Sinti und Roma sind die unbeliebteste Minderheit in Deutschland. Sie stoßen auf noch mehr Ablehnung als Muslime. 56 Prozent der Deutschen wollen keine Sinti und Roma in ihrer Gegend, fast genauso viele wollen sie sogar aus den Innenstädten verbannen. Das ist das Ergebnis der Leipziger Autoritarismus-Studie, einer repräsentativen Befragung zu autoritären und rechtsextremen Einstellungen in der deutschen Bevölkerung. Ein Grund für die Abneigung ist die Überzeugung von über 60 Prozent der Befragten, dass Angehörige dieser Minderheit zu Kriminalität neigten. Auch in anderen europäischen Ländern haben Menschen sogenannte antiziganistische Einstellungen. In mindestens zehn europäischen Ländern hat mehr als die Hälfte der Bevölkerung eine schlechte Meinung über Roma. In Italien ist der Anteil mit 83 Prozent am größten. Grafik herunterladen Grafik herunterladen Antiziganismus – so wird diese Form des Rassismus genannt – richtet sich gegen sogenannte Romvölker, das heißt gegen Roma, Sinti, Fahrende, Jenische und andere Bevölkerungsgruppen, die von der Mehrheitsgesellschaft häufig als »Zigeuner« bezeichnet werden. International wird die Eigenbezeichnung »Sinti und Roma« als Sammelbegriff verwendet. »Sinti« bezeichnet dabei die in Mitteleuropa seit dem späten Mittelalter beheimateten Angehörigen dieser Minderheit, »Roma« jene ost- beziehungsweise südosteuropäischer Herkunft. »Zigeuner« ist eine rassistische Fremdbezeichnung Der Begriff »Zigeuner« ist eine Fremdbezeichnung, die von den meisten Angehörigen der Minderheit als diskriminierend empfunden wird. Das liegt daran, dass der Begriff seit Langem extrem negativ konnotiert ist. Noch 1986 verwies der Duden unter »Zigeuner« auf die Einträge »Abschaum« und »Vagabund«. Die Wortherkunft ist unklar. Vor diesem Hintergrund benannte die Firma Knorr im August 2020 ihre Gewürzsauce um. Aus »Zigeunersauce« wurde »Paprikasauce Ungarische Art«. Der alte Produktname könne negativ interpretiert werden, erklärte der Konzern Unilever, zu dem Knorr gehört. Viele reagierten empört. In der Kommentarspalte der Homepage der »Welt« etwa schrieb ein Leser: »Wenn diese super empfindlichen Sensibelchen alles auf Teufel komm raus auf sich beziehen brauchen sie dringend Hilfe – aber von einem anderem Spezialisten, als von einem Sprachexperten.« Andere Hersteller erklärten auf KATAPULT-Nachfrage, dass sie nachziehen wollten. Die Debatte um diskriminierende Namen wird genauso vehement wie kontrovers geführt. Viele Saucenfans können nicht verstehen, wieso Sinti und Roma sich von dem Produktnamen »Zigeunersauce« diskriminiert fühlen. Das Problem: Wenn diskriminierende Namen weiter verwendet werden, sorgt das auch dafür, dass Vorurteile bestehen bleiben. Klischees werden als solche meist gar nicht erkannt und immer wieder reproduziert. So auch in einigen Medien. Verschiedene Studien und Gutachten zeigen, dass es in vielen Reportagen, Zeitungsartikeln und Talkshows antiziganistische Darstellungen und Aussagen gibt. Grafik herunterladen Reportage erfüllt alle Kriterien der Volksverhetzung Ein Beispiel hierfür ist eine Reportage mit dem Titel »Roma: Ein Volk zwischen Armut und Angeberei«, die der Fernsehsender Sat. im August 2019 ausstrahlte. Produziert wurde sie von »Spiegel TV«. Zu sehen waren Roma-Familien mit Ratten auf Müllhalden. Weitere Schwerpunkte des Films waren Clankriminalität und Armut. Roma und Sinti, die nicht den Vorurteilen entsprechen, regulär wohnen und arbeiten, wurden hingegen kaum gezeigt. Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma kritisierte die Produktion heftig und legte eine Programmbeschwerde ein. Hans-Joachim Funke, emeritierter Professor für Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin, verfasste daraufhin ein Gutachten zu der Sendung. Sein Urteil: Die Reportage erfülle alle Kriterien der Volksverhetzung. »Dieser Film bedient das Arsenal der Vorurteile gegenüber Sinti und Roma [...]. Er widerspricht allen journalistischen Kriterien von Fairness, Ausgewogenheit und Aufklärung.«8 Trotz der Kritik stellte die Landeszentrale für Medien und Kommunikation Rheinland-Pfalz das Verfahren ein – ohne jede Anhörung der Beschwerdeführer. Grafik herunterladen Fast die Hälfte der Zeitungsartikel diskriminierend Wie weitverbreitet solche diskriminierenden Darstellungen von Romvölkern in den deutschen Medien sind, zeigt das Medienmonitoring der Dokumentationsstelle Antiziganismus (Dosta) der Jugendorganisation »Amaro Foro«. In Zusammenarbeit unter anderem mit der Gesellschaft für Antiziganismusforschung analysierte die Dosta Artikel über Roma aus als relevant erachteten Berliner Zeitungen in den Jahren 2014 bis 2018, darunter der »Tagesspiegel«, die »Berliner Zeitung« und die »Berliner Morgenpost«. Für die Jahre 2016 und 2017 gibt es quantitative Auswertungen. Ergebnis: Von den 130 gesichteten Artikeln aus dem Jahr 2016 stuft der Bericht 63 Artikel als diskriminierend ein, 38 als positiv beziehungsweise empathisch gegenüber den Problemen der Minderheit und die restlichen 29 Artikel als neutral. Wurde über Roma berichtet, ging es in knapp der Hälfte der Fälle um Obdachlosigkeit oder Kriminalität. Die als diskriminierend eingestuften Artikel fanden sich in allen untersuchten Zeitungen, die als positiv eingestuften Beiträge überwiegend in der »taz« und in »Neues Deutschland«. Auch für das Jahr 2017 bewertete Dosta fast die Hälfte der gesichteten Artikel (51 von 105) als diskriminierend. Bilder von Roma in den Nachrichten: langer Rock, buntes Kopftuch und Müll Wie genau Medien diskriminieren, untersuchte der Politikwissenschaftler Markus End. Für eine Studie analysierte er verschiedene Talkshows, Nachrichtenbeiträge und Reportagen, unter anderem von »Spiegel TV« und Formate von ARD, ZDF und WDR. Auch er kommt zu dem Ergebnis, dass Antiziganismus in der medialen Berichterstattung häufig auftritt – teilweise explizit und leicht zu erkennen, aber auch subtil und versteckt. Das geschehe zum Beispiel über die Auswahl der gezeigten Bilder. Bei der Berichterstattung werden überwiegend solche Aufnahmen verwendet, die bestehende Klischees und Stereotypen bedienen. Die gezeigten Personen tragen oft Röcke und Kopftücher, betteln und haben viele Kinder. Ein häufig gezeigtes Motiv ist außerdem Müll. Sinti und Roma würden so in Verbindung mit Schmutz und Verwahrlosung gebracht. Das Ergebnis dieser Verknüpfung: »Mit der häufigen Darstellung von ›Müll‹ wird [...] das Stereotyp der ›schmutzigen Zigeuner‹ reproduziert.« Verletzung journalistischer Sorgfaltspflicht End identifizierte verschiedene Techniken, die verwendet wurden, um die Müllmenge in den untersuchten Reportagen und Berichten dramatischer zu gestalten: Normaler und üblicher Abfall, der in anderen Situationen nicht als Beleg für Verschmutzung dienen würde, wird etwa so inszeniert, dass sein Ausmaß übertrieben erscheint. So wird Abfall, der sich in Mülltonnen – also am richtigen Ort – befindet, beispielsweise mehrfach gezeigt. Oder es werden den Beiträgen Archivaufnahmen von Abfall hinzugefügt. Diese Technik ist für den Autor der »deutlichste Bruch mit der journalistischen Sorgfaltspflicht«. Amaro Foro weist außerdem darauf hin, dass die Müllentsorgung Aufgabe von Kommunen und Hausverwaltungen sei: »Bei einem von Deutschen bewohnten Haus würde man sich in einem solchen Fall wohl über die Müllabfuhr aufregen, nicht über die Mieter*innen.« Neben der stereotypen Bildauswahl reproduziere auch die Themenauswahl der Berichte das Klischee armer und krimineller Sinti und Roma, so End. Studien und Berichte aus Österreich und der Schweiz bestätigen diese Analyse. Auch in den dortigen Medien wird über Roma und Sinti oft im Kontext von Armut und Kriminalität berichtet. In welchen Rollen sie in den Nachrichten überwiegend erscheinen, hat eine Studie aus Ungarn untersucht. Hierzu wurden ungarische Nachrichtenbeiträge aus den Jahren 2014 und 2015 analysiert. Die Auswertung ergab: In fast der Hälfte der Fälle wurden Kinder oder »normale« Personen gezeigt, in 15 Prozent waren es Künstler oder Musiker, in keinem Fall als Politiker oder unabhängiger Experte. Die Berichterstattung habe sich seit Mitte der 1990er kaum verändert, so die Autoren. Tatsächlich seien die Roma aber auch aus politischen Ämtern verschwunden. Eine Antwort auf die Frage, warum das so ist, bleibt die Studie schuldig. Grafik herunterladen Grafik herunterladen Ersetzt man das Wort »Roma« durch das Wort »Friese«, macht der Satz keinen Sinn mehr
End zufolge ist die Berichterstattung aber häufig nicht willentlich diskriminierend. Medienschaffenden fehle es schlicht an Sensibilität für antiziganistische Darstellungen. Daran habe sich bis heute nichts geändert, so der Politikwissenschaftler gegenüber KATAPULT. Nach wie vor sei die Berichterstattung – beispielsweise aufgrund einer stereotypen Bildauswahl – diskriminierend. Da antiziganistische Einstellungen in vielen Teilen der Bevölkerung verankert seien, brauche es eine bewusste Entscheidung, die eigene Berichterstattung zu hinterfragen. Wie weitverbreitet Antiziganismus ist und gleichzeitig subtil kommuniziert wird, verdeutlicht End an einem Beispiel: »In der Berichterstattung, auch der Frankfurter Rundschau übrigens, über das Occupy-Camp in Frankfurt hieß es immer, dort lebten ›Aktivisten, Obdachlose und Roma‹. Die ›Aktivisten‹ waren im Camp politisch aktiv, die ›Obdachlosen‹ suchten Obdach, das erklärt sich. Aber was war mit den ›Roma‹? Waren das auch Aktivist_innen, waren sie als Anwält_innen dort oder warum? Ersetzen Sie den Satz durch: ›Im Camp lebten Aktivisten, Obdachlose und Friesen‹ – und er ergibt keinen Sinn mehr. Der Test macht also im konkreten Fall deutlich, wie sehr mit dem Wort ›Roma‹ bereits das Stereotyp ›arme Menschen, die Obdach suchen und nicht politisch aktiv sind‹ mitschwingt.« Antiziganismus hat Tradition in Europa Warum werden gerade Sinti und Roma auf diese Weise angefeindet, und seit wann gibt es Antiziganismus? Der Literaturwissenschaftler Klaus-Michael Bogdal fand heraus, dass die heute gängigen Vorurteile über Romvölker schon mindestens seit der Mitte des 17. Jahrhunderts existieren. Schon damals galten Sinti und Roma als Bettler, Kinderräuber und Prostituierte. Ihr Äußeres, ihre Kleidung und ihre Essgewohnheiten wurden als unzivilisiert beurteilt. Bogdal erklärt, dass die Diskriminierung der Minderheit noch deutlich zunahm, als im 19. Jahrhundert die ersten Nationalstaaten entstanden. Die in Europa teilweise nomadisch lebenden Romvölker, die vermutlich im Mittelalter aus Asien eingewandert waren, dienten den jungen Nationen als Negativbeispiel. Auch der deutschen, betont Markus End. Sinti und Roma waren schon immer staatenlos. »Verwurzelte Deutsche« und »ortlose Zigeuner« hätten sich zu zwei scheinbar gegensätzlichen Gruppen entwickelt. Diese Abgrenzung sei ein zentraler Teil des Antiziganismus. Genauso weitverbreitet ist die Annahme, Sinti und Roma würden auf Kosten anderer leben. Sie würden gar nicht erst arbeiten wollen – ganz anders als die »fleißigen Deutschen«. Dass die Romvölker arm sind, hätten sie also selbst zu verschulden. In der antiziganistischen Denkweise werden ihnen Tätigkeiten wie Betteln, Stehlen und Betrügen zugeschrieben. Das Klischee umfasst noch viele weitere Stereotype: kein Interesse an Bildung und wenn sie mal Geld hätten, würden sie es für sinnlose Dinge und Feste ausgeben. Sinti und Roma waren schon immer das, was man nie sein möchte, aber was man werden kann, wenn man sozial absteigt. Im Nationalsozialismus erreichte die antiziganistische Diskriminierung ihren Höhepunkt. Sinti und Roma wurden systematisch verfolgt, eine halbe Million ermordet. Grafik herunterladen Narrativ: Früher betteln, heute Sozialleistungen erschleichen Angehörige der Minderheit fühlen sich noch heute in vielen gesellschaftlichen Bereichen diskriminiert. Viele sind aufgrund ihrer ethnischen Herkunft Beleidigungen und körperlichen Angriffen ausgesetzt. Große Teile der Sinti und Roma sind bei der Job- und Wohnungssuche benachteiligt, leben in Häusern ohne fließendes Wasser und Strom, haben nur eine mangelnde Krankenversicherung oder leiden Hunger.
In einer Studie der Europäischen Agentur für Grundrechte gaben durchschnittlich 40 Prozent der befragten Roma aus neun EU-Ländern an, dass sie sich in den letzten fünf Jahren bei der Wohnungssuche benachteiligt gefühlt hätten, weil sie Roma sind. 41 Prozent der Männer und 37 Prozent der Frauen berichteten jeweils von mehr als sechs Fällen innerhalb des letzten Jahres vor der Befragung, in denen sie aufgrund ihrer Abstammung bedroht wurden. In Deutschland wird ihnen vor allem Trickbetrug und der Missbrauch von Sozialleistungen vorgeworfen. Das alte Vorurteil umherziehender Bettler wurde einfach aktualisiert: Heute werden Sinti und Roma oft verdächtigt, Sozialleistungen zu »erschleichen«. Grafik herunterladen Markus End erklärt, dass Vorurteile dann antiziganistisch sind, wenn sie nur der Gruppe der Sinti und Roma zugeschrieben werden. Dass zu ihr arme und reiche, konservative und moderne, alte und junge Menschen gehören, ist dabei nicht von Bedeutung. Selbst im öffentlichen Gedenken der Opfer des Nationalsozialismus bekommt die Minderheit seit Jahrzehnten wenig Aufmerksamkeit. Die Verbrechen, die in Nazideutschland an ihnen verübt wurden, sind vor allem jüngeren Deutschen teils immer noch unbekannt. So ergab die letzte Befragung im Jahr 2014 zu Einstellungen der Bevölkerung gegenüber Sinti und Roma, dass unter den 25- bis 34-Jährigen nur 67 Prozent von den Verfolgungen wussten. Ob sich daran heute etwas geändert hat, ist schwer zu sagen. In den letzten sechs Jahren wurde offenbar keine weitere Untersuchung dazu durchgeführt. Um den Antiziganismus in der Gesellschaft zu bekämpfen, hat das Bundesinnenministerium 2019 die »Unabhängige Kommission Antiziganismus« eingerichtet, zu der auch Markus End gehört. Für ihn ist es zunächst wichtig, ein Bewusstsein für die strukturelle Diskriminierung von Sinti und Roma zu schaffen – auch in den Medien. Er versteht sein Gutachten darum auch als eine Hilfestellung für Medienschaffende, ihre eigene Berichterstattung zu reflektieren. Ganz praktisch schlägt er vor, Bilddatenbanken so zu verändern, dass sich darin »nicht nur rassistische Bilder« befinden. Amaro Foro bietet zum Thema Antiziganismus kostenlose Workshops zur Sensibilisierung von Medienschaffenden an. Den Titel dieses Artikels aus Heft 19 haben wir für Online geändert. Transparenzhinweis: In der ersten Version war die Farben in der Grafik "Offene Ablehnung von Minderheiten" bei Litauen fehlerhaft. Wir haben dies verbessert. Aktuelle Ausgabe KATAPULT ist gemeinnützig und unabhängig. Wir finanzieren uns durch Spenden und Abonnements. Abonnieren Sie das gedruckte Magazin für nur 19,90 Euro im Jahr. KATAPULT abonnieren