Das Interview mit Dr. Alexander Graef, Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik, Universität Hamburg, wurde am 2.3.2022 geführt. Herr Graef, welche Optionen oder Szenarien für Frieden gibt es derzeit? Graef: Zwischen der Ukraine und Russland haben bisher zwei Treffen in Belarus stattgefunden. Es sind derzeit aber eher Waffenstillstandsgespräche als Friedensverhandlungen. Wie diese ausgehen, darüber lässt sich derzeit nur spekulieren. Ein erster Erfolg ist die Einigung über die Einrichtung humanitärer Korridore. Doch um mittelfristig ein größeres Blutvergießen in der Ukraine zu verhindern, müssen möglicherweise Lösungen gefunden werden, die sowohl der Ukraine als auch dem Westen nicht gefallen werden.  Russland möchte, dass die Ukraine einen Neutralitätsstatus erhält und die russische Kontrolle über den gesamten Donbas sowie die Annexion der Krym hinnimmt. Das wäre ein erzwungener Friedensschluss. Gleichzeitig müsste Russland dann die ukrainische Regierung anerkennen und dazu bereit sein, seine Truppen vollständig zurückzuziehen. Momentan sieht es danach nicht aus.  Ein anderes Extremszenario wäre, dass sich das russische Militär zunächst durchsetzt und das halte ich momentan auch für wahrscheinlich. Russland setzt bisher noch nicht seine vollständige militärische Kraft ein. Gegenwärtig ändert es offenbar seine Militärstrategie, erkennbar durch zunehmende Bombardements auf Großstädte. Langfristig wäre eine politische Kontrolle des Landes für Russland jedoch mit extremen Kosten verbunden und deshalb kaum vorstellbar. Ein mögliches Szenario wäre also ein militärischer Sieg gegenüber der ukrainischen Führung – insofern, dass diese ab einem bestimmten Punkt nicht mehr Willens wäre, noch mehr Menschen aufs Spiel zu setzen. Für eine diplomatische Verhandlungslösung ist es jedoch unabdingbar, dass der russische Präsident von seinen Maximalforderungen abrückt. Wie kann der Westen für Putin eine Exit-Option schaffen? Was kann man ihm anbieten? Graef: Die Möglichkeiten sind begrenzt. Ein Punkt könnte sein, die bislang umfangreich verhängten Sanktionen stückweise zurückzubauen – sofern Russland von seinen jetzigen Positionen abrückt und Zugeständnisse macht. Ein solches Angebot müsste aber wohl nichtöffentlich bleiben. Der erste Schritt dazu wäre die Herstellung eines ständigen politischen Kontaktes zwischen dem Westen und Moskau, den es momentan in dieser Form nicht gibt. Viel mehr Möglichkeiten hat der Westen nicht. Insofern die ukrainische Regierung bereit wäre, über Neutralität und andere Punkte zu verhandeln, müssten westliche Staatschefs das – nichtöffentlich – unterstützen, um den Krieg zu beenden. Was bringen derzeit Waffenlieferungen von Deutschland oder von anderen Staaten? Graef: Im bisherigen Umfang stärken die Waffenlieferungen zwar die Verteidigungsfähigkeiten der Ukrainer, aber es bleibt zu befürchten, dass sie den Krieg lediglich verlängern. Die Hoffnung ist zwar, durch solche Waffenlieferungen die Kriegskosten für Russland so zu steigern, dass vielleicht ein Umdenken in Moskau stattfindet – aber Sanktionen haben da einen viel größeren Effekt. Sollten diese Waffenlieferungen über die Zeit einen Abschreckungseffekt haben, wäre das natürlich ein Erfolg. Aber ich sehe momentan nicht, dass das passiert. Zudem ist unklar, wie schnell diese Waffenlieferungen dort ankommen, wo sie jetzt benötigt werden. Wie wirkungsvoll sind bisher die angeordneten Sanktionen? Graef: Die jetzigen Sanktionen haben enorme Auswirkungen auf die russische Wirtschaft, wie etwa der fallende Rubelkurs zeigt. Ob diese Effekte jetzt einen Einfluss auf die politischen Entscheidungen Russlands haben? Momentan noch nicht, Russland eskaliert militärisch weiter. Könnte es sein, dass Putin sich ausreichend auf Sanktionen vorbereitet hat oder gefährden sie vielleicht seine Macht? Graef: Die entsprechenden Ministerien – etwa das Wirtschafts- und das Finanzministerium – haben sich natürlich vorbereitet, aber vermutlich nicht auf Sanktionen in so großem Umfang. Die Sanktionen haben unter dieser Invasion eine ganz andere Qualität, als wenn sich der Militäreinsatz nur auf den Donbas konzentriert hätte.  Ich weiß nicht, ob Putin sich da verkalkuliert hat. Möglicherweise ist ihm das egal. In den letzten zwanzig Jahren hat er sich eine Machtbasis geschaffen, die eigentlich kaum von innenpolitischen Gegnern angreifbar ist. Sollte sich da etwas verändern, würde es auf einen Coup innerhalb einer engsten Führungselite hinauslaufen, wo dann Leute, die Putins Ansichten grundsätzlich teilen, sagen: Wir müssen unsere Macht sichern, das ist wichtiger. Könnten stärkere Sanktionen zu einer Eskalation führen? Graef: Wir sind bereits in einer Eskalationsspirale. Man verbaut sich aber politische Handlungsmöglichkeiten, wenn man sagt, wir haben jetzt hier Sanktionen ABC und die bleiben bestehen, egal was ihr macht. Schließen zum Beispiel kulturelle Ausschlussmaßnahmen im Bereich des Sports Annäherungen eher aus? Graef: Persönlich halte ich auch etwa kulturelle Ausschlussmaßnahmen wie im Bereich des Sports für völlig falsch, denn diese Schritte sind der politischen Führung völlig gleichgültig. Es gibt auch Kräfte in Russland, denen das sogar entgegenkommt, weil sie sich ohnehin nicht mehr an westlichen Institutionen in diesem Bereich orientieren möchten. Kultur, Wissenschaft und so weiter laufen in Russland über den Staat. Wenn auch das alles abgebrochen wird, dann wird gleichzeitig auch der zivilgesellschaftliche Austausch abgewickelt. Umso länger der Krieg dauert, desto mehr wird sich dieser Prozess verstetigen. Einschätzungen zufolge habe sich Putin beim bisherigen Kriegsverlauf womöglich verspekuliert. Ist das so? Und wenn ja: Was hat das für Ursachen? Graef: Die politische Strategie ist völlig unrealistisch gewesen. Offensichtlich ist man im Kreml davon ausgegangen, dass man möglichst unbeobachtet von internationalen Medien in zwei, drei Tagen die Sache erledigt – mit wenigen Streitkräften und über die Zerstörung von militärischen Anlagen in Kyjiw sowie dem Ausschalten der politischen Führung. Das hat nicht funktioniert, weil die politischen Vorstellungen über die Reaktionen der Ukrainer und denen des Westens falsch waren.  Steigt dabei die Wahrscheinlichkeit, dass die Nato in diesen Krieg einsteigt? Graef: Ich glaube, die Nato bleibt mit Ausnahme der Waffenlieferungen kategorisch draußen. Das haben die Nato-Staaten von Anfang an klar gesagt.
Gibt es ein Szenario, das dazu führen könnte? Graef: Russland könnte versucht sein, westliche Waffenlieferungen an die Ukraine über den Landweg zu unterbinden. Zudem gab es Diskussionen, dass ukrainische Piloten in ehemalige sowjetische Kampfflugzeuge steigen, die sich in einigen Nato-Mitgliedstaaten befinden. Das würde aber wohl voraussetzen, dass diese Piloten in die entsprechenden Länder ausreisen und Flugplätze und Flugzeuge nutzen. Beides würde das Territorium der Nato zur Zielscheibe Russlands machen. Solch ein Fall wäre eine Einladung zu einem direkten Krieg.  Die andere Möglichkeit ist aber eine ungewollte Eskalation, etwa durch unbeabsichtigte Zwischenfälle oder Fehlfunktionen bestimmter militärischer Systeme. Zum Beispiel defekte nukleare Frühwarnsysteme, wie das in der Vergangenheit schon vorkam. Die können in Friedenszeiten noch überprüft werden, in Kriegszeiten aber eine ganz andere Wirkung entfalten.  Die dritte Möglichkeit wäre, dass bewusste Abschreckungsmaßnahmen wie aktuell die erhöhte Alarmbereitschaft der russischen strategischen Nuklearkräfte zu einer Eskalationsspirale führen. Die Vereinigten Staaten haben auf die russische Ankündigung aber bislang besonnen reagiert. Die Wahrscheinlichkeit mag zwar gegenwärtig äußerst gering sein, dass der russische Präsident an irgendeinem Punkt so in die Enge getrieben ist, dass er den Krieg mit einem taktischen Einsatz von Nuklearwaffen beenden will. Aber sie wächst und ist heute größer als vor einer Woche. Würde China Russland außenpolitisch zur Hilfe kommen? Graef: China unterstützt Russlands Krieg zwar politisch, wird aber militärisch nicht eingreifen. China hat sich bisher bei Entscheidungen der Vereinten Nationen enthalten. Ob Russland finanzielle Unterstützung Chinas benötigt, wird man sehen – eine militärische braucht Putin jedenfalls nicht.  Sicherlich werden die Chinesen ihre eigenen Interessen abwägen. Derzeit ziehen sich große Unternehmen aus dem Westen aus gemeinsamen Projekten mit Russland zurück. Ich vermute, dass die entstehenden Lücken in Zukunft zum Teil von chinesischen Unternehmen geschlossen werden. Allerdings waren die Chinesen seit 2014 in einigen Fällen eher zurückhaltend, etwa bei der Vergabe von Krediten, weil sie fürchteten, dass sie die Sanktionen des Westens ebenfalls treffen. Das heißt: Die Möglichkeit ist die wirtschaftliche Isolation Russlands? Graef: Ja, das ist der Prozess, den wir gerade beobachten. Aber denken Sie auch an den Iran, der seit vielen Jahren unter starken Sanktionen steht – auch wenn im Fall Russlands die Sanktionen noch einmal schärfer sind. Die Konsequenzen im Iran sind bislang eine seit Jahren stagnierende Wirtschaft sowie eine Verhärtung des politischen Regimes – das kann ein Land lange aushalten. Die Frage ist immer: zu welchem Preis? Was würde der Westen tun, wenn Kyjiw wie Grosny vollständig zerstört werden würde? Graef: Das ist wohl bisher noch nicht die militärische Strategie. Stattdessen gehe es darum, in kurzer Zeit die politische Führung in Kyjiw zur Aufgabe zu zwingen. Dieses Ziel will Putin offensichtlich weiterhin umsetzen. Wenn aber der Fall einträte, den Sie gerade beschreiben, dann wären wir noch mal in einer ganz anderen Situation. In diesem Fall gebe es kein Zurück mehr. 
KATAPULT führte in den letzten Tagen vier voneinander unabhängige Interviews mit Expert:innen aus den Bereichen internationale Politik sowie Friedens- und Konfliktforschung. Wir veröffentlichen die weiteren Interviews im Laufe der Woche. Wir werden ein Newsteam aufbauen – mit Leuten, die in der Ukraine bleiben, mit welchen, die gerade nach Deutschland flüchten, und mit welchen, die in die Ukraine reisen werden. Ab und zu wird gedruckt. KATAPULT Ukraine abonnieren