Ein Rechtsstaat hat in der Regel sinnvolle und auch sinnfreie Gesetze. Ein funktionierender Rechtsstaat hält sich an beide. Bundeskanzlerin Merkel zeigt mit ihrer Entscheidung nicht mehr, als dass sie diesen Fall nicht entscheiden möchte. Der Paragraf 103 ist derzeit Bestandteil des deutschen Strafgesetzbuches. Dessen Interpretation nimmt nicht die Politik, sondern die Justiz vor. Wer seine Gesetze ernst nimmt, kann zu keinem anderen Ergebnis gelangen. Mit dieser Haltung ist Frau Merkel ihrem türkischen Amtskollegen glücklicherweise ein Stück voraus. Wie in der Karte zu sehen ist, hält die Türkei sich insgesamt deutlich weniger an das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit (Rule of Law) als Deutschland. In der Türkei ist Willkür keine Seltenheit. Sie entsteht dann, wenn sich die Exekutive über die Judikative erhebt oder sie nicht von ihr »getrennt« ist. Präsident Erdogan wird schon seit mehreren Jahren vorgeworfen, geltendes Recht eigenständig zu interpretieren und hohe judikative Posten mit eigenen Anhängern besetzt zu haben. Frau Merkel kann das nicht vorgeworfen werden und auch nicht, dass sie sich dem türkischen Präsidenten beugt. Trotzdem schreibt die NZZ: »Der überraschende Entscheid Merkels zeigt, wie viel ihr am Verhältnis zum Autokraten Erdogan liegt« Das ist falsch: Merkel zeigt Erdogan erstens, dass sie für die Klage nicht zuständig ist, und zweitens, dass sie den Paragrafen abschaffen möchte. Mehr Diskrepanz geht nicht. Denn Erdogan hätte genau andersherum gehandelt, die Angelegenheit zur Chefsache gemacht und den Paragrafen selbstverständlich behalten.