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Gastbeitrag

Was ist eigentlich los im Iran?

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Iranerinnen und Iraner freuen sich derzeit über die Aufmerksamkeit, die ihnen endlich seitens der Politik und Medien im Westen geschenkt wird. Sie wundern sich darüber, weshalb der zivile Widerstand gegen den autokratischen iranisch-islamischen Staat bisher übersehen und überhört wurde. 1979 ist im Zuge der Islamischen Revolution ein patriarchalisches Regime an die Macht gekommen, unter dem vor allem Frauen zu leiden haben, die bis dahin ein ziviles Leben gewohnt waren. Sie durften keine Richterinnen mehr sein, ihre Zeugenaussagen vor Gericht galten nunmehr nur noch als halb so belastbar wie die eines Mannes und sie mussten ihre Haare bedecken, weil diese angeblich fremde Männer „aufs Schlimmste reizen“ würden. Man kann aus guten Gründen vermuten, dass, wenn es nach den islamistischen Machthabern gegangen wäre, Frauen nicht mehr als Bürgerinnen gegolten hätten, sondern auf ihre Funktion als Mutter, Schwester, Tochter oder Ehefrau reduziert worden wären. 

Doch die iranische Gesellschaft war viel komplexer und widerstandsfähiger als der Wille der Mullahs, der sich nach und nach darin manifestierte, dass der ursprünglich autoritäre Staat zusehends in Richtung eines totalitären Regimes abdriftete. Ab 1980 zerstörte acht Jahre lang der Iran-Irak-Krieg das Land und forderte über 1,3 Millionen Todesopfer sowie Millionen von Verletzten. Während dieser Zeit erstickten die Machthaber jegliche Opposition und jegliche Forderung nach Grundrechten im Keim und rechtfertigten alle Repressalien mit dem Vorwand, Bürgerrechte müssten zugunsten der Verteidigung des Landes hintangestellt werden. 1988 richtete das Regime innerhalb eines einzigen Monats über 4.000 Menschen in den Gefängnissen standrechtlich hin, wobei den Opfern lediglich die Frage gestellt wurde, ob sie sich als Muslim begreifen würden oder nicht. Eine falsche Antwort bedeutete den Tod.

Obwohl diese Repression gegen jegliche Opposition und gegen den Laizismus als wertvolle Errungenschaft der Neuzeit sich mehr und mehr breit machte, verstummte doch nie der Protest und versandete nie der Widerstand. Nur blieben die Gesten des Protests meist auf einzelne konkrete Forderungen und Gesellschaftsbereiche beschränkt. Mal verlangten Arbeiter oder Angestellte mehr Lohn und Gehalt, mal forderten die Studierenden den Schutz der Universität vor Sittenpolizei und Revolutionsgarden, die alles bis auf die Sitzordnung in den Hörsälen nach Geschlecht aufteilen und reglementierten wollten.

Die Exilopposition zerstritt sich derweil über der Frage, wem im zukünftigen Iran die Rolle des Hegemons zukommen solle: Die Monarchisten sehnten sich nach dem vorrevolutionären Zeitalter, die Linken sehnten einen sozialistischen Iran herbei und verzettelten sich in sterilen Grundsatzdiskussionen, in denen sie versuchten, das islamische Regime nach marxistischen Maßgaben zu definieren; schließlich heiligte noch die islamisch-sozialistische militante Organisation der Volksmujahedin jedes unmögliche Mittel – und sei dies auch ein Bündnis mit dem Kriegsfeind Irak –, um dem Umsturz des Regimes einen Schritt näher zu kommen. So verlor die Exilopposition allmählich ihre Legitimation und Verbindung zum iranischen Volk, das inzwischen jeder Hauch von Freiheit schon eine veritable Befreiung dünkte. 

2009 kam es erstmals nach der Revolution zu einer landesweiten großen Bewegung und zu Demos gegen das Monopol der geistlichen Führung der Islamischen Republik. Damals sprachen alle Indizien dafür, dass Mahmoud Ahmadinejad, der handverlesene Kandidat des Führers Ali Khamenei, durch Wahlmanipulation zum Staatspräsidenten für weitere vier Jahre gemacht worden war. Die friedliche grüne Bewegung gegen die Wahl wurde niedergeschlagen und die letzte Hoffnung des Volkes, das Regime zu reformieren, verflog für immer.

Ab 2017 erlebte der Iran trotz des massiven Einsatzes 33 militanter Sicherheitsorgane wie der Basij-Miliz, der Revolutionsgarde, der Polizei, der „Stabsstelle für Zurechtweisung und für die Verhinderung unreiner Handlungen“ u.v.a.m. eine Welle von Protesten, die mit Demonstrationen gegen die Misswirtschaft der Regierung im Bereich der Wasserverwaltung des Landes in Esfahan anfing. Zwei Jahre später wurden im November 2019 bei Demos gegen die Preiserhöhung bei Brenn- und Treibstoffen binnen drei Tagen über eintausend Menschen von Sicherheitsorganen getötet und Tausende verhaftet. Kaum eine Medienanstalt in Europa oder den USA nahm Kenntnis von diesem „blutigen November“.

In all den Jahren versuchten die Machthaber, teils mithilfe unmenschlicher Aktionen, um jeden Preis die Aufmerksamkeit der Medien von den Protestbewegungen fernzuhalten und abzulenken. Im Januar 2020 schossen die Revolutionsgardisten ein ukrainisches Flugzeug in Teheran ab, nur um die Schuld auf die „Imperialisten“ zu schieben; in der Hochphase der Coronapandemie wurde die Werbetrommel gegen die „westlichen Vakzine“ gerührt; und fast jeden Abend berichtete das iranische Staatsfernsehen über die „unglücklichen Gesellschaften des Westens“.

Ich, langjähriger politischer Aktivist und gesetzter Redakteur, habe die ganze Zeit den Widerstandsgeist junger Iraner, vor allem der Iranerinnen, unterschätzt und muss mit alten Prognosen nun sehr vorsichtig sein.

Am 16. September 2022 wurde Mahsa Jina Amini (22) von der sogenannten Sittenpolizei wegen „nicht ordnungsgemäßer Kleidung“ verhaftet. Sie kam durch Misshandlungen der Sicherheitskräfte zu Tode. Seitdem reißen die Proteste, die diesmal vornehmlich von Frauen geführt werden, nicht mehr ab. Sie richteten sich erst gegen die Bekleidungsvorschriften und die „Moralpolizei“ und verschärften sich trotz des massiven und gewaltsamen Einsatzes bewaffneter Sicherheitskräfte Tag für Tag. Auch diesmal versuchte die Staatsführung, die Öffentlichkeit durch Ablenkungsmanöver umzustimmen, nachdem eine Gegendemonstration zur Unterstützung der staatlichen Kleidungsvorschriften kläglich scheiterte. In Schiraz und Zahedan wurden Menschen während der Verrichtung des Freitagsgebets in den Moscheen ermordet, Raketen wurden über irakisch-kurdischen Gebieten abgeworfen und das berüchtigte Teheraner Evin-Gefängnis, in dem unzählige politische Gefangene festgehalten werden, brannte lichterloh. 

Ich, langjähriger politischer Aktivist und gesetzter Redakteur, habe die ganze Zeit den Widerstandsgeist junger Iraner, vor allem der Iranerinnen, unterschätzt und muss mit alten Prognosen nun sehr vorsichtig sein.

Zwar haben wir etwa zwei Millionen bewaffnete, ideologisch verbildete und korrupte Kräfte, die schwerlich ihre Macht und ihren Einfluss gegen ein demokratisches System mit breiter Mitwirkung eintauschen werden. Zwar werden viele Männer Ü40 ihre historisch zur Selbstverständlichkeit verkommenen Rechte nicht an Frauen verlieren wollen. Und doch bin ich der Meinung, dass die iranische Jugend, die Kulturschaffenden, ob alt oder jung, und nicht zuletzt die Weltpolitik, die hoffentlich nun zur Besinnung gekommen ist und nicht mehr auf die Ablenkungsmanöver der Mullahs hereinfällt, einen demokratischen Iran herbeiführen werden. Dieses Ziel ist nicht mehr fern.

Wie hört sich die Revolution an, wie riecht eine Demonstration und wie schmeckt die Diktatur? Nader, ein geburtsblinder Iraner, wird 1980 an der iranisch-türkischen Grenze von den Revolutionsgarden daran gehindert, das Land zu verlassen. Er verschwindet spurlos. Sein Begleiter Musa schafft es bis nach Deutschland und mit ihm eine Aktentasche voller Notizen und Tonbandaufnahmen, in denen Nader aus seinem Leben erzählt.

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Autor:innen

Eskandar Abadi ist Journalist, Musiker und Übersetzer. Er wurde 1959 in Bandar-e Mahschahr im Iran geboren und studierte Staatsrecht in Teheran, bis 1980 alle Universitäten im Zuge der Iranischen Kulturrevolution geschlossen wurden. Um den Repressalien der neuen islamischen Republik zu entgehen, flüchtete er nach Deutschland und studierte Politikwissenschaften und Germanistik in Marburg. Heute ist Eskandar Abadi Redakteur bei der Deutschen Welle und lebt mit seiner Familie in Köln. Er ist geburtsblind.

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