BMW enteignen, Immobilienbesitz beschränken? Kaum ein Interview eines SPD-Politikers hat in den vergangenen Monaten eine solche Resonanz erzeugt wie das des Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert. Für den Merkur und viele andere Zeitungen hatte Kühnert eine “Grenze im politischen Diskurs überschritten”. Die Folge, so legt es der Großteil der Medien nahe: Die SPD habe nach diesem Interview an Zustimmung verloren. Das zeige die aktuelle Umfrage des Forsa-Instituts, die am 6. Mai, wenige Tage nach Beginn der Debatte, veröffentlicht wurde. Nur noch 15 Prozent der Befragten gaben an, die SPD wählen zu wollen. Zuvor hatte der Wert noch bei 17 Prozent gelegen. Ein erneuter Tiefststand. So titelte die Welt: “Forsa-Umfrage: Kühnert-Debatte schadet der SPD”. Der Westen überschrieb seinen Artikel mit: ”Kevin Kühnert: SPD im Umfragetief – liegt es an ihm?” Zweifelhafter Zusammenhang erzeugt Schlagzeilen Zeit Online, der Tagesspiegel, Die Welt, die Bild und zahlreiche Nachrichtenagenturen: Alle nahmen die Botschaft auf und stellten einen direkten Zusammenhang zwischen dem Kühnert-Interview und den Umfragewerten her. Das ergibt zwar eine griffige Schlagzeile, aber beides gehört nicht zwangsläufig zusammen. Das Problem: Die Befragung fand zwischen dem 29. April und 3. Mai statt. Die öffentliche Debatte um das Interview, das am 1. Mai veröffentlicht wurde, setzte allerdings erst am 2. Mai ein. An zwei von vier Umfragetagen (der 1. Mai entfällt als Feiertag) kann die Debatte keinen Einfluss auf die angegebene Wahlpräferenz gehabt haben. Auf die Antworten der Befragten an den beiden Folgetagen habe sich die Diskussion jedoch unmittelbar ausgewirkt und etwa zwei Prozentpunkte gekostet, antwortet Forsa auf Nachfrage von KATAPULT. Unabhängig überprüfen lässt sich das für Medien allerdings nicht, da hierfür die Rohdaten zugänglich sein müssten. Nur die wenigsten Umfrageinstitute stellen diese zur Verfügung. Forsa-Chef Güllner müsste es besser wissen Auch Forsa-Chef Manfred Güllner führte das Umfragetief unmittelbar auf Kühnert zurück. Er äußerte gegenüber RTL: „Die SPD verkennt wieder einmal, dass sie mit Umverteilungsthemen und einem betonten Linkskurs noch nie eine Wahl hat gewinnen können“. - Eine solch starke Interpretation von kleineren Schwankungen bei Prozentpunkten aber ist kaum seriös möglich. Forsa steht häufig in der Kritik, besonders extreme Werte für aktuelle Trends und Debatten zu liefern. Die Ergebnisse des Instituts seien nur mit Vorsicht zu genießen, meinen Branchenkenner. Bei strittigen Themen liegen die ermittelten Werte dabei deutlich von denen anderer Institute entfernt. Dass ein Zusammenhang zwischen Kühnert-Interview und Wahlpräferenz der Forsa-Umfrage zweifelhaft ist, zeigt sich bei der aktuellen Wahlumfrage des Instituts Insa. Sie wurde nur einen Tag nach dem Forsa-Ergebnis publiziert. Die Befragung (3. bis 6. Mai) fällt in diesem Fall tatsächlich gänzlich in den Debattenzeitraum. Die SPD erreicht dabei 16 Prozent der Stimmen - den gleichen Wert wie in den Insa-Umfragen der Wochen zuvor. Für Schlagzeilen sorgte diese Umfrage allerdings kaum. Dass sich die Kühnert-Debatte nachteilig für die Sozialdemokraten auswirken könnte, lässt sich zwar noch nicht ausschließen. Allerdings ist das Spekulation, denn mit den Umfragedaten lässt sich das nicht glaubhaft belegen. Die jüngste Umfrage des GMS-Instituts vom 9. Mai misst sogar einen Gewinn an Zustimmung für die SPD. Zum Vergleichswert von 15 Prozent vor rund einem Monat (4. April) legte die SPD nun auf 17 Prozent zu. Dabei gilt: Aufgrund der statistischen Fehlertoleranz bei in diesem Fall 1.006 Befragten sollte auch dieser Zuwachs nicht überbewertet werden. Die Forschungsgruppe Wahlen (10. Mai) hingegen ermittelte ein Minus von einem Prozentpunkt für die Sozialdemokraten im Vergleich zum Vormonat. Zwei Prozentpunkte sind noch kein Trend Medien tun sich mit dem richtigen Einordnen von statistischen Ergebnissen regelmäßig schwer. Besonders bei Umfragen zu aktuellen politischen Themen fehlt oft der kritische Blick auf Stichprobengröße, Fehlertoleranz oder Glaubwürdigkeit. Kleine Schwankungen etwa bei Sonntagsfragen interpretieren Journalisten häufig als eindeutige Trends. Das ist jedoch verkehrt. Veränderungen im Bereich von wenigen Prozentpunkten können beispielsweise aufgrund der Stichprobenauswahl oder Umfragemethodik zustande kommen. In der zitierten Forsa-Umfrage liegt die statistische Fehlertoleranz bei 2,5 Prozentpunkten. Das bedeutet: Mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit liegt der tatsächliche Wert in einem Intervall von 2,5 Prozentpunkten über oder unter dem angegeben Umfragewert. BMW zu enteignen war nicht Kühnerts Idee Die fehlende Sorgfalt ist allerdings symptomatisch für die stark polarisierende Debatte, die das Interview mit Kevin Kühnert ausgelöst hat. Es diente in den letzten Tagen häufig nur als Stichwortgeber, um sich öffentlichkeitswirksam zu positionieren. Inhaltlich spitzten Kommentatoren und Politiker deshalb zu, verkürzten oder stellten die Aussagen falsch dar. Problematisch daran ist, dass sich auch zahlreiche Leitmedien beteiligen und nicht immer adäquat berichten. So entging vielen Redakteuren auch, dass es nicht Kühnert war, der die Vergesellschaftung von großen Unternehmen ins Spiel gebracht hatte, sondern die Zeit-Redakteure Jochen Bittner und Tina Hildebrand, die das Interview führten. Sie konfrontierten den Juso-Chef damit, dass zum Sozialismus definitionsgemäß auch Vergesellschaftung von Unternehmen gehöre und fragten nach seiner Haltung dazu. In einer Nachfrage nannten sie dann BMW als mögliches Beispiel. Verkürzt zur Schlagzeile gewann diese Passage ein Eigenleben - durchaus kalkuliert, wie Faz-Redakteur Patrick Bahners glaubt. Denn Überschrift und Vorspann seien zwar in der Sache nicht falsch, allerdings hätten es die Blattmacher auf eine Lenkung der Aufmerksamkeit abgesehen, die an Irreführung grenze. Kühnert nutzte den entstandenen Hype seinerseits aus und bekräftigte seine Thesen. Allerdings lernt man in dieser Debatte vielleicht weniger über ihn als mehr darüber, wie erfahrene Journalisten Schlagzeilen erzeugen. Und darüber, dass nur wenige Nachrichtenmacher der Versuchung einer knalligen Schlagzeile widerstehen können. Aktuelle Ausgabe KATAPULT ist gemeinnützig und unabhängig. Wir finanzieren uns durch Spenden und Abonnements. 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