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Geschlechtsspezifische Rentenlücke

Vorbild Niederlande

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Die Rentenbeiträge werden in den nächsten Jahren steigen, das Rentenniveau wird sinken. Die Sozialverbände und die Gewerkschaften warnen vor steigender Altersarmut. Was bedeutet Altersarmut genau?

Wenn Rentner am Ende ihres Arbeitslebens eine so kleine Rente erhalten, dass das Geld nur für das Allernötigste reicht, dass weder ein Kinobesuch drin ist noch die Waschmaschine ersetzt werden kann, wenn die alte kaputt geht, dann haben wir es mit Altersarmut zu tun. Diese Menschen sind aufgrund ihrer begrenzten finanziellen Möglichkeiten marginalisiert. Sie können nicht mehr am sozialen Leben teilhaben, wie sie es als Bürger und Rentenversicherte in diesem Land verdient haben.

Wenn es um Altersarmut geht, wenden Regierungspolitiker in der Regel ein, dass doch »nur« drei Prozent der Menschen ab 65 Jahren, das sind etwa 500.000, Grundsicherung beziehen, um ihre kleine Rente aufzustocken. Die Zahl stimmt. Aber nicht nur, wer Sozialhilfe bezieht, hat mit Altersarmut zu kämpfen. Auch wer Alterseinkünfte knapp über Grundsicherungsniveau von ca. 780 Euro hat oder seine Minirente mit einem Minijob aufstockt, um dem Sozialamt zu entgehen, ist von Armut betroffen.

Nach Angaben des Paritätischen Gesamtverbandes ist der Anteil der Rentner, die von weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens leben und die damit als armutsgefährdet gelten, in den letzten zehn Jahren nach oben geschnellt: von gut 10 Prozent im Jahr 2005 auf heute über 15 Prozent.

Sie schreiben in Ihrem Buch »Die verratenen Mütter«, dass gerade Frauen und Mütter von sinkenden Renten und Altersarmut betroffen sein werden. Warum?

Frauen und insbesondere Mütter sind am Arbeitsmarkt weniger »erfolgreich« als Männer. Weniger erfolgreich in dem Sinne, dass sie seltener durchschnittlich oder besser bezahlte, unbefristete Vollzeitstellen haben als Männer. Aber nur diese Art von Arbeit führt nach den Regeln der gesetzlichen Rentenversicherung am Ende des Arbeitslebens zu einer auskömmlichen Rente. Rentnerinnen erhalten heute durchschnittlich etwa 580 Euro Rente und damit nur halb so viel aus der gesetzlichen Rentenkasse wie Männer - eine Rentenlücke von 50 Prozent.

Wir haben in Deutschland mit 73 Prozent eine der höchsten Erwerbsquoten von Frauen

Jetzt sollte man meinen, dass diese Rentenlücke in Zukunft schrumpft, weil Frauen und Mütter heute wesentlich häufiger erwerbstätig sind, als es heutige Rentnerinnen waren. Wir haben in Deutschland mit 73 Prozent eine der höchsten Erwerbsquoten von Frauen. Doch diese Rechnung geht leider nicht auf, weil Teilzeitarbeit enorm zugenommen hat. Unter denen, die heute Mitte dreißig sind, aber auch unter den Frauen der Babyboomer-Generation - also denjenigen, die um das Jahr 2030 in Rente gehen - arbeitet jede zweite in Teilzeit. Oft sind das Mini-Teilzeitjobs unter 20 Stunden. Manche entscheiden sich für Teilzeit, weil sie mehr Zeit für Familie und Kinder haben wollen, andere finden einfach keine andere Stelle. Eine auskömmliche Rente lässt sich damit in Deutschland jedenfalls nicht erwirtschaften.

Frauen, die immer gearbeitet, Kinder großgezogen und ihre Eltern gepflegt haben, müssen trotzdem im Alter Unterstützung vom Sozialamt beantragen. Was läuft hier falsch?

Fast sieben Millionen Rentnerinnen beziehen nach Angaben der Deutschen Rentenversicherung eine Rente von maximal 750 Euro. Das betrifft mehr als zwei Drittel aller Rentenbezieherinnen in den alten Bundesländern und 40 Prozent der Rentnerinnen in den neuen Bundesländern. Das heißt noch nicht, dass jede gleich arm ist oder Grundsicherung erhält. Ein Drittel der Rentnerinnen bekommt zum Beispiel eine weitere Rente, eine Witwenrente. Frauen aber, die im Alter nur ihre selbst erwirtschaftete Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung haben, laufen zunehmend Gefahr, zu verarmen.

Warum? Zum einen ist das Rentenniveau kontinuierlich gesunken. Derzeit liegt es bei etwa 48 Prozent, bis 2030, wenn die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen, sinkt es voraussichtlich auf 44 Prozent. Die Rente ersetzt also einen immer geringeren Teil des durchschnittlichen Lebensarbeitseinkommens. Zum anderen arbeiten Frauen häufiger in unterdurchschnittlich bezahlten Berufen, sie erledigen zwei Drittel der Minijobs und verdienen, wenn man die Stundenlöhne miteinander vergleicht, noch immer 21 Prozent weniger als Männer. Frauen stecken beruflich zurück, wenn Kinder zu versorgen sind oder Angehörige pflegebedürftig werden.

Eine Mindestrente wie in anderen europäischen Ländern gibt es in Deutschland nicht

Diese »Lücken« in der Erwerbsbiografie schlagen bei der Rentenberechnung voll durch. Daran ändert auch die »Mütterrente« nicht viel, ebenso wenig wie die Entgeltpunkte, die für die Pflege von Angehörigen auf dem Rentenkonto gutgeschrieben werden. Bei sinkendem Rentenniveau und einem Rentensystem, das so eng an die Höhe und die Dauer des Verdienstes anknüpft, fahren die Renten von Frauen in den Keller - oft unter das Grundsicherungsniveau. Eine Bremse gibt es nicht. Wer im Alter dann kein anderes Einkommen hat, muss zum Sozialamt. Eine Mindestrente wie in anderen europäischen Ländern gibt es in Deutschland nicht. Und Grundsicherung ist eben keine Rente, sondern eine Sozialleistung. Wer sie beantragt, muss die Einkommensverhältnisse offenlegen und Ersparnisse über 2.600 Euro aufbrauchen, bevor es einen Cent gibt. Für mich ist das eine Form der Entmündigung.

Gibt es Unterschiede zwischen den neuen und den alten Bundesländern?

Die Unterschiede in der Rentenhöhe zwischen Frauen und Männern sind in den neuen Bundesländern geringer. Und diese Lücke wird sich nach Hochrechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung fast geschlossen haben, wenn die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen - allerdings auf relativ niedrigem Niveau.

Man könnte also sagen, das Risiko der Altersarmut ist in den neuen Bundesländern gleichmäßiger zwischen den Geschlechtern verteilt. Das liegt daran, dass zu DDR-Zeiten viel mehr Frauen berufstätig waren als in der alten BRD. Zudem arbeiten Frauen in den neuen Bundesländern häufiger Vollzeit als in den alten. Andererseits haben viele - Frauen wie auch Männer - nach der Wiedervereinigung lange Phasen von Arbeitslosigkeit erlebt.

Die geschlechterspezifische Rentenlücke in den alten Bundesländern hält sich dagegen hartnäckig. Wenn die Frauen der Babyboomer-Generation in Rente gehen, werden sie voraussichtlich noch immer halb so viel Rente bekommen wie ihre männlichen Altersgenossen - jedenfalls wenn sich an der Rentenberechnung nichts ändert.

Ein Mann verdient häufig mehr, als eine Frau für die gleiche Tätigkeit verdienen würde. Wirkt sich das auch auf die Rente aus? Kann man sagen, dass Frauen in diesem Falle doppelt benachteiligt wären?

Ja, natürlich. Denn ein Minus beim Lohn zieht automatisch ein Minus in der Rente nach sich. Die Rentenberechnung der gesetzlichen Rentenversicherung orientiert sich am Durchschnittslohn. Das heißt, jedes Jahr Berufstätigkeit wird bei einem Durchschnittseinkommen von etwa 3.000 Euro brutto monatlich mit einem Entgeltpunkt honoriert. Jeder Entgeltpunkt ist aktuell etwa 30 Euro wert. Nach 45 Arbeitsjahren ergibt sich daraus die »deutsche Standardrente« von derzeit etwa 1.300 Euro. Wer weniger verdient hat, landet darunter. Und, auch das darf man nicht vergessen, von der Summe gehen noch Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung ab. Bei einer Rente von 900 Euro bleiben dann beispielsweise noch 800 Euro.

Eine Rentenlücke von fast 50 Prozent zwischen Frauen und Männern ist Negativrekord in Europa. Und selbst unter den 34 OECD-Ländern, zu denen auch die Türkei oder die Länder Südamerikas gehören, belegt Deutschland einen traurigen Spitzenplatz

Wo liegt Deutschland mit der Rente im internationalen Vergleich? Und wo bei der Frauenrente?

Erst einmal: Eine Rentenlücke von fast 50 Prozent zwischen Frauen und Männern ist absoluter Negativrekord in Europa. Und selbst unter den 34 OECD-Ländern, zu denen auch die Türkei oder die Länder Südamerikas gehören, belegt Deutschland einen traurigen Spitzenplatz.

In den vergangenen beiden Jahrzehnten haben viele europäische Länder ihr Rentensystem reformiert. Sie stehen vor dem gleichen Problem: Mehr Rentner werden in Zukunft weniger Beitragszahlern gegenüberstehen, weil die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen und weil sich mit der gestiegenen Lebenserwartung auch die Zeit des Rentenbezugs verlängert. Nur, in keinem anderen Land außer Deutschland hat man mit derart drastischen Rentenkürzungen reagiert. Und wenn es Rentenkürzungen gab, hat man zumindest darauf geachtet, dass die Rente derjenigen mit niedrigen Löhnen nicht ins Bodenlose abstürzt. Das kommt vor allem Frauen zugute. In Ländern mit einer steuerfinanzierten Basisrente, die es in den skandinavischen Ländern oder in den Niederlanden gibt, profitieren insbesondere Mütter.

Im Berliner Koalitionsvertrag ist vorgesehen, eine »solidarische Lebensleistungsrente« einzuführen. Sie soll all denen zugutekommen, die wenig verdient, Angehörige gepflegt und Kinder erzogen haben. Was halten Sie davon?

Auf eine solche »solidarische Lebensleistungsrente« hatte man sich schon in mehreren Koalitionsverträgen geeinigt. Im Gespräch war eine Summe von 700 bis 800 Euro. Aber diese »Lebensleistungsrente« war ein »ungeliebtes Kind«. Kaum ein Rentenpolitiker hat das Wort in den letzten Jahren in den Mund genommen, geschweige denn, dass über die genaue Ausgestaltung diskutiert worden wäre. Vermutlich wurde sie auch bei den jüngsten Koalitionsgesprächen zur Rente ausgeklammert. Dabei könnte sie, wenn sie als Mindestrente konzipiert ist, Verbesserungen für Frauen bringen.

Heutige Rentnerinnen kommen im Durchschnitt gerade einmal auf 28 Beitragsjahre

Arbeitsministerin Andrea Nahles hat aber die Idee in ihrem Ende November 2016 veröffentlichten Rentenkonzept als »Solidarrente« wieder aufgegriffen. Um in den Genuss einer solchen Rente zu kommen, sollen 35 bis 40 Beitragsjahre in der Rentenversicherung verlangt werden. Außerdem sollen andere Einkommen, auch die eines Partners, angerechnet werden.

Es gibt also nach wie vor eine Bedarfsprüfung. Mit diesen Regeln ist das für mich keine echte Rente, sondern doch wieder nur eine Sozialleistung. Zudem sind die Hürden hoch: Heutige Rentnerinnen kommen im Durchschnitt gerade einmal auf 28 Beitragsjahre - da sind die Beitragszeiten für Kindererziehung (»Mütterrente«) bereits eingerechnet.

Sie werben für das Modell der Bürger- oder Grundrente, wie es sie in den Niederlanden oder Schweden gibt. Das würde bedeuten, dass jeder Bürger eine Grundrente bekommt, unabhängig davon, wie viel er verdient. Ist denn das gerecht? Und worin liegt der Unterschied zu unserem Hartz-IV-System?

Diese Bürgerrenten heißen so, weil sich der Anspruch darauf allein aus der Tatsache ableitet, dass jemand Bürger eines Landes ist. Sie bietet eine Art steuerfinanzierte Basisversorgung, die in ihrer Höhe von Land zu Land variiert. In den Niederlanden beispielsweise ist sie mit 1.000 Euro für Alleinlebende und 700 Euro für Verheiratete relativ großzügig bemessen. In Großbritannien ist sie mit 600 Euro sehr bescheiden, sie wurde aber für zukünftige Rentner auf 800 Euro aufgestockt.

Aber diese Basisrente ist nur eine Säule der Alterssicherung. In den Niederlanden beispielsweise gibt es zusätzlich eine einkommensbasierte, umlagefinanzierte Rente wie in Deutschland, darüber hinaus hat fast jeder Erwerbstätige noch eine Betriebsrente. Dieses Drei-Säulen-Modell ist aus meiner Sicht ein relativ sicheres System. Niemand wird zum Almosenempfänger degradiert und Einkommensunterschiede werden durch die Basisrente zu einem gewissen Grad ausgeglichen. Das hat den Effekt, dass unbezahlte Arbeit, sei das nun die Sorge für Kinder, die Pflege von Angehörigen oder ein Ehrenamt, ein Stück weit auch in der Rente honoriert wird.

Mich überzeugt das, zumal es nicht einmal mehr kosten muss. Die Niederlande und auch Schweden investieren einen geringeren Anteil des Bruttoinlandsprodukts in das staatliche Rentensystem als Deutschland. Eine aktuelle Studie der Uni Bremen zeigt, dass sich die Rentenhöhe zwischen Frauen mit und ohne Kinder in diesen Ländern kaum unterscheidet. Ein Ausgleich, der in Deutschland mit der gnadenlos am Erwerbsleben orientierten Rentenberechnung nicht gelingt - »Mütterrente« hin oder her.

Das Interview führte Ella Daum.

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Fußnoten

  1. Vaillant, Kristina: Die verratenen Mütter, München 2016.

Autor:innen

Jahrgang 1964, studierte Publizistik und Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin im Deutschen Bundestag und am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.

Heute ist Sie Dozentin für Wissenschaftskommunikation an der Humboldt-Universität zu Berlin, arbeitet als freie Journalistin in Berlin und schreibt über Themen aus Wissenschaft und Forschung. 2014 veröffentlichte sie gemeinsam mit Christina Bylow das Buch „Die verratene Generation. Was wir den Frauen in der Lebensmitte zumuten“.

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