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Prähistorische Geschlechterforschung

Sie finden, was sie kennen

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Sie forschen in einem noch relativ jungen, unbekannten Wissenschaftsbereich, der prähistorischen Geschlechterforschung, die das Zusammenleben der Geschlechter in der Urgeschichte untersucht. Was motivierte Sie dazu?

Mich interessiert, wie Menschen in der Urgeschichte gelebt haben. Dazu gehören auch die Geschlechterverhältnisse. Außerdem wurde ich immer wieder gefragt, ob es ein Matriarchat in der Urgeschichte gab. Da dieses Thema in der Gesellschaft nachgefragt wird, habe ich zusammen mit Kolleginnen ein Forschungsprojekt dazu durchgeführt und ein Buch geschrieben.

Während der Arbeit an diesem Buch wurde mir klar, dass es zu eng gefasst ist, nur die Frauen zu betrachten. Man kann nur etwas über die Lebensbedingungen von Frauen erfahren, wenn man auch die der Männer in den Blick nimmt und umgekehrt.

Wie es wirklich gewesen ist, kann die Geschichtsforschung nicht herausfinden

War es zu Urzeiten wirklich so, dass der Mann auf die Jagd ging und die Frau in der Höhle blieb und sich um die Kinder kümmerte?

Die Frage impliziert die Erwartung, dass die Geschichtsforschung, zu der auch die Archäologie gehört, herausfinden könne, »wie es wirklich gewesen ist«. Aber das ist eine zu hohe Erwartung. Für die urgeschichtlichen Gesellschaften haben wir eine lückenhafte Quellenlage, die materielle Hinterlassenschaften umfasst, die dem Zahn der Zeit widerstanden haben – also beispielsweise Keramikscherben, Tierknochen oder Reste von Häusern. Über bestimmte Themen – zum Beispiel die Ernährungsweise, den Hausbau oder die Eingriffe der Menschen in ihre Umwelt – wissen wir relativ gut Bescheid.

Andere Aspekte, die keinen oder keinen eindeutig interpretierbaren materiellen Niederschlag gefunden haben, sind hingegen kaum zu rekonstruieren. Dazu gehören unter anderem weltanschauliche Konzepte oder die Frage nach der Existenz von Gottheiten. Die Lücken in der Quellenlage werden zum Teil mit Analogieschlüssen überbrückt, das heisst durch Rückschlüsse vom Bekannten auf das Unbekannte.

Was uns gänzlich fremd ist, können wir nicht deuten. Wir sind in unserer eigenen Welt, unseren eigenen kulturellen Konzepten gefangen – trotz aller Reflexionsbemühungen

Das Problem dabei ist: »Sie fanden, was sie kannten!« Anders gesagt: Was wir nicht kennen, können wir nicht erkennen. Was uns gänzlich fremd ist, können wir nicht deuten. Wir sind in unserer eigenen Welt, unseren eigenen kulturellen Konzepten gefangen – trotz aller Reflexionsbemühungen. Deshalb werden wir uns immer ein Stück weit in den urgeschichtlichen Befunden spiegeln und schon allein deshalb nie mit Sicherheit wissen können, wie es »wirklich« gewesen ist.

In der verbreiteten Vorstellung, dass Männer gejagt und Frauen sich um die Kinder und den Haushalt gekümmert hätten, spiegeln sich die traditionellen Geschlechterrollen unserer Gesellschaft wider, die dem Mann die Rolle des Ernährers, der Frau die Rolle der Hausfrau und Mutter zuschreiben. Ob das wirklich so war, ist weder mit letzter Sicherheit zu beweisen noch zu widerlegen, denn einem Speer sieht man nicht an, ob er von einer Frau oder einem Mann geschleudert wurde. Aufschlussreicher sind hier die Verletzungsmuster von Skelettresten aus der Altsteinzeit. Sie sind für Männer und Frauen gleich. Das heißt, dass sie ähnlichen Verletzungsrisiken ausgesetzt waren, vermutlich also ähnliche Tätigkeiten ausgeübt haben. Dieser Befund spricht gegen die Annahme, dass nur Männer jagten. Ob sich Männer und Frauen gleichermaßen um die Kinder kümmerten, muss offenbleiben, denn Kinderbetreuung hinterlässt keine Spuren am Skelett.

Für 2,5 Millionen Jahre stabile Geschlechterverhältnisse anzunehmen, ist aus kultur- und sozialwissenschaftlicher Perspektive geradezu absurd

Gab es überhaupt eine feste Geschlechterrollenverteilung, wie sie später angenommen und teilweise gelebt wurde?

Die Menschheitsgeschichte umfasst 2,5 Millionen Jahre. In dieser unvorstellbar langen Zeit haben sich die Lebensbedingungen immer wieder tiefgreifend verändert. In Analogie zur jüngeren Geschichte und zur Gegenwart können wir auch für die Urgeschichte annehmen, dass sich mit den Lebensverhältnissen jeweils auch die Geschlechterrollen veränderten und dass es eine große Vielfalt an Geschlechterrollen gab. Für 2,5 Millionen Jahre stabile Geschlechterverhältnisse anzunehmen, ist aus kultur- und sozialwissenschaftlicher Perspektive geradezu absurd.

Lange Zeit leben wir nun schon im Patriarchat, in dem der Mann eine bevorzugte Stellung in der Gesellschaft einnimmt. War das auch in der Urgeschichte so oder herrschte irgendwann einmal das Matriarchat?

Das Problem ist, dass Geschlechterhierarchien allein auf Basis archäologischer Quellen nicht bewiesen werden können. Alle bisherigen Ansätze sind problematisch.

So sagen Unterschiede im Reichtum der Grabausstattungen von Männern und Frauen nicht zwingend etwas über Geschlechterhierarchie aus. Auch die Ansätze über den Fleischanteil an der Ernährung und die körperliche Belastung, die sich unter anderem an Verschleißerscheinungen am Skelett zeigt, bringen keine sicheren Indizien. Und auch die alt- und jungsteinzeitlichen Frauenstatuetten, die von der Matriarchatsforschung als Belege für die Vorrangstellung der Frauen angeführt werden, haben keine Beweiskraft, denn es ist keineswegs zwingend, dass sie ausschließlich Göttinnen darstellen. Außerdem sind sie zeitlich und geographisch so punktuell verbreitet, dass es auch vor diesem Hintergrund nicht überzeugend ist, sie als Belege für eine weltweite matriarchale Epoche der Menschheitsgeschichte zu werten.

Schließlich kann man grundsätzlich fragen, ob das von der Matriarchatsforschung vertretene Konzept, dass entweder die Frauen oder die Männer in einer Gesellschaft in allen Bereichen und auf allen Ebenen die Macht haben und dominieren, sinnvoll ist. Ich finde da eine sozialwissenschaftliche Perspektive wesentlich produktiver, die davon ausgeht, dass es in Gesellschaften diverse Machtfelder gibt, die von den Geschlechtern besetzt werden. Das geschieht durch dynamische Aushandlungsprozesse, unter Umständen sogar über handfeste Machtkämpfe. Das kann immer wieder zu neuen Machtkonstellationen führen, die im weiten Feld zwischen den Polen Matriarchat und Patriarchat liegen.

War die heterosexuelle Zweierbeziehung wirklich die Norm?

Angesichts der historisch belegten und der aktuellen Vielfalt von Beziehungsformen und Formen des sexuellen Begehrens wohl kaum.

Die Frage nach dem Familienleben stößt an Grenzen, weil Familie keine biologische Tatsache, sondern in erster Linie ein kulturelles Konzept ist

Wie sahen Alltag und Familienleben in der Steinzeit aus?

Wir wissen recht gut darüber Bescheid, wie der Alltag organisiert war, konkret welche Tätigkeiten tagtäglich ausgeübt wurden. Kaum zu beantworten sind dagegen Fragen wie: Wer hat sie ausgeübt? Wer hat einen Gegenstand hergestellt und wer hat ihn benutzt?

Auch die Frage nach dem Familienleben stößt an Grenzen, weil Familie keine biologische Tatsache, sondern in erster Linie ein kulturelles Konzept ist, was man beispielsweise an Regenbogenfamilien nachvollziehen kann. Das heißt, es kommt wesentlich darauf an, ob Menschen sich als Familie fühlen. Und an diese Ebene kommen wir für urgeschichtliche Gesellschaften, die keine schriftlichen Selbstzeugnisse hinterlassen haben, nicht heran. Dafür können wir andere Dinge herausfinden: zum Beispiel, dass Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft unter einem Dach zusammengelebt haben. Aber ob sie sich als Familie oder als verwandt betrachtet haben, können wir nicht sagen.

Insofern sollte man sich davor hüten, die – falsche – Vorstellung, dass die biologische Kernfamilie mit dem Mann als Ernährer und der Frau als Gattin, Mutter und Hausfrau in allen Gesellschaften der Normalfall ist, auf die Urgeschichte zu übertragen. Ebenfalls nicht übertragen kann man heutige Geschlechter- oder Altersstereotype, also zum Beispiel, dass Frauen gekocht, Männer die Häuser gebaut und Kinder nur gespielt und nicht substantiell mitgearbeitet haben. Das belegen unter anderem Befunde aus dem eisenzeitlichen Salzbergwerk von Hallstatt und die Skelettreste der Menschen, die in den Bergbau involviert waren und in der Nähe bestattet wurden. Sie zeigen, dass bereits Fünfjährige und Frauen im Berg gearbeitet haben.

Aus welchen Befunden ziehen Sie Ihre Schlussfolgerungen?

Die sterblichen Überreste sind der unmittelbarste Zugang zu den Lebensverhältnissen. Wir sprechen von der Plastizität des Körpers: Damit ist gemeint, dass sich die Lebensverhältnisse – beispielsweise Gesundheitszustand, Erkrankungen, Ernährung, Gewalterfahrungen, Ortswechsel oder auch häufig ausgeübte Tätigkeiten – in den Körper einschreiben, indem sie das Skelett so charakteristisch verändern, dass man sie noch nach Jahrtausenden rekonstruieren kann. Für die Geschlechterforschung birgt die Plastizität des Körpers also ein riesiges Erkenntnispotential. Archäologie und Anthropologie, die die körperlichen Überreste der Menschen untersucht, arbeiten hier eng zusammen.

Unser traditionelles Modell vom Mann als Ernährer und der Frau als Hausfrau, Gattin und Mutter, ist eine Idealvorstellung, die sich im 18. und 19. Jahrhundert entwickelte

Wann und warum entwickelten sich unsere heute gängigen Geschlechterstereotype? Was verursachte diese Entwicklung?

Aus nahezu allen historischen und modernen Gesellschaften sind vielfältige Geschlechterrollen und unterschiedliche Formen der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern bekannt. Aber unser traditionelles Modell vom Mann als Ernährer und der Frau als Hausfrau, Gattin und Mutter, das wir für urmenschlich halten, ist eine Idealvorstellung, die sich im 18. und 19. Jahrhundert mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft entwickelte, die die Ständegesellschaft ablöste.

Im Rahmen dieses tiefgreifenden Veränderungsprozesses kam es auch zu einer Neuformierung der zentralen sozialen Institutionen, das heißt des Familien-, des Geschlechter- und des Generationenmodells. Obwohl diese neuen sozialen Konzepte nicht einmal von allen Familien im Bürgertum, geschweige denn in der Arbeiterschaft oder in bäuerlichen Milieus gelebt werden konnten, wurden sie zum vorherrschenden gesellschaftlichen Ideal. Weil diese Vorstellungen von den Grundformen des sozialen Zusammenlebens als allgemein menschlich und ursprünglich gelten, wirken sie bis heute nach. Und so wird dieses Geschlechter-, Familien- und Generationenmodell auch für die Urgeschichte vorausgesetzt. Archäologische Befunde wie die vom Salzbergwerk von Hallstatt widersprechen diesen Vorstellungen und sind eine Erinnerung daran, dass man nicht projizieren, sondern forschen sollte.

Was halten Sie von aktuellen gesellschaftlichen Zeitdiagnosen wie der »Krise des Mannes« oder »Feminismus ist heute überholt«?

Sie sind sehr plakativ. Insbesondere die Behauptung, Feminismus sei heute überholt, kann ich angesichts Lohnungleichheit, der nach wie vor überwiegend männlich besetzten Führungspositionen et cetera nicht nachvollziehen.

Müssen sich heute nicht vielmehr beide Geschlechter von Stereotypen emanzipieren?

Unbedingt!

Was können wir aus Ihren Befunden für das Geschlechterverhältnis, das gesellschaftliche Bild, das Männer und Frauen heute von sich haben, lernen?

Wenn man aus der Urgeschichte über das Thema Geschlecht etwas lernen kann, dann ist das die Relativität und historische Bedingtheit der eigenen Wahrheiten und Gewissheiten. Dann können wir uns von den teils sehr überraschenden Ergebnissen der archäologischen Geschlechterforschung produktiv irritieren lassen und so neue Horizonte und Gestaltungsspielräume für die laufenden gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse öffnen. Feste Geschlechterrollen, die seit Urzeiten bestanden haben, sind Jäger- und Sammlerinnenlatein. Davon sollten wir uns verabschieden.

Das Interview führte Annemarie Bierstedt.

Dieser Beitrag erschien in der sechsten Ausgabe von KATAPULT. Unterstützen Sie unsere Arbeit und abonnieren Sie das gedruckte Magazin für nur 19,90 Euro im Jahr.

Autor:innen

Universität Basel

Forschungsschwerpunkte
Sozial-, Geschlechter- und Kindheitsgeschichte
Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft und Ur- und Frühgeschichte
Archaisierung sozialer Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft

2014 und 2015 war sie an der Ausstellung „Ich Mann. Du Frau. Feste Rollen seit Urzeiten?“ in Freiburg im Breisgau beteiligt.

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