KATAPULT: In den letzten Monaten kam es verstärkt zu palästinensischen Messerattacken und Angriffen mit Autos auf Israelis. Manche sprechen von einer dritten Intifada. Was war der Auslöser dieser Angriffswelle und wie gehen die israelische und die palästinensische Regierung damit um? Amar-Dahl: Der Begriff »Dritte Intifada« wird inzwischen auch von israelischer Seite verwendet. Noch vor kurzer Zeit wurde von einer »Intifada von Einzelnen« gesprochen. Damit wollte man sich in Israel gewissermaßen beruhigen: Wenn diese neue Form der Gewalt gegen Israelis nicht von oben, also von der palästinensischen Führung organisiert ist, sondern lediglich von Individuen ausgeführt wird, werde sie bald zu Ende gehen, hoffte man in Israel. Die Palästina-Frage gehört nämlich zu den meist verdrängten Fragen in Israels politischer Kultur. Mittlerweile befürchtet man jedoch, dass es sich dabei nicht um eine vorübergehende Erscheinung handelt, sondern um den Anfang einer erneuten Auseinandersetzung, deren Ausmaß und Konsequenzen man sich nur ungern vorstellen mag. Die Palästina-Frage gehört nämlich zu den meist verdrängten Fragen in Israels politischer Kultur. Ihre Rückkehr in Form von unkontrollierter Gewalt bereitet den Israelis beträchtliche Angst. Die aktuelle palästinensische Rebellion ist eine Folge der Erkenntnis, dass Israel weder willens noch bereit ist, über eine Zweistaatenlösung wirklich zu verhandeln, also einen palästinensischen Staat im Westjordanland entstehen zu lassen. Im Gegenteil: Die Regierung Benjamin Netanjahus – seit knapp sieben Jahren im Amt – lehnt auch die einst von der israelischen Linken praktizierte Friedensideologie ab, also die Illusion eines Friedensprozesses. Im Jahr 2017 wird die Besatzung 50 Jahre lang angedauert haben, ein halbes Jahrhundert also. Und keine nennenswerte politische Macht in Israel wäre in der Lage, diese Okkupationsordnung aufzulösen. Das sogenannte linkszionistische Lager hat inzwischen seine Friedensrhetorik sogar nahezu aufgegeben. Die Besatzung als eine politisch-militärisch-ökonomische Ordnung hat sich im zionistischen Israel dermaßen etabliert, dass mittlerweile eine dritte und vierte Generation von Palästinensern in diese Ordnung hineingeboren wurde und nichts anderes kennt, als den Status eines Staatenlosen, mit all den damit verbundenen Alltagsschikanen von Checkpoints und Trennmauern bis hin zu Enteignungen und Hauszerstörungen. Das Resultat sind solche Verzweiflungstäter, wie sie Israel derzeit erlebt. Diese Einzelattentäter haben kein konkretes politisches Ziel. Sie gehen gegen Israelis vor, weil sie glauben, nichts gewinnen und darum auch nichts mehr verlieren zu können. Sie glauben nicht mehr daran, irgendetwas erreichen zu können, sodass sie sogar ihren eigenen Tod und den anderer Menschen in Kauf nehmen. Eine Eskalation der ohnehin explosiven Lage liegt dabei weder im Interesse der israelischen Regierung noch der Palästinensischen Autonomiebehörde. Eine Wiederholung der äußerst blutigen »Zweiten Intifada« (2000 bis 2005) – ein Kampf mit tausenden Toten und mehreren tausend Verletzten – würden beide Gesellschaften kaum verkraften. Israel und die Palästinensische Autonomiebehörde wollen den Status quo notgedrungen bewahren: Auf israelischer Seite wird ein gleichberechtigter palästinensischer Staat neben dem Staat Israel strikt abgelehnt. Die Annektierung des Westjordanlandes ist innenpolitisch und aufgrund internationaler Zwänge derzeit nicht durchsetzbar. Auf palästinensischer Seite hingegen weiß man, dass ein organisierter bewaffneter Kampf gegen das israelische Besatzungsregime nicht zu einem eigenen Staat führen würde. Im Gegenteil: Eine derartige Eskalation würde die seit 2005 aufgebaute Infrastruktur innerhalb des Westjordanlands (Zonen A und B laut Oslo-Vertrag von 1995) sehr wahrscheinlich bedrohen. Der Status quo mag für die Führungen eine üble Notwendigkeit sein, für die Menschen in Palästina wird er jedoch immer unerträglicher. Nun erhebt sich die Generation der Zweiten Intifada und der Stagnation im Friedensprozess – mit ihren Taten gegen Israelis erhofft sie sich jedoch keinen konkreten politischen Erfolg. Es wird immer offensichtlicher, dass die Besatzung keine Zukunft haben wird. Aus israelischer Sicht gilt dieser Zustand jedoch nach wie vor als unverzichtbar. Was seit Oktober 2015 in Israel und Palästina geschieht, ist eine weitere Erscheinungsform eines unterschwelligen Prozesses, der auf den Zerfall der Besatzungsordnung zusteuert. Wie lange so ein Prozess dauert und wie er schließlich ausgehen wird, kann zum jetzigen Zeitpunkt noch niemand vorhersehen. KATAPULT: Am 18. Januar haben die EU-Außenminister eine Erklärung zum israelisch-palästinensischen Konflikt verabschiedet, in der sie sich besorgt über die wachsende Gewalt von beiden Seiten zeigen. Wird Israels Außenpolitik ungleich härter kritisiert als die Außenpolitik anderer Länder, weil der Staat seit seiner Gründung auch mehr beobachtet wird? Amar-Dahl: Ob Israel seit seiner Gründung besonders unter Beobachtung der UN, der EU und den USA steht und damit vergleichsweise mehr kritisiert wird als andere Länder, ist schwer zu beantworten. Selbst wenn dies der Fall sein sollte, ändert es nichts daran, dass Israels Politik bezogen auf Palästina, Eretz Israel und die Siedlungspolitik, sprich: das Besatzungsregime, ein Problem bleibt, das gelöst werden muss. Die Besatzung bedeutet Unterdrückung, Enteignung und schließlich Entrechtung von mehreren Millionen Menschen, und dies über knapp fünf Jahrzehnte hinweg. Ein Freibrief der Weltgemeinschaft für Israel in seiner Palästina-Politik wäre kaum im Sinne Israels – einmal abgesehen davon, dass es unmoralisch wäre. Israel muss sich mit dieser Frage ernsthaft auseinandersetzen, nicht zuletzt da der palästinensische Aufstand bereits im Gange ist. Denn wie auch immer man dies verdrängt, bleibt die Palästina-Frage eine Herausforderung für das zionistische Israel. Die ohnehin gespaltene israelische Gesellschaft würde bei einer Weiterführung der derzeitigen Politik schlussendlich implodieren: Die Besatzung wird schlicht untragbar, der Preis der Weiterführung des Konflikts unerträglich. Die Kritik aus dem Ausland, vor allem die Maßnahmen gegen die Besatzung, können eine Hoffnung auf einen positiven Wandel bedeuten. Israel bei seinem Fehlverhalten tatenlos zu zuschauen, wäre jedenfalls höchst unverantwortlich. Darüber hinaus bezeichnet sich Israel als Demokratie und Rechtsstaat und muss dementsprechend damit rechnen, genauer beobachtet zu werden, als Staaten, die diesen Anspruch nicht erheben. KATAPULT: Hat ausländische (deutsche) Kritik Auswirkungen auf die israelische Politik? Wird sie überhaupt wahrgenommen? Amar-Dahl: Gehört und wahrgenommen wird ausländische Kritik allemal, ihre Auswirkungen sind jedoch, was die Palästina-Frage betrifft, recht beschränkt. Deutschland und die EU als wichtige Verbündete Israels werden sehr wohl beachtet. Israel kann es sich nicht leisten, Europa zu ignorieren. Israel kann es sich nicht leisten, Europa zu ignorieren. Das Verhältnis zu Europa ist jedoch höchst ambivalent: Der Zionismus hat seine Wurzeln im antisemitischen Europa des 19. Jahrhunderts; die europäische »Judenfrage« löste er schließlich im Palästina des 20. Jahrhunderts und setzte sich schließlich als die jüdische Antwort auf den Antisemitismus durch. Doch das zionistische Jahrhundert hat zugleich eine weitere historisch bedeutsame Frage nach sich gezogen: Die Palästina-Frage wird seit Beginn des 21. Jahrhunderts von der Weltöffentlichkeit besonders beachtet. Der Druck der UN und der Vereinigten Staaten, aber auch der EU auf Israel wächst seither dementsprechend. Doch das politische Israel versteht einen Palästinenserstaat – das Ziel dieses westlichen Drucks – als Gefahr für das zionistische Israel. Ein Palästina neben Israel hieße also sogleich das Scheitern seiner Lösung der »Judenfrage«. Israels Verweigerungshaltung rührt von dieser Angst her, der Angst vor dem Verlust des jüdischen Nationalstaats. Daher reagiert Israel auf europäischen Druck verärgert; es sieht dies gewissermaßen als Angriff auf die zionistische, also auf die jüdische Lösung der »Judenfrage«, die ja in Europa überhaupt erst entstanden war. Da ist kontrollierte Wut im Spiel: Israel benötigt Europa, nicht zuletzt weil es im Orient nicht zu Hause ist und sich als Brückenkopf Europas im Mittleren Osten versteht. Zugleich weigert es sich, sich das Menschenrechts-Verständnis Europas zu eigen machen – und damit auch die europäische Lösung der Palästina-Frage. Israels Tragik besteht darin, dass es sich für seine nationalstaatliche Existenz gezwungen sieht, die Gewaltordnung über die Palästinenser zu erhalten. KATAPULT: Barack Obama hat 2009 als erster Präsident der Vereinigten Staaten die Siedlungspolitik Israels als illegitim bezeichnet. Wie haben sich die Verbindungen zwischen Israel und den USA und weiteren Verbündeten in den letzten Jahren und Monaten verändert? Amar-Dahl: Die US-Regierungen hatten schon immer eine kritische Haltung zur jüdischen Besiedlung der palästinensischen Gebiete. Die offizielle US-Position war und ist die der Zweistaatenlösung. Barack Obama hat kurz nach seinem Amtsantritt seine ernste Absicht diesbezüglich angekündigt. Er gab sich auch mit Hilfe seines unermüdlichen Außenministers John Kerry große Mühe, ist aber bekanntlich gescheitert. Beobachter reden von einer und die palästinensische Hamas. Letztere ist zu einer zunehmend starken politischen und militärischen Macht in den palästinensischen Gebieten geworden. 2006 errang sie einen historischen Wahlsieg und übernahm die Macht im Gazastreifen infolge des israelischen Rückzugs im Jahr 2005. Kurzum: Den Iran als legitimen Gesprächspartner des Westens anzuerkennen, heißt für Israel auch, dessen Verbündeten in der Region zu stärken. Hier verknüpft sich der Iran mit Palästina. Die Hisbollah und die Hamas sind seit ihrer Gründung Anfang der 1980er Jahre Israels erklärte Feinde. Die zahlreichen bewaffneten Auseinandersetzungen der Jahre 1982 bis 1985, 1993, 1996, 2006 im Libanon und 2008/9, 2012 sowie 2014 im Gazastreifen sind Ausdruck dieser Feindschaft. Doch die Machtverhältnisse im Nahen Osten der letzten Jahre sind so dramatisch verschoben worden – vom Bürgerkrieg in Syrien bis hin zu den Anspannungen zwischen dem Iran und Saudi Arabien, ganz zu schweigen von der neuen Macht der Terrormiliz »Islamischer Staat« –, dass sich Israel gezwungen sieht, sich neu zu justieren. Die Hamas und die Hisbollah stellen noch immer eine Gefahr da, werden allerdings als kontrollierbare, weil berechenbare Kräfte, angesehen. Da darüber hinaus auch weitere globale Fragen – von der verheerenden Flüchtlingsfrage bis hin zum Klimawandel – die Welt quasi in Atem halten, hält die israelische Regierung an ihrem altbekannten Status quo fest. Die Weltlage ist allzu unruhig und unüberschaubar. Das ist keine gute Zeit für große Entscheidungen, die zumal innenpolitisch ohnehin nicht durchsetzbar wären. Doch die Palästina-Frage kann nicht auf sich warten lassen. Den Konflikt weiterhin politisch auszusitzen, bedeutet seine Eskalation. Israels traditionelle Haltung der Entpolitisierung des Konflikts beantworten die Palästinenser nun mit ihren Verzweiflungstaten. Wenn es nichts zu verhandeln gibt, wenn die Besatzung unaufhebbar ist, so kann das nur in Verzweiflung münden. Diese chaotische, nahezu willkürliche Gewalt geht den Israelis ganz schön an die Substanz, da sie überall auf der Straße, an der Bushaltestelle, in der Kneipe, im eigenen Haus stattfinden kann. Auf diese Gefahr haben die israelischen Sicherheitsbehörden keine überzeugende Antwort. Das Militär kann keinen Schutz bieten. Damit gerät eine der zentralen Säulen der israelischen Gesellschaft ins Wanken: Die Sicherheitsdoktrin der Abschreckung und der militärischen Stärke geht hier nicht auf. Das Militär kann keinen Schutz bieten. Der Mythos von Sicherheit als Leitmotiv der israelischen Politik verliert immer mehr an Gültigkeit. Das Resultat ist Ohnmacht, Verletzlichkeit, Verzweiflung und Angst. Der Iran erscheint dabei als entferntes Problem. KATAPULT: Kann sich die israelische Regierung noch sicher sein, im Kriegsfall durch seine Verbündeten ausreichend unterstützt zu werden? Amar-Dahl: »Sicher« wäre hier wohl zu viel gesagt. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass angesichts der Unruhen in der Region Israels Verbündete das Land im Kriegsfall alleine lassen würden. Dafür ist nicht nur die militärische Zusammenarbeit viel zu eng, sondern auch die historische Verbundenheit zu gut ausgeprägt. Was genau »Kriegsfall« heißt und ob Israel gerade militärisch auf seine Verbündeten angewiesen ist, bleibt dahingestellt. Meines Wissens ist die israelische Armee in der Lage, im Notfall einen Alleingang zu starten. Die Unabhängigkeit ist Bestandteil der israelischen Sicherheitsdoktrin. An Waffen und Erfahrung mangelt es dem israelischen Militär gewiss nicht. Für den Notfall besitzt es darüber hinaus unkonventionelle Waffen, die für eben diesen Zweck hergestellt wurden. Doch was nutzen all diese Kapazitäten, wenn die politischen Ziele, die diese militärische Stärke sichern soll, nicht erreichbar sind? Dem brennenden Palästina-Problem lässt sich kaum mit militärischen Mitteln Herr werden. Die Frage ist aber, ob Israel seine westlichen Verbündeten davon überzeugen kann, seine konfliktträchtige politische Ordnung weiterhin zu unterstützen. Daran wird sich wohl die Bereitschaft knüpfen, auch künftig Israel zur Seite zu stehen. Das Interview führte Benjamin Fredrich.