Mehr als fünf Millionen Menschen in der äthiopischen Region Tigray sind nach UN-Schätzungen auf humanitäre Hilfe angewiesen, etwa zwei Millionen Menschen wurden vertrieben. Seit November 2020 wütet in Tigray ein Krieg zwischen der Regierungsarmee, ihren Verbündeten und den Rebellen der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF). Es kam zu zahlreichen schweren Menschenrechtsverletzungen, darunter Massaker an der Zivilbevölkerung. Das äthiopische Außenministerium behauptet mittlerweile, dass die Militäroperation abgeschlossen sei, doch die Lage bleibt kritisch. Bevor der Konflikt ausbrach, schätzte das Famine Early Warning System Network der US-amerikanischen Behörde für internationale Entwicklung die Nahrungssituation in Tigray als stabil ein. Nun warnt es vor einer Hungerkrise.

Journalisten werden von der Regierung an freier Berichterstattung aus der Region gehindert. Entsprechend schwierig ist es, verlässliche Informationen zur Lage in Tigray zu sammeln. Wissenschaftler der an der Tufts University angesiedelten World Peace Foundation machen die äthiopische Regierung und ihre Verbündeten für die humanitäre Situation verantwortlich: Sie nutzen Hunger als Waffe – ein Kriegsverbrechen. Die Autoren des Berichts stützen sich auf Augenzeugen- und Medienberichte, die Arbeit von Menschenrechtsorganisationen, Einschätzungen der UN und die Analyse von Satellitenbildern.

Plünderungen, Brandschatzungen und systematischer Raub von Vermögenswerten habe viele Haushalte in Tigray mittellos zurückgelassen und ihre Möglichkeiten, Einkommen zu erzielen und Nahrungsmittel zu beschaffen, eingeschränkt. Vertriebene berichten von Drohungen gegen Bauern, zerstörtem Werkzeug, geraubtem Vieh und niedergebrannten Feldern. Zudem hat der Konflikt den Verkauf von Agrarprodukten, landwirtschaftliche Aktivitäten allgemein und die Arbeitsmigration gestört. Die Vereinten Nationen beklagen zudem, dass der Zugang für humanitäre Helfer weiter unvorhersehbar sei. Vermehrt komme es zu Vorfällen, bei denen der Transport von Hilfsgütern verweigert wird und Fahrzeuge und ihre Ladung von den Konfliktparteien beschlagnahmt werden. Der Sturz der TPLF Die TPLF hatte die äthiopische Politik fast drei Jahrzehnte lang dominiert und das regierende Parteienbündnis Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen Völker (EPRDF) angeführt. In dieser Zeit war das Land eine repressive Autokratie, in vielen Teilen des Landes ist die TPLF verhasst. 2018 verbündeten sich ihre Koalitionspartner gegen die Gruppe. Abiy Ahmed gelangte an die Spitze der EPRDF, übernahm das Amt des Regierungschefs und stieß Reformen an. Mit dem Nachbarn Eritrea legte er einen jahrzehntealten Konflikt bei, die Macht der TPLF versuchte er einzudämmen.

Bald darauf formte Abiy die neue Wohlstandspartei, der sich alle einstigen EPRDF-Fraktionen angeschlossen haben – mit Ausnahme der TPLF, die sich gegen die Regierung wandte und ihren Machtverlust nicht hinnehmen wollte. Als aufgrund der Corona-Pandemie die nationalen Wahlen in Äthiopien verschoben wurden, ließ Tigray einen regionalen Urnengang abhalten, den Abiy für illegal erklärte. Dann warf er der TPLF vor, einen wichtigen Militärstützpunkt der Bundesregierung angegriffen zu haben, und startete eine massive Offensive, um die Gruppe zu verdrängen. Dabei erhielt er auch Eritreas Unterstützung, dessen Diktator Isaias Afwerki ein langjähriger Feind der TPLF ist. Neben den Soldaten aus dem Nachbarland sind auch Milizen in Tigray an der Seite der Regierungstruppen aktiv.

Mukesh Kapila, ein ehemaliger UN-Beamter im Sudan und Experte für Krisen- und Konfliktmanagement, warnte im Daily Telegraph: „Wenn Sie sich das Muster der Tötungen und anderer Vorfälle ansehen, einschließlich sexueller Gewalt, dem Einsatz von Hunger – dann gibt es ein Muster genozidaler Ereignisse. Sie finden in enger Nachbarschaft zueinander statt. Das deutet auf ein gewisses Maß an Orchestrierung hin.“

Mit dieser Einschätzung ist Kapila nicht alleine. Viele weitere Beobachter, wie die äthiopische Journalistin Tsedale Lemma vom Nachrichtenmagazin Addis Standard, warnen, dass die Menschenrechtsverletzungen in Tigray teilweise einen genozidalen Charakter hätten. In Addis Ababa weist man die meisten Vorwürfe von sich. Abiy erklärte im März jedoch auch: “Wir kennen die Zerstörung, die dieser Krieg verursacht hat. Ungeachtet der TPLF-Propaganda der Über­treibung wird jeder Soldat, der für die Vergewaltigung unserer Frauen und die Plünderung von Gemeinschaften in der Region verantwortlich ist, zur Re­chenschaft gezogen, da seine Mission darin besteht, sie zu schützen.“ Aktuelle Ausgabe KATAPULT ist gemeinnützig und unabhängig. Wir finanzieren uns durch Spenden und Abos. Unterstütze unsere Arbeit und abonniere das Magazin gedruckt oder als E-Paper ab 19,90 Euro im Jahr! KATAPULT abonnieren