Die Lebenserwartung in den Vereinigten Staaten sinkt. Treiber dieser Entwicklung sind sogenannte Tode aus Verzweiflung: Überdosen, Selbstmorde und Alkoholismus. Was tun? Die Mindestlöhne erhöhen, argumentieren linke Politiker wie der Präsidentschaftskandidat Bernie Sanders. Dafür setzen sich derzeit im ganzen Land Aktivisten ein. Dabei beziehen sie sich nun auch auf eine Studie aus dem “Journal of Epidemiology and Community Health”, die jüngst viel Medienaufmerksamkeit erhielt und eine kleine Debatte auslöste. John A. Kaufman, ein Doktorand der Epidemiologie an der Emory Universität in Atlanta, hatte mit seinen Co-Autoren die Entwicklung von lokalen Mindestlöhnen, Suizidraten sowie anderer Faktoren wie der Arbeitslosenquote in allen 50 US-Bundesstaaten im Zeitraum von 1990 bis 2015 verglichen. Die Autoren kamen zu dem Schluss: Ein Anstieg des Mindestlohns um einen US-Dollar könne die Suizidrate unter den 18- bis 64-Jährigen, die höchstens die Highschool abgeschlossen haben, um 3,5 Prozent senken. Ein weiterer Anstieg der jeweiligen bundesstaatlichen Mindestlöhne um diesen einen Dollar hätte im Untersuchungszeitraum demzufolge 27.550 Selbstmorde verhindern können. Eine auffällige Beobachtung der Autoren: Ein höherer Mindestlohn schien die Suizidrate dann besonders deutlich zu beeinflussen, wenn zugleich die Arbeitslosigkeit im jeweiligen Bundesstaat besonders hoch war. Als Kontrollgruppe dienten Kaufman und seinen Kollegen Amerikaner mit mindestens einem College-Abschluss, da bei ihnen die Wahrscheinlichkeit gering sei, dass sie von Änderungen des Mindestlohns betroffen sind. Zudem kontrollierten die Forscher ihre Ergebnisse im Hinblick auf andere mögliche Einflüsse Faktoren wie Veränderungen von Sozialhilfeleistungen, Arbeitslosenquote, Wirtschaftskraft und persönlichem Einkommen. Kaufman selbst räumt ein, dass er und seine Kollegen mit ihrer Beobachtungsstudie vor allem eine deutliche Korrelation aufgezeigt, einen Kausalzusammenhang jedoch nicht bewiesen hätten. Das heißt: Dass es einen Zusammenhang zwischen Mindestlohn und weniger Suiziden gibt, lässt sich wissenschaftlich belegen. Unklar bleibt aber, inwiefern ein erhöhter Mindestlohn wirklich eine geringere Selbstmordrate begründet. Mehrere andere Wissenschaftler sowie konservative Politiker kritisierten die Studie deshalb. Andere Forscher verteidigten sie als solide Arbeit und gaben zu bedenken, dass es nahezu unmöglich sei, den Kausalzusammenhang für eine solche Korrelation endgültig zu beweisen, weil die Zahl möglicher Störfaktoren schier unüberschaubar sei und man unmöglich alle ausschließen könne. Wie Kaufman im Rahmen seiner Untersuchung anmerkt, liegen noch zwei weitere Studien vor, die in jüngster Zeit zu ähnlichen Ergebnissen wie er gekommen sind. Der Ökonom William H. Dow von der Universität von Kalifornien Berkeley und seine Co-Autoren untersuchten in einem Working Paper Daten aus dem Zeitraum 1999 bis 2015. Ihr Ergebnis: Ein Anstieg des Mindestlohns um 10 Prozent könnte die Selbstmordrate um 3,6 Prozent senken. Auch ihre Zahl bezieht sich auf Menschen zwischen 18 und 64 Jahren, die höchstens einen Highschool-Abschluss haben. Der Effekt betreffe aber ausschließlich Selbstmorde: Die Zahl der Drogentoten blieb von einem höheren Mindestlohn unberührt. Auch dieser Studie dienen Menschen mit College-Abschluss als Kontrollgruppe. Zudem testeten die Autoren, wie sich eine zehnprozentige Erhöhung des „Earned Income Tax Credit“ auswirkt. Bei diesem Modell werden Niedriglöhne durch staatliche Subventionen aufgestockt. Diese Maßnahme senke den Wissenschaftlern zufolge die Selbstmordrate sogar um 5,5 Prozent. Im “American Journal of Preventive Medicine” untersuchte eine Gruppe von Doktoranden Daten für den Zeitraum 2006 und 2016. Sie stellten fest, dass die jährliche Selbstmordrate in der Gesamtbevölkerung durch einen um einen Dollar höheren Mindestlohn um 1,9 Prozent sinken könne. Die Autoren kontrollierten ihre Ergebnisse auf die Einflüsse von anderen Gesundheits- und Wirtschaftsfaktoren sowie den staatlichen Ausgaben für die Gesundheitsfürsorge. Im Unterschied zu den anderen Studien differenzieren sie jedoch nicht nach Bildungsgrad. Und auch hier geben die Autoren zu bedenken, dass der Kausalzusammenhang durch ihre Untersuchungen nicht bewiesen sei. Haben Sie suizidale Gedanken oder haben Sie diese bei einem Angehörigen/Bekannten festgestellt? Hilfe bietet die Telefonseelsorge: Anonyme Beratung erhält man rund um die Uhr unter den kostenlosen Nummern 0800 / 111 0 111 und 0800 / 111 0 222. Aktuelle Ausgabe KATAPULT ist gemeinnützig und unabhängig. Wir finanzieren uns durch Spenden und Abonnements. Unterstützen Sie unsere Arbeit und abonnieren Sie das gedruckte Magazin für nur 19,90 Euro im Jahr. KATAPULT abonnieren