Zwischen 2014 und 2019 ließ die indische Regierung offiziellen Angaben zufolge rund 110 Millionen Toiletten bauen. In mehr als einer halben Million Ortschaften, vor allem in den ländlichen und oft armen Regionen Indiens, muss sich nun niemand mehr im Freien erleichtern. Das betrifft etwa eine halbe Milliarde Menschen. Zuvor musste man vielerorts auf die Felder gehen oder Kanäle, Büsche oder Wälder aufsuchen. Zwar handelt es sich bei den neuen Toiletten vor allem um trockene Plumpsklos und Latrinen, allerdings stellen diese trotzdem eine deutliche Verbesserung der sanitären Versorgung dar. In nur fünf Jahren ist in Indien durch das Regierungsprogramm der Anteil der Menschen, die eine eigene Toilette benutzen können, von 39 Prozent auf nahezu 100 Prozent gestiegen. Bereits seit den 50er-Jahren gab es immer wieder Versuche, die Anzahl der Toiletten im Land zu erhöhen. Die aktuelle Kampagne mit Namen Swachh Bharat Mission, zu Deutsch »Mission Sauberes Indien«, ist – gemessen an der Zahl der errichteten Toiletten – die bisher umfangreichste der Welt. Doch die Bemühungen um eine bessere sanitäre Versorgung ist dabei nicht nur eine Frage von Luxus. Kein Klo zu haben, birgt auch enorme Gesundheitsrisiken. Durch den Bau sanitärer Anlagen können Krankheiten eingedämmt und verhindert werden. Denn die Hauptursache etwa für Typhus, Cholera, Hepatitis und diverse Durchfallerkrankungen sind mangelnde Hygiene und verunreinigtes Wasser. Grafik herunterladen Sanitäre Anlagen sind außerdem ein wirksames Mittel gegen Unterernährung und Unterentwicklung. Das zeigt eine von der indischen Regierung in Auftrag gegebene Studie aus dem Jahr 2017. Sie vergleicht Orte, in denen alle Einwohner:innen eine Toilette hatten, mit Orten, wo es nicht so war. In ersteren waren 28 Prozent der Kinder unterernährt, in letzteren mehr als 40 Prozent. Auch auf die Gesundheit der Erwachsenen hat die Toilettensituation einen positiven Einfluss. Der Anteil untergewichtiger Frauen war in Orten ohne flächendeckende sanitäre Versorgung knapp zehn Prozentpunkte höher als in Orten, wo alle Zugang zu Toiletten hatten. Mehr Toiletten, weniger sexuelle Übergriffe Der Bau sanitärer Anlagen hat zudem positive soziale Effekte. So tragen sie zu mehr Sicherheit, Komfort und Selbstachtung insbesondere von Frauen bei. Das ergab eine Befragung der Organisation Sambodhi Research and Communications unter rund 7.000 Frauen und knapp 1.300 Männern, wie sich eine eigene Toilette auf ihr Leben auswirkt. Die Ergebnisse zeigen eindeutige Verbesserungen im Vergleich zur Situation davor. Neun von zehn weiblichen Befragten sagten, dass sie jetzt keine Angst mehr hätten, nachts ihr Geschäft verrichten zu müssen – zuvor war es genau umgekehrt. Früher hätten die Frauen den nächtlichen Toilettengang deshalb vermieden. Dafür aßen und tranken sie ab nachmittags fast nichts mehr. Für die allermeisten sei das nun aber nicht mehr nötig. Die Studie zeigte auch, dass sanitäre Anlagen das Selbstwertgefühl von Frauen gesteigert hat. Die meisten gaben an, stolz darauf zu sein, nun eine Toilette zu besitzen, und jetzt gern Nachbar:innen oder Familie zu sich einladen würden. Andere Studien zeigen überdies, dass fehlende Toiletten auch einen Bildungsnachteil für Mädchen bedeuten. Die Zahlen variieren, aber nicht wenige bleiben während ihrer Periode der Schule fern, denn die Menstruation ist in Indien oft noch mit einem Tabu belegt. Fehlen sanitäre Einrichtungen, etwa zum Wechseln von Hygieneartikeln, verschärft das die Situation. Grafik herunterladen Aber auch die befragten Männer gaben an, vom Swachh-Bharat-Programm zu profitieren. Sambodhi ermittelte, wie weit Menschen täglich zur nächste Toilette laufen mussten. Das Ergebnis: Vor der Kampagne war mehr als die Hälfte der Männer mehr als 30 Minuten unterwegs, um sich erleichtern zu können. Und das war nur der Hinweg. Vier Prozent der männlichen Befragten brauchten für einen Weg sogar mehr als eine Stunde. Da das nächste Klo nun buchstäblich um die Ecke steht, kann diese Zeit anderweitig verbracht werden, etwa mit Freizeit, Essen und Schlafen. Zwei Forscherinnen haben die Auswirkungen des Programms auf die Häufigkeit sexueller Übergriffe auf und Vergewaltigungen von Frauen untersucht. Sie kommen zu dem Schluss, dass durch den Bau der Toiletten 25 Fälle sexuellen Übergriffs je eine Million Einwohnerinnen verhindert werden können. Gerechnet auf die betroffene Bevölkerungszahl sind das 15.117 Fälle weniger. Das wiederum wirke sich nicht nur positiv auf das Sicherheitsgefühl von Frauen aus, sondern komme auch der Gesellschaft im Allgemeinen zugute. Denn es würden Kosten für die polizeiliche Aufklärung solcher und ähnlicher Fälle eingespart und Gesundheitsausgaben verringert, weil weniger Betroffene sexueller Übergriffe behandelt werden müssen. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass weltweit jeder Dollar, der für sanitäre Anlagen ausgegeben wird, einer Volkswirtschaft 5,50 Dollar einbringt. Grafik herunterladen Schlecht gebaut und ungewohnt Während das weltgrößte Bauprojekt sanitärer Anlagen im Ausland überwiegend positiv bewertet wird, gibt es auch Kritik. So fördere es Jobs mit schlechten Arbeitsbedingungen, nämlich jener Menschen, die die Toiletten sauber halten oder, je nach Bautyp, für das Abpumpen der Fäkalien verantwortlich sind. Geringe Jobsicherheit, schlechte Bezahlung, das Fehlen von Gewerkschaften und das erhöhte Gesundheitsrisiko sind nur einige Aspekte, die Indiens Regierung zusätzlich verbessern müsste, heißt es in einer Studie der Organisation Participatory Research in Asia. Zudem habe gerade die Corona-Pandemie zu einem schlechten Zustand der Latrinen beigetragen. Kaputte Rohre, Türen und Dächer und eine fehlende Instandhaltung sorgten dafür, dass viele Menschen faktisch wieder keine Toilette hätten. Darüber hinaus sind rund 120.000 wasserbetriebene Toiletten von Wasserknappheit betroffen. Indische Medien berichten immer wieder darüber, dass die neuen Toiletten teilweise schon Wochen nach ihrer Errichtung defekt oder unbrauchbar geworden sind Dass viele Klos schlecht konstruiert sind oder an ungünstigen Standorten liegen, zeigt sich besonders während der Monsunzeit zwischen Juni und September. Die starken Regenfälle führen nicht selten zu Überflutungen, wodurch Fäkalien einfach vom Flusswasser mitgeschwemmt werden – schlecht für die ohnehin stark belasteten Flüsse. Betroffen ist insbesondere der nordöstliche Bundesstaat Bihar, der zugleich der ärmste des Landes ist. Durch das Programm wurden zwar viele Toilettenhäuser errichtet, die bauliche Qualität aber nicht sichergestellt. Indische Medien berichten immer wieder darüber, dass die neuen Toiletten teilweise schon Wochen nach ihrer Errichtung defekt oder unbrauchbar geworden sind. Der Ständige Ausschuss des Ministeriums für ländliche Entwicklung stellte zudem fest, dass die Regierung auch nichtfunktionierende Toiletten in ihre Erfolgsstatistiken einrechnet. Grafik herunterladen Ein weiterer Kritikpunkt an der Swachh-Bharat-Mission ist der Umgang mit Fördergeldern. So kam nicht das volle Budget in Höhe von 28 Milliarden US-Dollar bei der Bevölkerung an, auch nicht in Form sanitärer Anlagen. Im Bundesstaat Madhya Pradesh verschwand beispielsweise das Geld für eine knappe Million Toiletten. Bis heute ist unklar, wohin die Gelder flossen. Viele im ohnehin schon von Korruption geplagten Land verdächtigen Regierungsangestellte. Denn ein großer Teil des Budgets stammt nicht direkt aus dem eigenen Haushalt, sondern wurde beispielsweise von der Uno beigesteuert. Diese versucht damit, das Menschenrecht auf Sanitärversorgung zu fördern. Hinzu kommt, dass Menschen die Benutzung fester Toiletten mitunter gar nicht gewöhnt sind, ihren Nutzen nicht erkennen und daher doch lieber im Freien defäkieren. Das Verhalten ändere sich nur langsam. So zeigte eine regierungsunabhängige Untersuchung aus dem Jahr 2019, dass sich noch immer fast ein Viertel der Menschen aus Haushalten mit Latrinen im Freien erleichtert. Saubere Flüsse retten Leben Während die erste Phase des Programms, zu der neben dem eigentlichen Toilettenbau auch die Aufklärung gehört, noch nicht als abgeschlossen bezeichnet werden kann, läuft seit 2020 bereits Phase II. Diese soll bis 2025 nicht nur das Erreichte sichern, sondern vor allem die Fäkalienentsorgung und die Wasseraufbereitung sowie -versorgung verbessern. Aktuell werden in Indien nur 28 Prozent der Abwässer aufbereitet. Die Zahlen schwanken allerdings von Bundesstaat zu Bundesstaat sehr stark. Phase II soll nicht nur mehr Trinkwasser bringen, sondern auch den Schadstoffeintrag in die Natur verringern. Das ist umso relevanter, als etwa Flüsse von der Bevölkerung intensiv genutzt werden. Im Ganges beispielsweise landen jeden Tag 2,9 Milliarden Liter Abwasser. Sie machen ihn zu einem der dreckigsten Flüsse der Erde. 80 Prozent der Gesundheitsprobleme in Indien sind auf verschmutztes Wasser zurückzuführen Dabei sind 80 Prozent der Gesundheitsprobleme in Indien auf verschmutztes Wasser zurückzuführen. Eine Untersuchung in der Stadt Varanasi am Ganges zeigt: Zwei Drittel derer, die das Wasser des Flusses nutzen, infizieren sich jedes Jahr mit schweren Krankheiten wie Typhus oder Cholera. Nicht selten endet das tödlich, besonders für Kinder. Die Swachh-Bharat-Mission könnte die Situation verbessern. Grafik herunterladen Bau sanitärer Anlagen weltweit müsste viermal so schnell gehen Auch die globale Entwicklung sanitärer Anlagen hat sich in den letzten Jahren stark verbessert: Zwischen 2000 und 2020 ist der Anteil derer, die ihre Notdurft im Freien verrichten müssen, von 21 auf sechs Prozent gesunken. Dies betrifft gut 800 Millionen Menschen, die nun über eine bessere sanitäre Versorgung verfügen. Außerdem hatte 2020 mehr als die Hälfte der Menschheit die bestmögliche Sanitärversorgung: Sie können sich die Hände waschen, ihre Toiletten sind privat und die Ausscheidungen werden sicher aufbereitet, gelangen also nicht ungeklärt in die Umwelt. Auf der anderen Seite müssen noch immer über vier Milliarden Menschen ohne diese Art der sanitären Versorgung auskommen. Fast die Hälfte davon lebt nicht einmal mit einer einfachen Sanitärversorgung. Das heißt, ihre Fäkalien gelangen ungeklärt in Flüsse oder das Meer. Auch Händewaschen ist nicht gesichert möglich. Schätzungen des Bundesentwicklungsministeriums zufolge würden jedes Jahr 2,2 Million Kinder weniger sterben, wenn sie sich die Hände waschen könnten. Sanjay Wijesekera, Direktor des Wasser-, Sanitäranlagen- und Hygieneprogramms von Unicef, drückt es drastisch aus: »Wenn täglich 90 Schulbusse mit Kindergartenkindern tödlich verunglückten, dann würde das die Welt bewegen. Aber genau das passiert jeden Tag aufgrund von Defiziten bei Wasserqualität, sanitären Anlagen und Hygiene.« Die Uno warnt, dass das derzeitige Tempo beim Bau sanitärer Anlagen vervierfacht werden muss, wenn das Ziel der flächendeckenden Sanitärversorgung bis 2030 erreicht werden soll. Verschiedene Programme arbeiten daran. Die Swachh-Bharat-Mission und ähnliche Kampagnen sind – trotz aller Schwierigkeiten – ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Aktuelle Ausgabe KATAPULT ist gemeinnützig und unabhängig. Wir finanzieren uns durch Spenden und Abos. 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