Krieg mitten in Europa! Der Schock zeigt sich auch in der Berichterstattung. Der russische Einmarsch in die Ukraine beherrscht seit Monaten die Schlagzeilen. Was hingegen in deutschen Nachrichten extrem selten vorkommt: die vielen anderen Kriege. Auch sie kosten Menschenleben, lösen Hunger und Seuchen aus, machen Kinder, Mütter und Väter heimatlos. Warum berichtet darüber kaum jemand, während zur Ukraine 24-Stunden-Ticker eingerichtet werden? Das sei Rassismus, meinen einige. Sterben keine weißen Europäer:innen oder Amerikaner:innen, würde nicht berichtet. Andere Stimmen beklagen hingegen, die intensive Bericherstattung zeige, dass deutsche Medien gegenüber Russland voreingenommen seien. Über die Invasion der USA in den Irak sei damals nicht so intensiv berichtet worden. Statt den Medien pauschal Manipulation zu unterstellen, gibt jedoch ein Blick in die Medienwissenschaften Aufschluss. Es gibt gut erforschte Gründe für dieses Aufmerksamkeitsmuster. Laut der sogenannten Nachrichtenwerttheorie erhöhen bestimmte Faktoren die Wahrscheinlichkeit, dass Medienmachende ein Ereignis aufgreifen. Etwa die kulturelle und räumliche Nähe, die Überraschung oder das Ausmaß des Schadens – aber auch die Eindeutigkeit und Einfachheit, mit der sich das Phänomen beschreiben lässt. Im Klartext: Tod und Zerstörung in Europa oder Nordamerika erlangen besonders häufig Aufmerksamkeit. Plötzliche, schockierende Ereignisse kommen dabei eher vor als langwierige, komplexe Krisen. Der Krieg im Jemen, die über Jahre entstandene Konstellation von Rebellen, Terror und Opposition im Kongo oder in Nigeria – demnach zu weit weg und zu kompliziert. Die Problematik zeigt sich im Fall der Ukraine selbst. Dass im Donbass seit 2014 ein Krieg herrscht, der bereits Tausende Todesopfer forderte, war in deutschsprachigen Nachrichten eher eine Randnotiz. Mit der russischen Invasion hat sich das geändert. Plötzlich hat die Berichterstattung über diesen Krieg unmittelbare Relevanz, Menschen in Europa fürchten sich vor einer Eskalation bis hin zu einem Atomkrieg. Auch die Frage, wie die deutsche Politik einen Waffenstillstand voranbringen könnte, berührt unmittelbar die Lebenswirklichkeit und Sicherheit innerhalb Deutschlands. Es existiert ein klares Schema von Gut und Böse und viele Berichte von Betroffenen. Dieses Muster der journalistischen Aufmerksamkeit hat problematische Folgen. Es führt dazu, dass weiße Europäer:innen vor allem über Menschen berichten, die ihnen ähnlich sind. Aus der Forschung ist bekannt: Je intensiver über Kriege oder Katastrophen berichtet wird, desto höher ist die Spendenbereitschaft. Wo es keine Aufmerksamkeit gibt, gibt es auch keine Hilfe. Ist das rassistisch? Vielleicht ja, teils ohne dass dahinter böse Absicht steht. Vor allem aber ist es eines: gut erklärbar. Aktuelle Ausgabe KATAPULT ist gemeinnützig und unabhängig. Wir finanzieren uns durch Spenden und Abos. Unterstütze unsere Arbeit und abonniere das Magazin gedruckt oder als E-Paper ab 19,90 Euro im Jahr! KATAPULT abonnieren