Fast 775.000 Babys kamen 2020 in Deutschland lebend zur Welt. Doch etwa vier Prozent der Schwangerschaften enden hierzulande anders: mit einer Fehl- oder Totgeburt. Das sind zumindest die offiziellen Zahlen. Die Wahrscheinlichkeit, jemanden zu kennen, der eine Fehlgeburt hatte, ist aber höher. Weltweit ist fast jede siebte Schwangere betroffen. Aber über das Thema wird kaum gesprochen, es ist offenbar tabu. Deshalb erhalten die Betroffenen nicht die Unterstützung, die sie brauchen. In der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet erschien kürzlich eine Serie wissenschaftlicher Beiträge, die das Thema Fehlgeburt in den Fokus nehmen. Zu lange sei es abgetan worden – der Stand der Forschung sei schockierend, so die Herausgeber:innen. Viel zu oft werde Betroffenen einfach nur geraten, es noch einmal zu versuchen. Dabei bräuchten sie in ihrer Situation vor allem Unterstützung und medizinische Behandlung. Denn Fehlgeburten können ernsthafte Gesundheitsprobleme nach sich ziehen: von höheren Risiken für Herz-Kreislauf-Erkrankungen bis hin zu psychischen Krankheiten. Grafik herunterladen Wieso weiß niemand, wie viele Fehlgeburten es gibt? Die Statistiken zu Fehlgeburten errechnet das Robert-Koch-Institut aus Zahlen des Statistischen Bundesamtes, der Krankenhausstatistik und anhand von Berechnungen der natürlichen Bevölkerungsbewegung. Die aktuellsten Zahlen stammen aus dem Jahr 2017. Demnach kommen in Deutschland auf 1.000 Geburten etwa 40 Fehlgeburten. Die meisten davon ereignen sich innerhalb der ersten drei Schwangerschaftsmonate, danach sinkt die Wahrscheinlichkeit. Am häufigsten tritt der sogenannte Spontanabort auf: Der Fötus stirbt plötzlich, noch vor der 20. Schwangerschaftswoche. Meist bemerken Betroffene das durch starke Blutungen. Ebenfalls häufig ist der verhaltene Abort. Dabei stirbt der Fötus im Mutterleib, ohne dass er anschließend von der Gebärmutter abgestoßen wird. Er kann deshalb über einige Wochen unentdeckt bleiben. Weil viele Fehlgeburten in sehr frühen Schwangerschaftswochen aber nicht klinisch behandelt werden, erscheinen sie nicht in den offiziellen Statistiken. Sie werden oft als unregelmäßige Blutungen gedeutet. Zudem müssen Fehlgeburten – anders als Totgeburten – auch nicht gemeldet werden. Somit hat das Robert-Koch-Institut eigentlich keine exakten Informationen über die Zahl der Fehlgeburten. Das deutsche Recht unterscheidet zwischen Fehl- und Totgeburt: Als tot geborenes Kind gilt das leblose Embryo beziehungsweise der Fötus, wenn das Geburtsgewicht über 500 Gramm liegt oder die 24. Schwangerschaftswoche erreicht wurde. Ist die sogenannte Leibesfrucht leichter und vor diesem Zeitpunkt gestorben, spricht der Gesetzgeber von einer Fehlgeburt. Eine solche ist rein rechtlich gesehen keine Entbindung. Ein Problem dabei: Gebärende haben nach einer Fehlgeburt keinen Anspruch auf Mutterschutz. Einzig der besondere Kündigungsschutz greift, wenn Betroffene die Fehlgeburt ab der zwölften Woche erleiden. Das bedeutet, dass ihnen vier Monate nicht gekündigt werden darf. Wenn sie nach einer Fehlgeburt ärztliche Behandlung brauchen, müssen sie sich jedoch krankschreiben lassen. Die Entgeltfortzahlung übernimmt dann die Krankenkasse. Bei einer Totgeburt hingegen gilt, wie bei der Entbindung eines lebenden Kindes, der Mutterschutz. So beträgt die Schutzfrist, während derer die Mutter nicht beschäftigt werden darf, mindestens acht Wochen. Zeit, die auch zur Verarbeitung des Erlebten gut ist. Grafik herunterladen 50 Prozent bekommen schwere Depressionen Die möglichen Gründe für eine Fehlgeburt sind vielfältig. Sie kann hormonell ausgelöst werden oder durch fehlgesteuerte Reaktionen des Immunsystems. Auch genetische Ursachen oder Infektionen können eine Fehlgeburt hervorrufen. Risikofaktoren sind zudem Rauchen, starkes Über- und Untergewicht, Alkohol, hohes Alter und bereits erlittene Fehlgeburten. Auch Umwelteinflüsse könnten Risikofaktoren sein, obwohl die Forschung bisher noch keinen eindeutigen Zusammenhang festgestellt hat. Die Datenlage zu Fehlgeburten müsse insgesamt verbessert werden, so die Forschenden der Lancet-Studien, um die Risiken und auch die Folgen für Betroffene besser einschätzen zu können. Denn es gibt viele Auslöser, und manchmal kommen mehrere zusammen. Bei den meisten Betroffenen werden aber erst dann weitergehende medizinische Untersuchungen vorgenommen, wenn sie mehrere Fehlgeburten hatten. Überwiegend erleben Betroffene eine Fehlgeburt zwar »nur« einmal, aber zwei von hundert Frauen auch zweimal und eine von hundert noch öfter. Aber alle, die eine Fehlgeburt hatten, sind stärker gefährdet, Schlaganfälle, Thrombosen und Herzerkrankungen zu bekommen. Die Forschenden fordern nicht nur eine bessere medizinische Ursachenforschung, sondern auch eine intensivere psychologische Betreuung. Denn Studien zeigen, dass jede zweite Person noch bis zu drei Monate nach einem Abort unter schweren Depressionen leidet. Jede vierte Betroffene bekommt Angststörungen. Der aktuelle Forschungsbericht zeigt, dass neun Monate später immer noch jede fünfte eine posttraumatische Belastungsstörung durchlebt. Das Suizidrisiko steigt fast um das Vierfache. Und eines erwähnen die Forschenden des britischen Lancet auch: Eine Fehlgeburt erzeugt hohe Kosten. Im Vereinigten Königreich beläuft sich die jährliche volkswirtschaftliche Belastung auf rund  550 Millionen Euro, beispielsweise in Form von Sozialversicherungsleistungen. Grafik herunterladen Warum Schwarze stärker betroffen sind Ihre Datenanalyse von fast fünf Millionen Schwangerschaften in den USA, Kanada, Norwegen, Schweden, Dänemark und dem Vereinigten Königreich zeigte auch: Das Risiko einer Fehlgeburt ist für Schwarze Frauen um über 40 Prozent höher als für weiße. Neu ist das nicht. Eine Studie belegte bereits 2013, dass Schwarze in den USA häufiger Fehlgeburten erleiden als Weiße. Zwischen den Schwangerschaftswochen zehn und zwanzig war das Risiko für schwarze Schwangere sogar doppelt so hoch. Die Untersuchung zeigte, dass dies eindeutig daran lag, dass die Betroffenen schwarz waren. Denn zusätzliche Faktoren, die eine Fehlgeburt begünstigen, wie hoher Alkoholkonsum oder zu rauchen, waren bei schwarzen und weißen Untersuchten gleich verteilt. Einer der Gründe für das höhere Fehlgeburtsrisiko: Schwarze sind seltener in die Gesundheitsversorgung integriert, erklärt Siobhan Quenby, eine der Studienautor:innen. Die weiteren Gründe sind vielschichtiger. So hätten Schwarze Menschen etwa ein höheres Risiko, Typ-2-Diabetes oder Herzkrankheiten zu bekommen. Beides könne das Risiko einer Fehlgeburt erhöhen, so Quenby. Doch auch hier gelte: Ohne ausreichende Forschung bleibe viel Raum für Spekulationen. Solche Forschungslücken in Bezug auf schwarze Frauen bestehen übrigens auch in anderen medizinischen Bereichen: Eine US-Studie aus dem Jahr 2019 belegte beispielsweise, dass auch die Müttersterblichkeit bei Schwarzen dreimal höher liegt als bei Weißen. Warum das so ist, ist noch nicht hinreichend erforscht. Grafik herunterladen Keine Krankheit, also auch keine Krankschreibung Auch politisch findet das Thema nur langsam größere Berücksichtigung. Erst seit 2013 können Eltern bei einer Fehlgeburt eine standesamtliche Urkunde für ihr verlorenes Kind beantragen, wenn sie das möchten. Das gibt ihnen die Möglichkeit, ihm einen Namen und eine offizielle Existenz zu geben, und so das Erlebte besser zu verarbeiten. Zuvor war das bei totgeborenen Kindern unter 500 Gramm Gewicht nicht möglich. Zwar werden sie nicht in das Personenstandsregister eingetragen, das heißt als Geborene und Verstorbene registriert, dennoch soll diese Regelung einen würdigen Umgang mit den sogenannten Sternenkindern ermöglichen. Ihre Bestattung ist in den Bundesländern unterschiedlich geregelt und mitunter wenig rücksichtsvoll: So haben Eltern in Bremen kein Recht auf eine Bestattung, wenn das Kind vor der zwölften Woche gestorben ist. In allen anderen Bundesländern hingegen besteht für Eltern diese Möglichkeit. Auch die Bestattungspflicht ist nicht einheitlich. In Baden-Württemberg und Bayern beispielsweise müssen Totgeborene ab einem Gewicht von 500 Gramm bestattet werden, in Hamburg oder Berlin erst ab dem doppelten Gewicht. Angesichts der psychischen Belastungen, die eine Fehlgeburt mit sich bringt, wirken solche Gesetze, die sich etwa auf Gewichtsangaben beziehen, ziemlich technisch. Das Empfinden der Eltern spielt dann offenbar eine untergeordnete Rolle. Zwar geht jede:r mit dem Erlebnis anders um, dennoch brauchen Eltern aber vor allem Zeit, die Fehlgeburt zu verarbeiten. Viele Betroffene sprechen nicht darüber. Viele fühlten sich schuldig und alleingelassen, so die Forschende Quenby und ihre Mitautor:innen. Was aber fehlt, ist die offene Auseinandersetzung mit dem Thema, sowohl gesellschaftlich als auch wissenschaftlich. Intensivere Forschung kann dazu beitragen, dass Ursachen einer Fehlgeburt besser aufgeklärt werden. Betroffene müssten nach Fehlgeburten ein klares Versorgungsmodell erhalten, das ihren Gesundheitszustand einschätzt und auch Unterstützung für zukünftige Schwangerschaften enthält. Mehr Forschung kann dazu beitragen, dass Betroffene nach einer Fehlgeburt bessere Hilfe bekommen, beispielsweise durch psychologische Betreuung. So würden sie weniger alleingelassen. Und schlussendlich kann auch die Politik die Situation verbessern: etwa mit gesetzlich geregelten freien Tagen nach einer Fehlgeburt. Die gibt es etwa in Neuseeland. Seit März 2021 steht betroffenen Paaren dort nach einer Fehlgeburt ein bezahlter Urlaub zu. Zwar handelt es sich nur um drei Tage, aber es ist ein wichtiges Zugeständnis. Ginny Andersen, Mitglied des Repräsentantenhauses, erklärte: »Die Trauer, die mit einer Fehlgeburt einhergeht, ist keine Krankheit, sondern ein Verlust, und dieser Verlust braucht Zeit.« Nur eine Handvoll weiterer Länder gewährt Betroffenen nach einer Fehlgeburt bezahlten Urlaub: In Indien beispielsweise sind es sechs Wochen. Grafik herunterladen Aktuelle Ausgabe KATAPULT ist gemeinnützig und unabhängig. Wir finanzieren uns durch Spenden und Abos. 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