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Russland

Wahlen als symbolischer Akt

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Das zentrale Argument für Russland als Demokratie ist die Durchführung freier Wahlen. Die Bürger Russlands haben die Wahl zwischen verschiedenen Parteien und Kandidaten, die durchaus für unterschiedliche politische Positionen stehen. Die Wähler bestimmen also, wer Präsident wird oder – wie in diesem September –, welche Parteien ins Parlament einziehen.

Tschetschenien weist auch schon einmal Wahlkreise mit einer Wahlbeteiligung von über 100 Prozent auf

Allerdings gibt es immer wieder Vorwürfe der Wahlmanipulation. Vor allem sollen von Wahlkommissionen regelmäßig zusätzliche Stimmzettel zugunsten kremltreuer Kandidaten in Wahlurnen gestopft worden sein. Zentrales Beispiel hierfür ist Tschetschenien, das auf diese Weise auch schon einmal Wahlkreise mit einer Wahlbeteiligung von über 100 Prozent aufweist.

Bei den vorherigen Parlamentswahlen im Jahr 2011 formierte sich russlandweit eine Bürgerbewegung von Wahlbeobachtern, die am Wahltag mit ihren Smartphones Manipulationen dokumentierten und direkt im Internet hochluden. Folge war die wohl größte politische Protestwelle in Russland seit der Perestroika vor 25 Jahren. Vor der Parlamentswahl im Oktober 2016 erklärte über die Hälfte der befragten Russen in einer Wahlumfrage, dass aus ihrer Sicht Manipulationen einen »ernsthaften« Einfluss auf das Wahlergebnis hätten.

Der Umfang dieser Wahlmanipulationen ist nicht eindeutig bestimmbar. Da es keine umfassenden Kontrollen gibt und viele Fälschungen auf die Eigeninitiative lokaler Politiker zurückzuführen sind, die wie der Präsident Tschetscheniens dem Kreml ihre Unterstützung beweisen wollen, kennen selbst Insider nicht das genaue Ausmaß. Umfragen von russischen Meinungsforschungsinstituten, insbesondere die des unabhängigen Levada-Zentrums, legen aber nahe, dass die Wahlergebnisse in der Tendenz den Wählerwillen widerspiegeln.

Beschränkungen für Oppositionskandidaten

Ein anderes Problem von Wahlen in Russland sind systematische Beschränkungen von Oppositionskandidaten. Bei den Präsidentschaftswahlen 2012 wurden drei von acht Kandidaten nicht zugelassen. Auch die Registrierung von Parteien ist mit vielen bürokratischen und durch den Staat manipulierbaren Hürden verbunden.

Wie Oppositionspolitiker bereits neutralisiert werden, lange bevor gewählt wird, belegt das strafrechtliche Vorgehen gegen den derzeit wohl populärsten Oppositionspolitiker, Alexei Nawalny. Das Untersuchungsverfahren, das 2013 zu seiner ersten Verurteilung führte, wurde von der zuständigen Staatsanwaltschaft zweimal mangels Straftatbestand eingestellt, aber auf Druck Moskaus wieder aufgenommen. Vorgeworfen wurde Nawalny, ein Holzgeschäft vermittelt zu haben (ohne direkt beteiligt gewesen zu sein), bei dem überhöhte Preise zu Lasten eines staatlichen Unternehmens gezahlt wurden. Der Marktwert des Holzes wurde im Gerichtsverfahren nicht einmal ermittelt. Die Verurteilung Nawalnys wurde im Berufungsverfahren zur Bewährung ausgesetzt.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied am 23. Februar 2016, dass das russische Strafverfahren gegen Nawalny insgesamt dessen Recht auf eine faire Anhörung verletzt habe und dass die Verurteilung für Taten erfolgt sei, die nicht von regulären Geschäftstätigkeiten zu unterscheiden seien.

Bereits im Dezember 2014 wurde Alexei Nawalny gemeinsam mit seinem Bruder Oleg aber erneut zu einer Haftstrafe verurteilt: diesmal wegen des Vorwurfs, das französische Unternehmen »Yves Rocher« betrogen zu haben. Das Unternehmen selber bestreitet diesen Vorwurf. Während Oleg Nawalny seine Haft direkt nach der Urteilsverkündung antreten musste, wurde die Strafe gegen Alexei Nawalny erneut zur Bewährung ausgesetzt. Die Bewährungsstrafe bedeutet aber, dass Nawalny bei Wahlen nicht kandidieren darf. Sie endet genau nach der nächsten Präsidentenwahl.

Wahlen sind Teil eines umfassenden Systems von Kontrollmechanismen, die Machtmissbrauch verhindern sollen; verhindern sollen, dass ein gewählter Präsident beginnt, sich aufzuführen wie ein Diktator

Demokratie bedeutet mehr als Wahlen

Zentral für die Frage, ob Russland eine Demokratie ist, ist aber nicht nur die korrekte Durchführung von Wahlen. Wahlen sind in einer Demokratie kein Selbstzweck. Sie sind vielmehr Teil eines umfassenden Systems von Kontrollmechanismen, die Machtmissbrauch verhindern sollen. Die ursprüngliche Idee der Demokratie, wie sie zum Beispiel in der amerikanischen Verfassungsdebatte intensiv diskutiert wurde, ist es, zu verhindern, dass ein gewählter Präsident beginnt, sich aufzuführen wie ein Diktator.

Für die vertikale Kontrolle in einer Demokratie, das heißt die Kontrolle durch die Bevölkerung, sind Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie Medienfreiheit zentrale Voraussetzungen. Sie sorgen dafür, dass die Bevölkerung sich über Politik informieren kann und auch in der Lage ist, ihre Kritik frei und bei Bedarf organisiert zu äußern. Diese Rechte müssen grundsätzlich gegeben sein. Im Falle Russlands wird die Beweislast hingegen oft umgekehrt: Es wird auf Beispiele kritischer Medienberichte und genehmigter Demonstrationen hingewiesen. Diese gibt es und Russland ist eindeutig nicht so repressiv wie viele Diktaturen. Aber einen ernsthaften Demokratietest besteht es auf diese Weise nicht.

Alle landesweiten Fernsehsender – eine zentrale Nachrichtenquelle für über 80 Prozent der russischen Bevölkerung – wurden bereits in Putins erster Amtszeit unter staatliche Kontrolle gebracht

Eingeschränkte Meinungsfreiheit

Alle landesweiten Fernsehsender – eine zentrale Nachrichtenquelle für über 80 Prozent der russischen Bevölkerung – wurden bereits in Putins erster Amtszeit unter staatliche Kontrolle gebracht. Kritische Medien und Journalisten sehen sich regelmäßig Restriktionen ausgesetzt. Verstöße gegen die Medienfreiheit werden von »Reporter ohne Grenzen« und von der russischen Glasnost-Stiftung erfasst. Die Listen beinhalten einige Morde, eine Vielzahl von gewalttätigen Angriffen, aber auch willkürliche Verhaftungen, Beschlagnahmungen von Redaktionsmaterial und Sperrungen von Redaktionsräumen durch staatliche Behörden. Im Ergebnis sind alle Massenmedien, die mehr als ein Prozent der Bevölkerung erreichen, weitgehend auf der Linie des Kreml. Berichte etlicher Mitarbeiter belegen, dass Anweisungen für die Fernsehberichterstattung direkt von der politischen Führung des Landes kommen.

Auch zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich an politischen Debatten beteiligen, sehen sich systematischen Restriktionen ausgesetzt. Dabei wird in der Regel nicht die politische Positionierung als Grund genannt, vielmehr werden »technische« Gründe wie Brandschutz, Formfehler bei Registrierungen und Rechenschaftsberichten oder finanzielle Förderung aus dem Ausland vorgeschoben. Außerdem wird darauf geachtet, Gegenbeispiele zuzulassen, die Zweiflern zeigen sollen, dass auch kritische Medienberichterstattung und unabhängige Organisationen erlaubt sind. Diese sind aber in ihrem Handlungsspielraum stark eingeschränkt und spüren das Damoklesschwert staatlicher Restriktionen.

Alternativlosigkeit

All dies bedeutet nicht automatisch, dass in Russland schlechtere Politik gemacht wird als in Demokratien. Aber es bewirkt, dass eine kritische öffentliche Debatte innerhalb Russlands nicht mehr stattfindet. Als in den USA Präsident George W. Bush 2003 unter Verweis auf Massenvernichtungswaffen den zweiten Irakkrieg vorbereitete, gab es eine kontroverse öffentliche Debatte. Viele Massenmedien, Politiker und Experten äußerten Zweifel an der Existenz von einsatzbereiten Massenvernichtungswaffen im Irak und an der Angemessenheit eines Krieges. Diese Debatte wurde auch nach Beginn des Krieges fortgeführt und belastete das Image von Bush nachhaltig.

Nur knapp ein Drittel der russischen Bevölkerung erklärte in einer Umfrage vom Juli dieses Jahres, dass sie überall frei ihre Meinung über die politische Führung des Landes sagen könne

Als Russland 2014 die Krim annektierte, gab es im russischen Fernsehen keine Kritik. Die neue ukrainische Regierung wurde durchgängig als faschistische Junta bezeichnet. Putin nannte Kritiker seiner Politik Landesverräter. Teilnehmer an Protestaktionen gegen die Annexion wurden in vielen Fällen verhaftet. Wissenschaftliche Experten, die Kritik an der Annexion äußerten, sahen ihre Karriere gefährdet.

Nur knapp ein Drittel der russischen Bevölkerung erklärte in einer Umfrage vom Juli dieses Jahres, dass sie überall frei ihre Meinung über die politische Führung des Landes sagen könne. Durch staatliche Einschränkungen wird nicht nur offene Kritik unterdrückt, sondern der großen Mehrheit der Bevölkerung der Zugang zu alternativen Informationen und Meinungen unmöglich gemacht.

Ein Forschungsprojekt zur Medienberichterstattung in Wahlkampfzeiten hat gezeigt, dass in den großen russischen Medien seit der Präsidentschaftswahl von 2008 die inhaltliche Position von Oppositionskandidaten nicht mehr erwähnt wird, nicht einmal mehr mit der vorher üblichen negativen Einfärbung. Das bedeutet, dass die Mehrheit der Bevölkerung nicht einmal weiß, wofür die Opposition genau steht. In diesem Sinne wird Putin und die ihn unterstützende Partei Einiges Russland für die meisten alternativlos.

Wahlen sind damit ein symbolischer Akt, der die Alternativlosigkeit bestätigt. Alle wissen bereits vorher, wer die Wahlen gewinnen wird. Das Problem der politischen Führung des Landes ist in dieser Situation vor allem, dass die symbolische Legitimation durch Wahlen nur dann funktioniert, wenn die Wahlbeteiligung hoch genug ist. Bei der Wahlumfrage des Levada-Zentrums im Juli gaben nur 20 Prozent an, sicher zur Wahl gehen zu wollen, weitere 26 Prozent erklärten dies für wahrscheinlich. Nur Tschetschenien kann wohl wieder mit einer Wahlbeteiligung von ungefähr 100 Prozent rechnen.

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Autor:innen

Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen

Forschungsschwerpunkte
Funktionsweise politischer Regime in der postsowjetischen Region
Rolle nichtstaatlicher Akteure
Energiewirtschaft

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