In der englischsprachigen Medienwelt gab es Anfang des Jahres 2015 ein enormes Echo auf eine Studie, die in der zweiten Januarwoche erschienen war. Unter der Leitung des Computerspezialisten Peter Dodds verfassten ganze 14 Wissenschaftler einen kurzen Artikel, dessen Titel man im Deutschen mit »Menschliche Sprache offenbart eine universelle Tendenz zum Guten« wiedergeben könnte. Was soll das heißen? Gut 100 Jahre zuvor war in Amerika ein Kinderbuch erschienen: der 1913 von Eleanor Hodgman Porter verfasste Roman »Pollyanna«, in dem die Protagonistin, das Mädchen mit ebendiesem Namen, dazu neigt, in einer schlechten Umwelt stets nur Gutes zu erwarten oder wahrzunehmen. Diese Haltung wurde dann 1969 zur Namensgeberin eines Ansatzes der Psychologen Boucher und Osgood: der sogenannten Pollyanna-Hypothese. Nach dieser Theorie besteht eine universelle Tendenz, bei der Beschreibung und Wahrnehmung von Personen, Sachen, Vorgängen und so weiter positive Eigenschaftswörter häufiger zu verwenden und schneller zu verarbeiten als solche mit negativen Nebenbedeutungen (Konnotationen). In ihrer starken Auslegung besagt die Hypothese dann, dass Menschen im Prinzip die Welt durch die »rosarote Brille« betrachten und danach sprechen. Für einen Zeitungsartikel, der eine Vorstudie der oben genannten Arbeit vorstellt, wählt der Autor Jürgen Langenbach als berschrift die Formulierung »Das positive Denken ist in die Sprache eingebaut«. Menschen reden lieber über Gutes als über Schlechtes Die Botschaft des viel diskutierten Artikels ist in der Tat nicht vollkommen neu. Insofern verwundert das enorme Medienecho schon etwas. Dennoch war die Datenmenge, die ausgewertet wurde, nicht unbeachtlich: 100.000 Wörter aus 24 Textsammlungen (Korpora) in Sprachen mit unterschiedlichstem kulturellen Hintergrund. Einbezogen wurden arabische Untertitel fremdsprachiger Filme, koreanische Twitter-Nachrichten, russische Romane, chinesische Webauftritte, englische Dichtung aus mehreren Jahrhunderten und so weiter. Alle Texte scheinen in die gleiche Richtung zu deuten: Menschen reden lieber über Positives als über Negatives, Sprachen haben deutlich mehr Vokabular für Gutes und Schönes als für Böses und Schlechtes. Das Neue an der Studie war die typologische Seite, also der sprachvergleichende Aspekt. Und weil die Forscher und Forscherinnen nun keine wesentlichen Unterschiede zwischen den verschiedenen Sprachen und Kulturen ausmachen konnten, wird die Universalität postuliert, d.h. es wird behauptet, dass alle Sprachen und somit die Menschen in dieser Hinsicht generell gleich sind. Die vorausgehenden Publikationen der Forschergruppe betrafen lediglich das Englische. (Boucher und Osgood hatten allerdings auch schon die Allgemeingültigkeit behauptet, ihnen fehlte aber die Korpusbasiertheit.) Die Tendenz, zu fluchen, ist besonders ausgeprägt Widerspruch zur Pollyanna-Hypothese ist eher selten. Eine fundiert kritische Analyse der Vorarbeiten kann man bei Susanne Flach im Blog »Sprachlog« unter dem Eintrag »Anleitung zum Glücklichsein« nachlesen. Sie weist ganz zu Recht darauf hin, dass man genauer hinsehen muss, und dass allein das Zählen von (und Rechnen mit) als positiv wahrgenommenen Wörtern nicht notwendigerweise bedeutet, dass man beim Feststellen erhöhter Frequenz auf einen höheren Glücklichkeitszustand schließen kann, auch nicht auf eine sprachbedingte rosarote Brille. Eher könne darauf geschlossen werden, was die Menschen bewegt (»Themenbarometer«), als darauf, wie sie bewegt werden, also welche Gefühle wie (positiv) empfunden werden (»Hedonometer«). Alexander Lasch – ein Lexikologie-Experte – findet die Pollyanna-Hypothese suspekt: »[Die] klingt für mich nicht sehr plausibel – negative Normabweichung ist immer interessanter, warum sollte man über sie weniger sprechen? Kann man dies beobachten, kommt man eventuell einer Tabuisierung auf die Spur, mehr – knapp gesagt – steckt aber wohl nicht dahinter.« Zweifel an der Gültigkeit der Hypothese kommen auch durch folgende Tatsache auf: In allen bisher untersuchten Sprachen ist die Tendenz zum Schimpfen und Fluchen viel ausgeprägter als die zum Loben, Preisen und Schönreden. Das manifestiert sich auch darin, dass es eine eigene sprachwissenschaftliche Disziplin gibt, die sich mit dem Wortschatz und der Pragmatik des Schimpfens und Fluchens, des Beleidigens und »Schlechtredens« beschäftigt – die Malediktologie. Als Begründer dieses Faches gilt der in den USA lebende Deutsche Reinhold Aman; neuere (populär)wissenschaftliche Beiträge stammen von Damaris Nübling und Marianne Vogel sowie von Hans-Martin Gauger. Das denkbar positive Gegenstück zur Malediktologie gibt es nicht. Diese quasi rein sprachwissenschaftlichen Einlassungen sprechen also nicht so recht für die Pollyanna-Hypothese (im Gegensatz zu den computer- bzw. korpuslinguistischen Auslegungen von Dodds und Kollegen). Adjektive entlarven schönes Denken Gewisse Überlegungen (und neuere Forschungsergebnisse) sprechen dann aber doch wieder dafür, dass in der menschlichen Sprache das Positive das Negative sprachlich dominiert. Adjektive, die Eigenschaften bezeichnen, die mehr oder weniger ausgeprägt sein können, werden »skalar« genannt. Das sind solche wie: groß, dumm, alt, klug, trocken, betrunken, lecker oder schnell. Diese bilden auch problemlos Vergleichsformen: größer, klüger, am schnellsten, der leckerste, die trockenste (Wüste, Wäsche). Andere Adjektive können das nicht: schwanger, tot, fettfrei, leer, unteilbar, zeugungsunfähig, österreichisch, hellblau – toter, unteilbarer, am fettfreisten, am schwangersten sind quasi ausgeschlossen. Skalare Adjektive liegen oft als sogenanntes Antonym- (also Gegensatz-) Paar vor: lang-kurz, groß-klein, dunkel-hell, klug-dumm und so weiter. Es ist schon länger bekannt, dass bei Dimensionsadjektiven, als den prominentesten Vertretern der skalaren Adjektive, eine »Ausprägungsrichtung« die unmarkierte ist, also in verschiedenen Kontexten natürlicher wirkt. Sprich: Eine der beiden Dimensionen ist unter bestimmten Bedingungen neutral oder neutralisiert. Lieber groß und alt als klein und jung Das erkennt man an einer Reihe von Situationen, in denen »groß« oder »alt« nicht unbedingt »groß« oder »alt« meinen – im Gegensatz dazu bedeuten »klein« und »jung« immer geringe Größe (also »klein«) beziehungsweise geringes Alter (also »jung«). Zum Beispiel »Sein Vater ist so groß wie du« zu einem erwachsenen Mann mit Sarkozy-Größe (knapp über 1,60m) gesagt, klingt nicht auffällig, auch wenn die Körpergröße gemeinhin als klein gilt: »X ist so groß wie Y« bedeutet nicht automatisch, dass X groß ist. Bei »klein« ist das der Fall: Wenn man sagt, »Sie ist so klein wie K.M.«, dann sind die beiden thematisierten Personen klein. Ähnlich ist das bei »groß genug« oder »alt genug«. Da kann man nicht den Schluss ziehen, dass jemand, der groß genug für etwas ist, generell groß ist – genauso wenig wie jemand, der alt genug ist, ein betagter Zeitgenosse sein muss. »Klein genug« und »jung genug« klingen ungewöhnlich. Die Aussage »Der Wurm war ein Zentimeter lang« ist dahingehend neutral, ob das Exemplar nun groß, klein oder normal war. Wenn man sagt, »Der Wurm war ein Zentimeter kurz«, dann muss der schleimige Kriecher kurz für seine Art sein. Ein anderer Kontext ist die Frage: »Wie alt ist er denn?« Diese Frage kann auf die Lebensspanne eines Babys abzielen, also eines ganz jungen Menschen. Wenn man fragt, »Wie jung ist sie?«, heißt das – wenn man von Ironie absieht –, dass die Person, um die es geht, jung sein muss. Unter gewissen Umständen bezieht sich also eines der beiden gegensätzlichen Adjektive auf diese gesamte Dimension: Geht es um räumliche Ausdehnung, kann »groß« auch Dinge oder Lebewesen erfassen, die man sonst als »klein« bezeichnen würde; geht es ums Alter, kann »alt« auch das erfassen, was eigentlich »neu« oder »jung« ist. Diese Adjektive sind dann die neutralen. Negatives fällt auf, Positives ist normal In der Fachliteratur nennt man sie auch nominativ, +pol-orientiert oder faktitiv; in der englischsprachigen Linguistik spricht man von »biased«, und damit sind wir beim »positivity bias«, einer englischen Bezeichnung für die Pollyanna-Hypothese. Sehr selten hat sich die Wissenschaft dazu geäußert; es scheint sich aber abzuzeichnen, dass bei Evaluationsadjektiven der positive Ausdruck das Gesamtkonzept abdecken kann. Man kann durchaus fragen »Wie gut spricht er französisch?«, ohne anklingen lassen zu wollen, dass dieser »Er« gut französisch spricht. Eine Antwort »Sehr schlecht, fast gar nicht« kann eine ganz adäquate Reaktion sein. Fragt man allerdings »Wie schlecht spricht sie russisch?«, stellt man eine tendenziös-markierte Frage und deutet an, dass die Person unmöglich gut russisch zu sprechen vermag. Beim Komparativtest, also bei der Steigerung, ergibt sich Ähnliches: Man kann gut sagen »Gisela ist (zwar etwas) schöner als Birgit, aber schön ist sie dennoch nicht«. Das bedeutet, es ist bisweilen nicht möglich, aus der Steigerung (Komparativ) auf den Normalfall (Positiv) zu schließen: »Gisela ist schöner« impliziert hier also nicht: Gisela ist schön. Andersherum geht das: »Günter ist hässlicher als Alfred« – hier kann geschlussfolgert werden: Alfred ist hässlich; Günter auch. Das deutet darauf hin, dass positiv bewertende Adjektive allgemeiner sind als negative. Das Gute und Schöne ist also als grundlegender versprachlicht – jedenfalls manchmal und unter der entsprechenden Perspektive. Dann sollte es eben auch nicht verwundern, dass die Wörter für Gutes, Schönes, Angenehmes häufiger sind. Aktuelle Ausgabe Unterstützen Sie unsere Arbeit und abonnieren Sie das gedruckte Magazin für nur 19,90 Euro im Jahr. KATAPULT abonnieren