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Armes reiches Deutschland – so betitelte die Süddeutsche Zeitung ihre Ausgabe zum ersten Märzwochenende dieses Jahres. Im Aufmacher ging es um die rund 1,5 Millionen Menschen, die sich inzwischen über 930 Tafeln in Deutschland mit Lebensmitteln versorgen. An den Tafeln werden – wie zuletzt in Essen – auch die Verteilungskämpfe unter jenen augenfällig, die trotz acht Jahren Wirtschaftswachstums in Folge zur materiellen Unterschicht zählen.
Allein die Zahl der Wohnungslosen beziffert die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe im Jahr 2016 auf 860.000 und stellt damit einen Anstieg um rund 150 Prozent seit 2014 fest. Für 2018 rechnet die AG nochmals mit einem Anstieg auf 1,2 Millionen.[1]
In der öffentlichen Wahrnehmung verschärfen hohe Flüchtlingszahlen das Armutsproblem. Doch vor einer voreiligen Zuschreibung von Urheberschaft sei gewarnt: Empirisch gesehen lassen sich die Gründe ebenso an der Sozial- und Steuerpolitik der letzten Jahrzehnte festmachen – zum Beispiel am massiven Rückgang des sozialen Wohnungsbaus seit 1990 bei gleichzeitiger steuerlicher Entlastung von Kapitalgesellschaften, an Senkungen des Spitzensteuersatzes,[2] an dem Verzicht auf Vermögenssteuer und an einer vergleichsweise niedrigen Erbschaftssteuer.[3]
Der Fünfte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung hat bereits für das Jahr 2014 eine Armutsrisikoquote von 16,7 Prozent auf der Basis der EU-weiten Erhebung EU-SILC[4] ausgewiesen – zeitlich deutlich vor der aktuellen Flüchtlingsproblematik. Das waren gut 13 Millionen Menschen mit einem Einkommen unterhalb von 60 Prozent des Medians[5] aller Äquivalenzeinkommen[6]. Aus diesen vielen Vorbedingungen die Immigration als Ursache hervorzuheben, setzt eine Reihe strittiger normativer Annahmen voraus.
Was aber ist eigentlich Armut?
Wer beispielsweise aus einem Kriegsgebiet wie dem Jemen mit derzeit 17 Millionen hungernden Menschen (60 Prozent der Bevölkerung), aus Syrien mit 6,5 Millionen (33 Prozent) oder der Ukraine mit 1,2 Millionen (26 Prozent) nach Deutschland reist,[7] wird andere Bilder des Elends vor Augen haben und unsere Armutsprobleme für handhabbar halten. Ähnlich dürften es Vertreter der großen Hilfsorganisationen einschätzen, wenn sie an die global rund 815 Millionen akut und chronisch Mangelernährten oder die 361.000 Kinder denken, die 2017 noch weltweit an vermeidbaren Durchfallerkrankungen gestorben sind.[8]
In der vielschichtigen, tagespolitisch aufgeladenen Debatte über Armut kommen wir aber bei aller bedrückend anschaulichen Quantifizierung nicht um eine Bestimmung des Begriffs der Armut herum. Und die ist ebenso umstritten wie ihre Ursachen.
Absolute Armut
Grob gesprochen lassen sich zwei Lager ausmachen: Vertreter des einen Lagers wollen als Armut nur gelten lassen, was gemeinhin als »absolute« Armut bezeichnet wird. Da unklar ist, was genau hier »absolut« bedeutet, kann deutlicher von einem subsistenzbezogenen Armutskonzept gesprochen werden. Danach gilt als arm, wer nicht in der Lage ist, seine (teils als unveränderlich angesehenen) Grundbedürfnisse aus eigener Kraft zu befriedigen.
Diese Bedürfnisse können über physische hinaus auch solche an soziokultureller Teilhabe umfassen. Das andere, komparatistische Lager betrachtet Armut von vornherein als Fall sozialer Ungleichheit beziehungsweise relativer Entbehrung. »Arm« bedeutet hier im Grunde stets »ärmer als …«.
Zum »Subsistenzlager« zählt der ehemalige Finanzsenator Berlins, Thilo Sarrazin, der vor zehn Jahren einen »Hartz-IV-Speiseplan« vorstellte, mit dem sich Arbeitslose für 3,76 Euro am Tag »völlig gesund, wertstoffreich und vollständig ernähren«[9] könnten. Iain Duncan Smith, seinerzeit britischer Minister für Arbeit und Pensionen, legte 2013 in einem BBC-Interview nach: Er könne von 53 Britischen Pfund netto pro Woche gut leben – in London.[10] Auch die Einlassung des neuen Gesundheitsministers Jens Spahn lässt sich subsistenztheoretisch deuten: »Hartz IV bedeutet nicht Armut, sondern ist die Antwort unserer Solidargemeinschaft auf Armut. Diese Grundsicherung ist aktive Armutsbekämpfung! Damit hat jeder das, was er zum Leben braucht.«[11]
Alle drei Politiker brachten ihre persönliche Vorstellung zum Ausdruck, was Armut nicht ist – und haben – wie erwartbar – für Entrüstung im anderen Lager gesorgt. Spahn etwa wurden »Realitätsferne« und »Überheblichkeit« (Robert Habeck), »Arroganz« (Sahra Wagenknecht) und »Kaltherzigkeit« (Jan Korte) vorgeworfen.[12] Gewiss, Sarrazin ließ seine Mitarbeiter Lebensmittel in günstigen Großpackungen kaufen, während Smith hoffnungslos unterschätzte, welchen Bedarf allein an Mobilität Arbeitssuchende in London haben.[13] Und Spahn bekam von der streitbaren Linken-Politikerin Inge Hartmann vorgerechnet, dass er als Abgeordneter seit 2002 ebenfalls von Steuermitteln finanziert werde, aber auf ganz anderem Niveau.[14]
Doch können sich Subsistenzvertreter auf einen traditionsreichen Armutsbegriff stützen, wie er bereits von den britischen Gründervätern der empirischen Armutsforschung, Charles Booth (1840-1916) und Benjamin Seebohm Rowntree (1871-1954), vertreten wurde. Beide konzentrierten sich auf ein physisches Existenzminimum: »Was man zum Leben braucht« entspricht nach diesem Verständnis dem, was die Reproduktion der Arbeitskraft verlangt. In Marktpreisen für Bedarfsgüter umgerechnet, lässt sich eine vergleichstaugliche Armutsschwelle (»poverty line«) festlegen, die zur Bestimmung von sogenannter absoluter Armut ebenso dienen kann wie zur Bemessung möglicher Gegenmaßnahmen in Form von solidarisch zu tragenden Sozialleistungen – seien diese nun natural oder finanziell.[15]
Jedoch sprechen in einem sozialstaatlich gezähmten und wirtschaftlich halbwegs gedeihenden Kapitalismus normative Gründe dafür, Bedürftigen ein soziokulturelles Existenzminimum für gesellschaftliche Teilhabe zu garantieren. Daher lässt sich die noch spärlich angelegte Liste der Indikatoren »Ernährung«, »Miete« und »Bedarfsartikel« (Kleidung, Licht und Brennstoff)[16] um geeignete Güter und Dienstleistungen erweitern. Wird dieser Schritt orthodoxen – zum Beispiel wirtschaftsliberalen – Anhängern des Subsistenzkonzeptes politisch abgerungen, gelangt man zum sogenannten Warenkorbmodell. Dabei legen Experten das sozialrechtliche Existenzminimum fest (top down).[17]
Dieses vormundschaftliche Modell wurde lange in Westdeutschland angewandt, bis es Anfang der 1990er Jahre vom derzeitigen »Statistikmodell« abgelöst wurde. Heute stützt sich die Berechnung des Existenzminimums im Rahmen der Sozialgesetzbücher auf das durchschnittliche Konsumverhalten einer Referenzgruppe aus unteren Einkommensschichten (bottom up). Da deren Verhalten faktisch jedoch stets Ausgaben (etwa für Genussmittel) umfasst, die aus subsistenzpolitischer Sicht als nicht existenznotwendig eingestuft und deshalb gestrichen werden, kommt bei der Anwendung des Statistikmodells ebenfalls eine Bevormundung im Geiste des Warenkorbmodells zum Zuge.[18]
Relative Armut
Dagegen kann das relativistische Lager einwenden, dass bereits die Art der Befriedigung physischer Grundbedürfnisse kulturell imprägniert und dem gesellschaftlichen Wandel unterworfen ist. Schon deshalb könne ein »absolutes« Armutskonzept seinem Phänomen gar nicht gerecht werden.
Ein relativer Armutsbegriff kommt aber spätestens mit der soziokulturellen Dimension menschlicher Existenz ins Spiel. Unbestritten ist diese Dimension dem historischen Wandel unterworfen. Die Forschung teilt sich hier in eine empirisch-soziologische und eine anthropologisch-sozialpolitische Richtung. Der britische Sozialwissenschaftler Peter Townsend (1928-2009) bemisst Armutsgrenzen im Verhältnis zum Wohlstandsniveau, den Wertvorstellungen und den Verhaltenserwartungen der jeweiligen Gesellschaft. Danach gilt als arm, wessen Zugang zu Gütern und Dienstleistungen in einem zu bestimmenden Maße vom (veränderlichen) Durchschnitt einer Vergleichsgruppe nach unten abweicht.
Der Sozialwissenschaftler Gerhard Weisser (1898-1989) hingegen rückt mit dem Begriff der »Lebenslage« als Handlungsspielraum zur Erfüllung individueller »Grundanliegen«[19] ein Konzept ins Zentrum, das neben materiell fassbaren Größen wie Einkommen und Vermögen auch nicht rein finanzielle Faktoren wie Gesundheit, Bildung, Wohnsituation und -umfeld einbezieht. Sein Bezugsrahmen für soziale Vernachlässigung ähnelt dem des neueren »Capability«-Ansatzes (Verwirklichungschancenansatz) des Wirtschaftswissenschaftlers Amartya Sen und der Philosophin Martha Nussbaum.[20]
Subsistenz oder Gleichheit?
Hintergründig macht sich der Gegensatz zwischen Subsistenz- und Gleichheitslager im sozialpolitischen Streit bemerkbar, wenn es darum geht, wie genau die Referenzgruppe für das Statistikmodell zugeschnitten oder eine Äquivalenzskala für unterschiedliche Haushaltsgrößen festgelegt wird.[21] Solche Skalen spielen ebenfalls eine Rolle, wenn bestimmt werden soll, ab wann eine Einkommensarmut vorherrscht.
In diesem Fall entzündet sich der Streit an der Wahl des Bezugswertes (Median oder Durchschnitt?) und der Bestimmung des Schwellenwertes (40, 50 oder 60 Prozent).[22] Erreichen Armutsberichte wie die des Paritätischen Gesamtverbandes eine breitere Öffentlichkeit, tritt der Gegensatz offen zu Tage: So definiert der Paritätische Gesamtverband Armut von vornherein relativ als Mangel an sozialer Teilhabe, bestimmt das verfügbare Einkommen als Indikator und wählt – gemäß EU-Standards[23] – einen Schwellenwert von 60 Prozent des Medianeinkommens.[24]
Die Subsistenzanhänger kritisieren an dieser Definition nicht nur die Verwechselung von »Armut« mit »Armutsrisiko«, sondern halten das Thema rundheraus für verfehlt: Gemessen werde nicht Armut, sondern Ungleichheit.[25] Doch ein Relativist bleibt hartnäckig: »Natürlich geht es um Ungleichheit, um Armut als Folge wachsender Ungleichheit bei den Einkommen.«[26]
Was sagt die Menschenwürde dazu?
Das alles bleiben Spiegelfechtereien, solange der Streit nicht auf begrifflicher Ebene ausgetragen wird. Diesbezüglich findet sich zumindest für den Geltungsbereich des Grundgesetzes ein Wegweiser: Das Ergebnis der Diskussion ist daran zu messen, ob es dem (individuell einklagbaren) Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums entspricht. So hat es das Bundesverfassungsgericht im »Hartz-IV-Urteil« von 2010[27] erstmals formuliert und im Urteil zum Asylbewerberleistungsgesetz 2012 der Sache nach auf Nichtbürger mit Aufenthaltsstatus im Bundesgebiet erweitert.[28]
Bei Lichte besehen, handelt es sich um einen doppelten Bezug auf die Menschenwürde: Erstens wird die Würdenorm des Art. 1 Abs. 1 GG als Begründung für ein soziales Grundrecht herangezogen, das mit einer rechtlichen Verpflichtung der Solidargemeinschaft übereinstimmt. Zweitens wird etwas über den Inhalt dieser Verpflichtung gesagt: Nicht bloß nackte Existenz, sondern eine menschenwürdige Existenz sei zu sichern. Dementsprechend wäre von »Armut« unterhalb der Schwelle menschenwürdiger Existenz zu sprechen.
Armut als Würdeverletzung? Psychologische und ethische Demütigung
Aber verpflichtet die Menschenwürde überhaupt zur Gewährleistung einer menschenwürdigen Existenz? Der israelische Philosoph Avishai Margalit hat mit seinem Entwurf einer »Decent Society«[29] (anständigen Gesellschaft) einen besonders im deutschen Sprachraum beachteten Ansatz[30] zur Bestimmung menschlicher Würde eingeführt. Ausgangspunkt seines »negative approach« (negative Bestimmung) sind Phänomene der Erniedrigung oder Demütigung. Dabei unterscheidet er zwischen einer »psychologischen« (deskriptiven) und einer ethischen (normativen) Bedeutung von Demütigung. Wer nämlich jede subjektive Empfindung der Erniedrigung als Zeichen für eine Verletzung der Menschenwürde verstünde, müsste auch das vormoderne Motiv der Blutrache neu bewerten. Da das unvernünftig ist, sollten als würdeverletzend nur Verhaltensformen und Verhältnisse gelten, die »einer Person einen rationalen Grund geben, sich in ihrer Selbstachtung verletzt zu sehen«[31].
Selbstachtung, so Margalit, beruhe im Unterschied zum Selbstwertgefühl nicht auf Leistung, sondern auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Der Teilhabe an der größten Gruppe – der Menschheit – entspricht dann die Menschenwürde als äußerer Aspekt innerer Selbstachtung.[32] Sie kann zum Beispiel dadurch verletzt werden, dass eine Person aus der Menschheit ausgeschlossen oder so behandelt wird, als ob sie ein Tier oder eine bloße Sache sei. Die Frage ist dann, ob die Würde des Menschen durch Armut oder andauernde Vernachlässigung verletzt werden kann. Dafür spricht vordergründig ein solider Befund: Konfrontiert mit Bildern des Elends sprechen wir von »menschenunwürdigen Lebensbedingungen«. Doch ist nicht jede Mangelsituation von demütigender Art – Askese und Verzicht aus freien Stücken scheidet hier ebenso aus wie Armut als Folge einer Naturkatastrophe. Strittige Typen wären selbstverschuldete oder auch strukturelle Armut, sofern sie nicht auf eine demütigende Handlung zurückzuführen ist. Es fehlt also ein unabhängiges Kriterium dafür, wann Armut die Menschenwürde verletzt.
An diesen Punkt verzweigen sich die Interpretationen: Die Philosophen Julia Müller und Christian Neuhäuser knüpfen die Würdeverletzung an Erniedrigungen, denen sich Arme, auch »relativ Arme« in wohlhabenden Gesellschaften, faktisch ausgesetzt sehen können.[33] Allerdings sprechen wir jetzt nicht mehr von würdeverletzender Armut, sondern von der Stigmatisierung von Armen. Problematisch erscheint dann dreierlei: Erstens müssten wir für einen würdeverletzenden Grad an Stigmatisierung (Mobbing) wieder einen psychologischen Schwellenwert bestimmen, der sich unter anderem an der subjektiven Widerstandsfähigkeit der Betroffenen bemisst. Wer, zweitens, aus einer moralisch falschen Reaktion auf ein Phänomen die Bekämpfung desselben ableiten wollte, hätte offenbar auf das falsche Pferd gesetzt. Konsequenterweise müsste er dann nämlich auch in Fällen würdeverletzender Stigmatisierung moralisch unbedeutender Eigenschaften wie Hautfarbe, Geschlecht oder Religionszugehörigkeit auf die Abschaffung dieser Eigenschaften drängen. Das wäre offenbar absurd. Daher bleibt – drittens – offen, wie aus der moralischen Verurteilung beziehungsweise dem Verbot demütigenden Verhaltens eine positive Hilfspflicht erwachsen soll, der mit einem moralischen oder gar positiv-rechtlichen Anspruch der von Armut Betroffenen übereinstimmt.
Einen anderen Weg wählt der Philosoph Peter Schaber, wenn er die Menschenwürde im Sinne eines Rechts auf Selbstverfügung beschreibt. Eine Verletzung der Würde sieht er gegeben, sobald Armut die Betroffenen in eine Abhängigkeit von den Wohlhabenden, in die Rolle von Bittstellern treibt.[34] Auch hier stellt sich die Frage, wie diese Abhängigkeiten normativ bestimmt werden können: Da jeder Typ zwischenmenschlicher Beziehung gewisse Formen der Abhängigkeit, darunter auch viele ungleiche (Eltern – Kind, Lehrer – Schüler, Ärztin – Patientin, Arbeitgeber – Arbeitnehmer) miteinbezieht, beschränkt Schaber die würderelevanten Formen auf solche, in denen »es um lebenswichtige Güter geht«[35], die für Betroffene allein über einseitige Abhängigkeit zugänglich sind. Kurz: Nur wer um sein Überleben betteln muss, sieht sich in seiner Menschenwürde verletzt. Fraglich ist daher, ob diesem Konzept Verpflichtungen zur Armutsbekämpfung zu entnehmen sind, die über Rowntrees spärliche Subsistenzschwelle hinausreichen. Überdies scheint es all jene von einer Garantie menschenwürdiger Existenz auszuschließen, die aktuell noch nicht oder nicht mehr die Fähigkeit zur Selbstverfügung besitzen, also auch kein Recht darauf beanspruchen können (zum Beispiel Kleinkinder oder Alterssenile).
Fähigkeiten zur menschenwürdigen Lebensführung
Sen und Nussbaum schlagen vor, Fähigkeiten beziehungsweise Verwirklichungschancen zur Bemessungsgrundlage menschlichen Elends und Wohlergehens zu machen. Normativ besonders ambitioniert, verknüpft Nussbaums Ansatz mit der menschlichen Würde ein Anrecht aller Menschen auf soziale Teilhabe, die ein menschenwürdiges Leben ermöglicht. Dabei klärt sie einerseits die (notorisch vage) Idee der Menschenwürde anhand einer Reihe zentraler menschlicher Fähigkeiten.[36] Andererseits sieht sie jeden Staat in der Pflicht, für die Entwicklung und den Erhalt dieser Fähigkeiten seiner Bürgerinnen und Bürger bis zu einem Schwellenwert zu sorgen, wobei reichere den ärmeren Staaten helfen sollen.[37] Als zentral stuft sie zehn Fähigkeiten ein, und zwar, ein Leben von normaler Dauer zu führen, bei Gesundheit zu sein, körperliche Integrität zu wahren, die Sinne, das Denken und Gefühle zu entwickeln, eine Vorstellung des Guten zu entwerfen, mit anderen und für andere zu leben, Selbstachtung zu entwickeln, an nichtmenschlichen Lebewesen Anteil zu nehmen und politisch zu partizipieren.[38]
Natürlich hat ihre Liste eine ganze Reihe von Fragen aufgeworfen, etwa nach dem Umfang, dem genaueren Zuschnitt ihrer Elemente und der gegenseitigen Aufrechenbarkeit. Umstritten ist vor allem, ob die Auswahl und genauere Bestimmung von Fähigkeiten ohne eine substantielle (und deshalb umstrittene) Idee des guten Lebens überhaupt gelingen kann. Mittlerweile dem politischen Liberalismus von John Rawls zugewandt, will Nussbaum Neutralität gegenüber den verschiedenen Ideen des Guten wahren.[39] Wie aber lassen sich dann die würderelevanten Fähigkeiten selektieren und genauer bestimmen? Zumindest an einer Stelle schlägt Nussbaum vor, die Idee der Menschenwürde selber heranzuziehen, um zu prüfen, ob eine Fähigkeit als zentral gelten soll oder nicht. Danach verbleiben diejenigen Fähigkeiten, deren »Verlust ein Leben menschenunwürdig macht«[40]. Wenn aber die Idee der Menschenwürde anhand derjenigen Fähigkeiten beschrieben und konkretisiert werden soll, zu deren Auswahl sie ihrerseits herangezogen wird, droht dann nicht eine zirkuläre Argumentation?
Menschenwürde als Status
Schwierigkeiten wie diese haben den Philosophen und Politikwissenschaftler Rainer Forst dazu bewogen, den Begriff der Menschenwürde weder direkt an Formen der Demütigung noch an Vorstellungen des guten Lebens oder der Selbstverwirklichung zu koppeln. Stattdessen verortet er ihn auf der übergeordneten Ebene der Rechtfertigung menschlichen Verhaltens und sozialer Verhältnisse. »Würde« bezeichnet nach dieser Auffassung zunächst den Status von Personen, die wechselseitig ein »Recht auf Rechtfertigung« für alle Handlungen und Unterlassungen geltend machen können, die sie in moralisch relevanter Hinsicht betreffen.[41] Gewiss, beim Blick auf »Personen« melden sich an dieser Stelle erneut ernsthafte Bedenken: Welchen Status haben die Vielen am Anfang und am Ende des Lebens, die physisch oder psychisch Kranken, die ein solches Recht noch nicht oder nicht mehr einfordern können?
Forst jedenfalls bezieht die grundlegende Frage der Gerechtigkeit nicht primär darauf, was jemand hat oder nicht hat, sondern darauf, wie er behandelt oder eben ignoriert wird. Sieht sich jemand gezwungen, in Armut zu leben, verletzen nicht nur diejenigen seine Würde, die ihn ins Elend getrieben haben, sondern auch jene, die seine Lage verbessern könnten, ohne es zu tun. Nach diesem Verständnis schließt die Achtung der Menschenwürde zwar grundsätzlich die Pflicht jeder Person zur aktiven Hilfe ein, so sie dazu in der Lage ist.[42] Doch erschöpfen sich die normativen Auswirkungen des Statusbegriffs der Würde keineswegs in Forderungen der gerechten Verteilung von Ressourcen und Lebenschancen sowie der damit verbundenen Rollenzuweisung von wohlmeinenden Gebern und passiven Empfängern. Als Zentralbegriff einer »kritischen Theorie« der Rechtfertigungsverhältnisse[43] beinhaltet die Würde zugleich ein Recht auf aktive, und zwar gleiche Mitsprache in allen wesentlichen Belangen. Sei es nun national bei der Festlegung von Art und Umfang der Hilfe in Not oder international bei der Festlegung institutioneller Rahmenbedingungen für die Produktion und Verteilung von Gütern, Patenten und Lizenzen.
Ein solches Autonomiekonzept der Menschenwürde wird von einer Kritik an bevormundender Sozialpolitik vorausgesetzt. Es liefert die Grundlage für die Argumentation gegen eine Politik, die Armutsschwellen »von oben« festlegt, Hartz-IV-Sätze durch Privilegierte im Blick auf die eigene Klientel für zureichend erklärt oder auch Bedürftige arbeitsmarktpolitisch diszipliniert. Darauf kann sich auch berufen, wer die Praxis mächtiger Staaten anprangert, die in globalen Produktions- und Handelsverträgen arme Länder in die Rolle von Rohstoff- und Arbeitskraftlieferanten zwingen, über das Regime der Welthandelsorganisation (WTO) ihre eigenen Märkte gegen billige Importe schützen und für korrupte Eliten im globalen Süden Anreize schaffen, die nationalen Ressourcen eigennützig zu plündern.[44]
Kurz: Eine Existenz am Limit, sofern sie Produkt sozialer, politischer oder ökonomischer Aktivitäten oder Verhältnisse ist, die nicht gegenüber allen aus gutem Grund gerechtfertigt werden können, missachtet die Menschenwürde.
Autor:innen
Universität Greifswald
Forschungsschwerpunkte
Praktische Philosophie: Ethik, Politische Philosophie und Philosophie der Menschenrechte