Ein 21 Jahre alter russischer Soldat wurde kürzlich von einem ukrainischen Gericht wegen Mordes an einem ukrainischen Zivilisten verurteilt – ein Kriegsverbrechen. Weitere Prozesse dieser Art könnten folgen, denn die Liste mutmaßlicher Verbrechen ist lang. Zu den Vorwürfen zählen Folter, Vergewaltigung, wahlloses Töten von Unbewaffneten, Massenexekutionen, der gezielte Beschuss der Zivilbevölkerung sowie die Ansiedlung eigener Bürger:innen in besetzten Gebieten. Mehr als 15.000 mutmaßliche Kriegsverbrechen untersuchen die ukrainischen Behörden nach eigenen Angaben derzeit, gegen mehr als 600 russische Angehörige von Militär und Regierung gibt es Ermittlungen. Doch wie wahrscheinlich ist es, dass Putin, seine Generäle oder andere Personen tatsächlich zur Rechenschaft gezogen werden? Grundsätzlich können Kriegsverbrechen auf nationaler oder internationaler Ebene oder einer Mischung aus beiden verfolgt werden. Die ukrainische Justiz ist für Verbrechen zuständig, die von anderen Staaten auf ukrainischem Gebiet begangen wurden, auch völkerrechtliche Kriegsverbrechen. Was aber, wenn das Land im Falle eines russischen Sieges nicht in der Lage ist, selbst Strafprozesse zu führen, oder dies unter einer Marionettenregierung gar nicht will? Dann können andere Staaten diese Aufgabe übernehmen – aufgrund des sogenannten Universalitätsprinzips. Es soll Staaten ermöglichen, universelle Werte der Weltgemeinschaft zu verteidigen, auch wenn die eigentlichen Verbrechen nicht auf dem eigenen Hoheitsgebiet stattfanden. Im Fall der Ukraine beispielsweise hat der Bundesgerichtshof in Karlsruhe ein sogenanntes Strukturermittlungsverfahren eingeleitet, in dem er Beweise für Kriegsverbrechen sammelt, die später in Strafverfahren gegen Einzelpersonen vorgelegt werden können. Tatsächlich wandte Deutschland 1994 als erstes Land überhaupt das Universalitätsprinzip an. In München verhafteten die Behörden den Serben Duško Tadić wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit während des Bosnienkrieges. Er wurde an das Sondertribunal für das ehemalige Jugoslawien überstellt, das ihn zu 20 Jahren Haft verurteilte. 2015 verhängte das Oberlandesgericht Frankfurt am Main als erstes deutsches Gericht ein Urteil auf Grundlage des Universalitätsprinzips – eine lebenslange Freiheitsstrafe gegen einen ehemaligen Bürgermeister aus Ruanda wegen Völkermordes im Jahr 1994. Dass es hierzulande Bestrebungen gibt, solche Taten zu bestrafen, ist ein Signal an die Welt, dass die Schuldigen sich auch auf deutschem Boden nicht sicher fühlen können. Das stärkt den Kampf gegen Straflosigkeit, denn einige mächtige Länder wie Russland oder China behindern die Arbeit des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) durch ihr Vetorecht im UN-Sicherheitsrat. Selbst mit Beweisen kaum eine Chance Ermittlungsverfahren stehen jedoch vor einem zentralen Problem: Die ranghöchsten Regierungsmitglieder eines Landes genießen im Ausland persönliche Immunität. Das bedeutet, dass sie vor ausländischen Strafverfahren geschützt sind und außerhalb ihres Heimatlandes nicht verhaftet werden können – das gilt auch für Putin. Zumindest solange er nicht aus dem Amt scheidet oder die russischen Behörden ihm vorzeitig seine Immunität entziehen – was derzeit äußerst unwahrscheinlich ist. Sobald Staatsoberhäupter nicht mehr im Amt sind, genießen sie nur noch funktionelle Immunität. Diese gilt auch für Soldat:innen, Söldner:innen, Kommandeur:innen und Kämpfer:innen aus Drittländern wie Syrien oder Belarus, die in der Ukraine operieren. Funktionelle Immunität schützt zwar vor Strafverfahren im Ausland, nicht jedoch vor Verfahren wegen völkerrechtlicher Delikte wie Kriegsverbrechen. Für solche könnten sie sowohl vor einem ukrainischen Gericht angeklagt werden – wie es kürzlich geschehen ist – als auch vor dem IStGH. Ob Regierungschef:innen sogar vor diesem durch ihre besondere Immunität geschützt sind, ist völkerrechtlich umstritten. Wahrscheinlich sind sie es nicht. Dennoch ist ein Prozess gegen sie auf internationaler Ebene äußerst unwahrscheinlich. Der IStGH in Den Haag ist zuständig für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression – die Planung und Durchführung eines illegalen Angriffskrieges. Wenn Staaten nicht in der Lage oder nicht willens sind, solche zentralen Brüche des Völkerrechts vor einem nationalen Gericht zu verfolgen, wird der IStGH zuständig. Am 2. März 2022, nur eine Woche nach Kriegsbeginn, eröffnete dessen Chefankläger Karim Khan das Ermittlungsverfahren zu Kriegsverbrechen in der Ukraine. Daran beteiligt sich bislang etwa ein Drittel der Vertragsstaaten, darunter auch Deutschland. Einzelpersonen und Organisationen können angeklagt werden, sofern das Land, in dem die Verbrechen begangen wurden, dem Gerichtshof beigetreten ist – oder das Herkunftsland der Täter:innen das Römische Statut ratifiziert hat. Dieser völkerrechtliche Vertrag bildet die Grundlage für den IStGH. 70 von 193 UN-Staaten, in denen etwa 70 Prozent der Weltbevölkerung leben, haben das Römische Statut nicht unterzeichnet – zum Beispiel fehlen bevölkerungsreiche Länder wie China und Indien. Andere mächtige Staaten wie die USA, Russland oder Israel haben ihre Unterschrift nachträglich zurückgezogen. Diese fehlende Anerkennung und die schwierige Beweisführung bei Kriegsverbrechen erschweren die Arbeit des IStGHs. In den 27 Konflikten, mit denen sich das Gericht seit 2002 befasst hat, verhängte es insgesamt weniger als 30 Jahre Haft für die Schuldigen. Bisher hat der IStGH Ermittlungen gegen 45 Personen eingeleitet, darunter Staatsoberhäupter, Minister und Generäle. Alle von ihnen stammen aus Afrika. Einige erhielten Gefängnisstrafen, andere Angeklagte sind auf der Flucht, wie der Rebellenführer Joseph Kony, und wieder andere sind gestorben, bevor sie auf der Anklagebank Platz nehmen konnten – wie der libysche Diktator Muammar al-Gaddafi. Manche Verfahren laufen noch, und einige Angeklagte wurden freigesprochen. Niemand geht freiwillig nach Den Haag Obwohl weder Russland noch die Ukraine das Statut unterzeichnet haben, ist der IStGH tätig. Die Ukraine hat nämlich die strafrechtliche Zuständigkeit des IStGH für ihr eigenes Hoheitsgebiet im Jahr 2013 anerkannt. Dementsprechend fallen auch Verbrechen, die seither in der Ukraine begangen wurden, unter seine Gerichtsbarkeit – insbesondere mögliche Kriegsverbrechen, die von russischer und ukrainischer Seite begangen werden. Jedoch könnte es Jahre dauern, bis Anklage in Den Haag erhoben wird – und ausreichende Beweise sind keine Garantie für einen Prozess. Denn das Verfahren vor dem IStGH kann nur stattfinden, wenn die Beschuldigten tatsächlich in Den Haag anwesend sind. Der IStGH hat keine eigenen Polizeikräfte, um Verdächtige festzunehmen. So hat es beispielsweise nach der Anklageerhebung im Mai 1999 fast zwei Jahre gedauert, bis der ehemalige jugoslawische Präsident Slobodan Milošević auf internationalen Druck hin von der serbischen Regierung an das Jugoslawien-Tribunal überstellt wurde. Zu einer Verurteilung kam es übrigens nicht. Milošević verstarb während des Prozesses. Juristische Fachleute halten es für äußerst unwahrscheinlich, dass Moskau Verdächtige ausliefert – erst recht nicht Putin. Da Russland kein Mitgliedstaat des IStGH ist, ist es nicht verpflichtet, Verdächtige auszuliefern oder generell mit dem Gericht zusammenzuarbeiten. Außerdem ist es schwierig, einem Staatsoberhaupt die Befehlskette nachzuweisen, über die es die Verbrechen angeordnet oder nicht verhindert hat. Für einen Strafprozess gegen Putin müssten sich die politischen Bedingungen in Russland radikal ändern. Wer entscheidet, wer urteilen darf? Theoretisch gäbe es noch eine andere Möglichkeit, Spitzenpolitiker:innen zur Rechenschaft zu ziehen – über eine Verurteilung wegen des Verbrechens der Aggression, also des Vorbereitens und Führens eines Angriffskrieges. Darüber kann der IStGH in diesem Fall jedoch nicht urteilen – der Aggressorstaat müsste Vertragsstaat sein. Deshalb haben der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba und der ehemalige britische Premierminister Gordon Brown die Einrichtung eines internationalen Sondertribunals vorgeschlagen. Der UN-Sicherheitsrat müsste eingreifen und den Fall an das Tribunal übergeben, um die Aggression ahnden zu können. Als ständiges Mitglied des Rates kann Russland jedoch sein Veto einlegen. Ein Gericht, das nur von einigen wenigen Staaten eingesetzt wird, müsste sich dem Vorwurf aussetzen, nicht legitimiert zu sein und selektive Justiz zu betreiben. Ein extremes Beispiel ist das im Irak eingerichtete Sondertribunal gegen Saddam Hussein. Es wurde lediglich von einer irakischen Übergangsregierung eingesetzt und endete mit Husseins Todesurteil. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch kritisierte das Verfahren aufgrund von Mängeln im Prozess als unfair. Das Gericht habe die Chance verpasst, glaubwürdig Gerechtigkeit zu üben. Die Ukraine könnte auch eine Mischung aus einem nationalen und einem internationalen Gericht anwenden. Als betroffener Staat richtet sie ein eigenes Gericht ein, das internationalisiert wird, indem es zum Beispiel mit ausländischen Richter:innen bestückt wird. In solch einem hybriden Gericht sieht Stefanie Bock, Professorin für Völkerrecht und Strafrecht an der Universität Marburg, derzeit die beste Möglichkeit, das Verbrechen der Aggression zu verfolgen. Der Hamburger Strafrechtler Aziz Epik hingegen dämpft die Erwartungen. Man stehe selbst dann immer noch vor dem Problem, dass die Schuldigen vor das Gericht gebracht werden müssten. Putin wird sich wohl kaum in Staaten begeben, in denen ihm eine Verhaftung droht. Und solange er in Russland Macht ausübt, werden ihn die russischen Behörden nicht ausliefern. Für die Opfer und gegen das Unrecht Da die Prozesse in der Regel jedoch nach Ende des Konflikts stattfinden, hält Epik die Aussichten für gering, durch laufende Verfahren weitere Kriegsverbrechen in dem Konflikt zu verhindern. Um wirksam abzuschrecken, sei eine wirklich effektive Durchsetzung des internationalen Strafrechts erforderlich. Epik und Bock sind sich einig, dass in der Ukraine eingesetzte russische Soldat:innen wenig Angst vor Strafverfolgung haben müssen. Sobald sie sich wieder auf russischem Territorium befinden, werden sie nicht mehr verfolgt werden. Mit Verweis auf internationale Untätigkeit soll Adolf Hitler einmal gesagt haben: »Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?« Über dieses und auch über seine Verbrechen wird jedoch bis heute geredet. Zwar nahm Hitler später bei den Nürnberger Prozessen nie auf der Anklagebank Platz, dafür wurden Nationalsozialisten ersten Ranges wie etwa Hermann Göring wegen ihrer Verbrechen angeklagt und verurteilt. Auch wenn der Aufwand groß ist und die Chance auf Erfolg klein: Der Sinn hinter der internationalen Strafverfolgung von Kriegsverbrechen ist es, das Leid der Opfer anzuerkennen, Täter:innen wegen begangenen Unrechts verurteilen zu können – und damit das Völkerrecht zu stärken. Aktuelle Ausgabe KATAPULT ist gemeinnützig und unabhängig. 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