantastare Ordnung des menschlichen Lebens versteht. Die besondere Gefahr besteht darin, dass deren Anhänger eine politisch-religiöse Ideologie durchsetzen wollen, die unvereinbar mit demokratischen Verfassungsprinzipien wie Volkssouveränität, Gewaltenteilung und Menschenrechten ist. Die Aktivitäten der sehr heterogenen Szene beinhalten neben der predigenden Religionsausübung die politisch-ideologische Propaganda. Islamwissenschaftlern zufolge wenden nur die dschihadistischen Salafisten physische Gewalt an. Die Bereitschaft, als Kämpfer in den »Heiligen Krieg« zu ziehen, um zu töten, steht dabei am Ende des Radikalisierungsprozesses. Laut einer Untersuchung des Bundeskriminalamtes erreicht die Gewaltbereitschaft von Salafisten in Deutschland aber längst nicht das Gewaltniveau des Rechtsextremismus, wie es insbesondere in den letzten Monaten fremdenfeindlich motiviert in Form von Anschlägen auf Asylunterkünfte zum Ausdruck kam.

Die europäische Politik produziert mehr Terroristen als der IS

Alle denkbaren psychosozialen Bedingungsfaktoren der Radikalisierung zu erfassen, ist eine komplexe Angelegenheit. Neuere Forschungsansätze konzentrieren sich auf die Interaktion zwischen Person und Umwelt und stellen die Identität und deren Veränderung in den Mittelpunkt des Radikalisierungsprozesses. Eine Ursache ist demnach die Identitätssuche einiger Muslime, da sie ihre religiöse Identität in Europa als bedroht wahrnehmen. Diese Wahrnehmung kann daraus resultieren, dass sie sich als Muslime nicht mit europäischen Entwicklungen wie Pluralismus an Wertvorstellungen, Globalisierung, Individualisierung und der strikten Trennung von Kirche und Staat identifizieren können. Daher fühlten sie sich vom Mainstream ausgeschlossen. Häufig haben auch junge Muslime der zweiten und dritten Generation, die in Deutschland aufgewachsen sind, Schwierigkeiten, den traditionellen Islam ihrer Eltern für sich zu interpretieren. Die Identitätssuche kreist dabei um die Frage »Wer bin ich?« und offenbart sich in einem Gefühl des »Nicht-Dazugehörens« aufgrund mangelnden Konsenses von religiöser und nationaler Identität. Denn das Individuum als Teil einer sozialen Welt strebt neben einer personellen Identität auch nach einer positiven sozialen Identität. Dabei kann die Identitätskonstruktion aufgrund mangelhafter Identifkationsmöglichkeiten oder Zugehörigkeitserfahrungen krisenhaft sein.

Unter Bezugnahme auf die sozialpsychologische Theorie der sozialen Identität von Henri Tajfel und John Charles Turner lässt sich der soziokognitive Einfluss von Gruppen auf die Entwicklung einer personellen Identität genauer erläutern. Soziale Identitäten sind Reflexionen von sozialen Kategorien und Gruppen, zu denen sich Individuen zählen. Durch soziale Kategorisierung (Stereotypisierung, Vorurteile wie »Alle Muslime sind Terroristen«, »Alle Flüchtlinge sind kriminell«), Abgrenzung, Vergleich und Vereinheitlichung einer Outgroup (Fremdgruppe, der man sich nicht zugehörig fühlt) werden Grenzen definiert. Diese trennen die Ingroup (Eigengruppe, der man sich zugehörig fühlt) von der Outgroup, wie den Islam von der westlichen Welt.

Der Sozialpsychologe Muzafer Sherif konnte in seiner Theorie des realistischen Gruppenkonflikts bereits 1966 demonstrieren, dass es aufgrund von Wettbewerb um Ressourcen, Macht oder Status zu Konflikten zwischen In- und Outgroup kommt. Diese können soziale Diskriminierung und Feindseligkeiten zwischen Gruppen verursachen. Das spielt vor allem bei Konflikten zwischen Kulturen - wie aktuell im Syrienkrieg - eine Rolle. Durch das Bevorzugen der Eigengruppe und das Abwerten und Diskriminieren der Fremdgruppe wird soziale Überlegenheit hergestellt und damit das Bedürfnis nach positiver sozialer Identität befriedigt. Denn Gruppen haben für Individuen eine selbstwerterhöhende Funktion. Durch Diskriminierungen der eigenen Gruppe wiederum erfahren Individuen auch eine Abwertung der eigenen Person. Das kann zu Selbstzweifeln und Identitätskrisen führen, für deren Lösung immer radikalere Mittel gewählt werden, je aussichtsloser Individuen ihre soziale Realität wahrnehmen.

Muslime erfahren aktuell in ganz Europa Diskriminierung seitens der Politik. Wie sollen sich Menschen in einem fremden Land angenommen fühlen und integrieren können, das ihre religiöse Identität nicht achtet?

Bezeichnend ist, dass Muslime aktuell in ganz Europa Diskriminierungserfahrungen seitens der Politik machen. Das kann sich letztendlich destruktiv auf Identitätssuche und Integration auswirken. So zieht die Partei des niederländischen Rechtspopulisten Geert Wilders mit der Forderung nach Schließung aller Moscheen und dem Verbot des Korans in die Parlamentswahl 2017. Frankreich verhängte als Reaktion auf das islamistisch motivierte Attentat von Nizza an vielen Stränden ein Burkini-Verbot, das inzwischen vom obersten Verwaltungsgericht gestoppt wurde, da es eine Verletzung von Freiheitsrechten darstelle. In Deutschland will die Hälfte der Bevölkerung die Vollverschleierung generell untersagen. Wie sollen sich Menschen in einem fremden Land angenommen fühlen und integrieren können, das ihre religiöse Identität nicht achtet?

Romantisch verklärte Vorstellungen wirken anziehend

Kommen zu einer generell ungünstigen Lebenssituation und Diskriminierungserfahrungen zusätzliche Probleme wie Arbeitslosigkeit, ein geringerer sozialer Status im Vergleich zum Durchschnitt, Gewalt- oder Vergewaltigungserfahrungen, der Verlust eines Familienmitgliedes oder die Besetzung der eigenen Territoriums durch eine fremde Militärmacht hinzu, kann dies zu Frustration führen, die durch Medienberichte noch verstärkt wird. Das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, ein allgemeiner Groll gegen die Gesellschaft und die Politik des Gastlandes kann sich in diesem Fall schnell aufdrängen. In der Folge grenzen sich einige Muslime noch stärker vom Mainstream ab, und zwar umso stärker, je mehr sie sich dem Islam moralisch und emotional verpflichtet fühlen. Weil sie einen Bruch zwischen Real-Selbst und Ich-Ideal erleben, kann die Identitätskrise weiter verstärkt werden. Die Betroffenen suchen nach Orientierung und Teilhabe. Gerade auch im Jugendalter, der zentralen Phase der Identitätsfindung, scheint der Schritt in die Radikalisierung leicht: Es werden alternative Deutungen, Macht, Stärke und Selbstkongruenz, also die Übereinstimmung von Gefühlen und Handlungsabsichten, in einer extremistischen Gruppe gesucht.

Radikalisierungsexperten vermuten jedoch, dass oftmals viel weniger die Ideologie anziehend wirkt als vielmehr die Aussicht auf Zugehörigkeit zu einer Art Jugendbewegung

Islamistische Organisationen verstärken die Kluft zwischen Ingroup (Islam) und Outgroup (Westen), indem sie den Westen für die persönliche Krise verantwortlich machen und einen neuen kognitiven Rahmen schaffen, der alternativen Lebenssinn über die islamistische Ideologie vermittelt und ein einfaches Schema von »wir gegen sie« signalisiert. Radikalisierungsexperten vermuten jedoch, dass oftmals viel weniger die Ideologie anziehend wirkt als vielmehr die Aussicht auf Zugehörigkeit zu einer Art Jugendbewegung: Endlich gehören sie zu einer Gruppe, die sich durch einen eigenen Kleidungsstil, Symbole und Facebook-Auftritte auszeichnet. Anziehend seien für die Jugendlichen die »politische Propaganda zur Lage in Syrien, die romantisch verklärte Absicht, beim Aufbau des Kalifats mitzuhelfen sowie Männlichkeitsfantasien über den ‚Heiligen Krieg‘ und eine übersteigerte Abenteuerlust«. Auch das pseudoreligiös legitimierte Ausleben von Aggressionen und Gewalt trägt für die Jugendlichen zur Attraktivität dieser Szene bei. Eine Auswertung des Bundesamtes für Verfassungsschutz von 2015 ergab, dass zwei Drittel der Syrien-Ausreisenden bereits vor ihrer Radikalisierung eine (klein-)kriminelle Karriere hinter sich hatten. Vor allem die zuletzt genannten Motive könnten auch die islamistische Radikalisierung von Deutschen erklären, wie im Fall des dem IS beigetretenen Berliner Denis Cuspert.

Ein Individuum ist mehr als Nationalität oder Religion

Es ist eine langfristige, gesamtgesellschaftliche Aufgabe, Menschen davor zu bewahren, sich einer islamistischen Gruppe anzuschließen. Präventionsprogramme von Gemeinden, politische Bildungs-, Jugend- und Sozialarbeit sollten Jugendlichen Plattformen zur positiven Selbstfindung anbieten, die den jungen Menschen als Individuum akzeptieren und nicht auf Kategorien wie Nationalität oder Religion reduzieren. Deradikalisierungsprogramme für Rückkehrer und Aussteigerprogramme sollten stärker gefördert werden.

Gesellschaftlich und politisch muss für eine noch differenziertere Betrachtung der Welt und einen offenen, toleranten Umgang mit Menschen jeder Kultur argumentiert werden. Es gilt, sich politisch klar gegen jede Form von Extremismus und Terrorismus zu positionieren. Als Reaktion der europäischen Politik auf Terrorattentate ist es jedoch absurd, Muslime, die, wie beschrieben, selten zu Terroristen werden, weiter zu diskriminieren. Denn damit wird dem IS, der durch Attentate darauf zielt, die Kluft zwischen Islam und Westen weiter zu vergrößern, Vorschub geleistet.

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Fußnoten

  1. Vgl. Bundeskriminialamt (BKA), Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), Hessisches Informations- und Kompetenzzentrum gegen Extremismus (HKE) (Hrsg.): Analyse der Radikalisierungshintergründe und -verläufe der Personen, die aus islamistischer Motivation aus Deutschland in Richtung Syrien oder Irak ausgereist sind, o.O. 2015, S. 13ff.
  2. Vgl. Hafeneger, Benno: Islamismus, Salafismus, Dschihadismus. Überlegungen und Hinweise zum religiös motivierten Extremismus, in: Sozial Extra, Wiesbaden (39), H. 2, S. 10-15.
  3. Vgl. Steffen, Wiebke: Prävention des internationalen Terrorismus in Deutschland - eine Zustandsbeschreibung, o.O. 2015. (BKA-Herbsttagung 2015: Internationaler Terrorismus: Wie können Prävention und Repression Schritt halten?)
  4. Vgl. Al Raffie, Dina (2013): Social Identity Theory for Investigating Islamic Extremism in the Diaspora, in: Journal of strategic security, (6)2013, H. 4, S. 67-91.
  5. Tajfel, Henri; Turner, John Charles: The social identity theory of intergroup behavior, in: Austin, William G.; Worchel, Stephen (Hrsg.): Psychology of intergroup relations, Chicago/IL 1986, S. 7-24.
  6. Sherif, Muzafer: In common predicament. Social psychology of intergroup conflict and cooperation, Boston/MA 1966.
  7. Bierhoff, Hans-Werner; Frey, Dieter: Sozialpsychologie - Interaktion und Gruppe, Göttingen 2011, S. 271.
  8. Vgl. McCauley, Clark; Moskalenko, Sophia: Mechanisms of Political Radicalization: Pathways Toward Terrorism, in: Terrorism and Political Violence, Philadelphia (20)2008, H. 3, S. 415-433, S. 416.
  9. Vgl. Mansour, Ahmad (2014): Salafistische Radikalisierung - und was man dagegen tun kann, auf: bpb.de (22.10.2014).
  10. Ebd.

Autor:innen

Ehemalig bei KATAPULT.

Schwerpunkt
Intergruppenkonflikt und Radikalisierung

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