Die Demonstrationen der französischen »Gelbwesten« (Gilets jaunes) zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass sie besonders gewalttätig verlaufen – aber nicht nur aufseiten der Protestler. Auch die brutale Vorgehensweise der Sicherheitskräfte wird immer wieder kritisiert. Zum ersten Geburtstag der Bewegung am 17. November veröffentlichten deshalb viele französische Medien eine erschreckende Bilanz der staatlichen Reaktionen auf Gewalttaten oder Sachbeschädigungen. Wie sieht das Ergebnis aus? Mehr als 3.000 Gelbwesten wurden verurteilt, wohingegen die ersten beiden Fälle von Polizeigewalt erst jetzt in Paris vor Gericht verhandelt werden. Der erste Prozess fand am 21. November statt; es geht um einen Polizisten, der dabei gefilmt wurde, wie er einen Pflasterstein auf Demonstranten warf. Der Strafantrag der Staatsanwaltschaft beträgt drei Monate auf Bewährung mit einer Maximalstrafe von drei Monaten Haft. Die Staatsanwältin unterstrich dabei, dass sie »die Schwierigkeit der Situation«, in der sich der Polizist zur Tatzeit befand, verstehe. Das Urteil wird zudem erst für den 19. Dezember erwartet, da das Gericht »genügend Abstand gewinnen« müsse. Laut einiger anwesender und empörter Gilets jaunes werde »mit zweierlei Maß gemessen«. Grafik herunterladen Uno fordert Untersuchung von Polizeigewalt gegen Gelbwesten Insgesamt wurden der obersten französischen Polizeiaufsichtsbehörde (Inspection générale de la police nationale, IGPN) 313 Ermittlungen wegen polizeilicher Gewalt zur internen Untersuchung übergeben. Davon hat sie wiederum zwei Drittel an die französische Justiz zur Beurteilung, ob und welche rechtlichen Schritte unternommen werden, weitergeleitet. Die Aufsichtsbehörde der Gendarmerie (Inspection générale de la gendarmerie nationale, IGGN) hat 23 Fälle geprüft, von denen fünf an die Staatsanwaltschaft gingen. Allein die Pariser Staatsanwaltschaft hat 212 Fälle von Polizeigewalt an die IGPN übermittelt, bei 146 von ihnen wurden die Untersuchungen abgeschlossen. In 54 der Fälle wurde das Verfahren eingestellt. Körperverletzungen durch die Polizei oder Gendarmerie werden also viel langsamer aufgearbeitet als die von Demonstranten. Das liegt unter anderem daran, dass Straftaten von Polizisten und Gendarmen zuerst intern untersucht und dann weitergegeben werden. Außerdem werden viele Verfahren im Voraus eingestellt. Die französische Regierung müsste aber eigentlich ein Interesse daran haben, dass diese Taten schnell und gründlich aufgeklärt werden, denn es scheint, dass unverhältnismäßige Gewaltanwendung durch die Polizei in Frankreich ein größeres Problem darstellt. Im März 2019 verlangte bereits die Uno von Frankreich, Fälle exzessiver Polizeigewalt gegen die Gelbwesten vertieft zu untersuchen. Die Hohe Kommissarin für Menschenrechte und ehemalige Präsidentin Chiles, Michelle Bachelet, forderte außerdem, den Dialog mit den Demonstranten zu suchen, die sich »selbst in wohlhabenden Ländern wie Frankreich« von der Gesellschaft ausgeschlossen fühlten. Polizei zielt auch auf Gesicht und Oberkörper Bei den Fällen von Polizeigewalt gegen die Gelbwesten geht es vor allem um den Einsatz von Gummigeschossen und Blendgranaten mit Sprengstoffanteilen, die teilweise schwere Körperverletzungen verursacht haben. Mehrere Personen haben während der Demonstrationen sogar ein Auge verloren, weil sie von Gummimunition der Polizei getroffen wurden. Viele Demonstranten kritisieren, dass die Polizei die Geschosse exzessiv einsetze oder sich nicht an Gesetze halte und auch auf Gesicht und Oberkörper ziele. Tatsächlich wurden 2018 insgesamt – unter anderem auch bei den Protesten der Gelbwesten – über 19.000 Gummigeschosse abgefeuert, wie ein Bericht der obersten französischen Polizeiaufsichtsbehörde angibt. Das ist eine Steigerung von über 200 Prozent zum Vorjahr. Die Verwendung von Gummigeschossen ist in vielen europäischen Ländern äußerst umstritten, eben wegen ihrer hohen Verletzungsgefahr. Rumänien, Irland, Dänemark, Norwegen, Schweden, Finnland und Österreich verwenden die Geschosse überhaupt nicht. In Deutschland werden sie nur in zwei Bundesländern eingesetzt, Hessen und Sachsen. Nach Auskunft des Bundesinnenministeriums verwenden weder Bundeskriminalamt noch Bundespolizei Gummimunition. Grafik herunterladen Der Europarat hatte als Reaktion auf die Proteste der Gelbwesten im Februar 2019 gefordert, den Einsatz der Geschosse ganz zu verbieten. Frankreich ist dem bis jetzt nicht nachgekommen. Im Gegenteil: Im Juni 2019 entschied das oberste französische Verwaltungsgericht (Conseil d’État) erneut, dass die Gummigeschosse weiterhin eingesetzt werden dürfen. Es wies damit eine Beschwerde ab, die unter anderem von der Menschenrechtsliga (Ligue des droits de l’homme) und der Gewerkschaft CGT eingelegt worden war, die ein Verbot der Gummimunition gefordert hatten. Auch die linken Partei La France insoumise und die Kommunistische Partei Frankreichs haben bereits Gesetzentwürfe vorgelegt, um den Gebrauch der Geschosse zu verbieten. Eskalation nach Fest: Wo ist Steve? Unverhältnismäßige Gewaltanwendung französischer Sicherheitskräfte ist aber nicht nur bei Demonstrationen der Gelbwesten ein Thema. Insgesamt verzeichnete die oberste französische Polizeiaufsichtsbehörde für 2018 einen Anstieg der Ermittlungsverfahren gegen Polizisten (von der Staatsanwaltschaft übergeben oder nach einer Strafanzeige) von 8,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Im Auftrag der Pariser Staatsanwaltschaft soll die Behörde beispielsweise den Tränengaseinsatz von Polizisten beim gewaltlosen Protest von Umweltaktivisten auf der Pariser Seinebrücke Sully im Juli 2019 untersuchen. Zum Teil aus einer Entfernung von nur einem halben Meter nebelten die Polizisten die am Boden sitzenden Demonstranten mit Tränengas ein. Zudem hat es in den letzten Jahren einige Fälle von tödlicher Polizeigewalt gegeben, die traurige Bekanntheit erlangt haben. Einer davon ist der von Steve Maia Caniço in Nantes, der für Kritiker zum Symbol der Polizeigewalt in Frankreich wurde. Auf der Fête de la musique, einer Veranstaltung in der Nacht vom 21. auf den 22. Juni 2019, gab es nach den Konzerten in der Stadt spontane Partys am Ufer der Loire. Um diese nach ihren Angaben zu lauten und außerhalb der offiziellen Nachtruhe stattfindenden Veranstaltungen aufzulösen, rückte die Polizei an und feuerte 33 Tränengasgranaten und zehn Gummigeschosse auf die zum Teil betrunkenen oder berauschten Feiernden ab und schlug mit Gummiknüppeln auf sie ein. 14 Personen – darunter Steve Maia Caniço – stürzten wegen der vernebelten Sicht und ausbrechenden Panik in die Loire. Die anderen konnten sich retten, Steve nicht. Bis seine Leiche einen Monat später in der Loire gefunden wurde, fragten viele Demonstranten und Politiker »Wo ist Steve?« (Où est Steve?). Grafik herunterladen Die Polizei begründete ihr Vorgehen damit, dass die Feiernden sie aggressiv angegangen seien. Allerdings ergibt ein Einsatzprotokoll der Polizei, dass die Gefährlichkeit des Ortes bekannt war: Zwei Jahre zuvor hatte die Polizei einen Einsatz während der Fête de la musique aus diesem Grund verweigert, da bereits Personen in die ­Loire gefallen waren und sie eine weitere Eskalation vermeiden wollte. Der französische Innenminister Christophe Castaner bestritt jedoch, dass der Tod Caniços etwas mit dem Einschreiten der Polizei zu tun habe – und wurde dafür heftig kritisiert. Politiker, Organisationen und Demonstranten sehen in seiner Äußerung ein beharrliches Leugnen der Polizeigewalt. Dieses Problem wird bereits seit Längerem immer wieder thematisiert. Mehrere Intellektuelle, darunter der Schriftsteller Édouard Louis, beziehen sich hierbei auf den Fall von Adama Traoré, ebenfalls Opfer von tödlicher Polizeigewalt im Jahre 2016. Sie organisieren gemeinsam mit der Schwester des Toten Veranstaltungen und Diskussionen, um »aufzudecken, was die Gesellschaft verschleiert«. Ihnen zufolge betreffe Polizeigewalt besonders Menschen der unteren Gesellschaftsschicht, dunkelhäutige Franzosen, Ausländer und Homosexuelle. Auch andere Künstler wie der Rapper Rohff oder der Schauspieler Omar Sy unterstützen die Familie von Traoré, der Rapper Black M trägt in einem Musikclip ein T-Shirt mit der Aufschrift »Gerechtigkeit für Adama«. Suizidrate unter Polizisten ist die höchste seit 1996 Selbst den französischen Präsidenten Emmanuel Macron betraf die Problematik der Polizeigewalt unmittelbar, als sich einer seiner Sicherheitsmitarbeiter, Alexandre Benalla, bei den Demonstrationen am 1. Mai 2019 in Paris mittels eines Helms als Polizist ausgab und gewaltsam auf Demonstranten einschlug. Der Vorfall wurde von der Regierung zunächst heruntergespielt, Mitarbeiter Macrons verstrickten sich in Widersprüche. Der Fall Benalla wirft die Frage auf: Rechtfertigt das Tragen einer Polizeiuniform Gewalt? Trotz des öffentlichen Drucks auf die Regierung wegen verschiedener Fälle von unverhältnismäßiger Gewalt durch Sicherheitskräfte fehlen bis jetzt konkrete Maßnahmen wie ein Verbot von Gummigeschossen oder eine vertiefte Sensibilisierung von Polizisten für Gewalt: Viele Polizisten lehnen es weiterhin vollständig ab, von Polizeigewalt zu sprechen, verharmlosen oder rechtfertigen sie. Diese Maßnahmen wären nicht nur für die vorherigen und zukünftigen Opfer wichtig, sondern auch für die französische Polizei selbst. Sie befindet sich seit den Protesten der Gelbwesten in einer Krise. Nach den terroristischen Attentaten 2015 als Retterin gefeiert und mit der französischen Bevölkerung verbündet, wird sie nun zunehmend kritisiert und angefeindet. Gegen die Polizei gab es vermehrt tödliche Angriffe außerhalb von Demonstrationen, die Suizidrate unter Polizisten ist die höchste seit 1996: Bis Ende Oktober hatten sich 2019 bereits 54 Polizisten umgebracht, 19 mehr als im gesamten Vorjahr. Ob sie jetzt »Held oder Mistkerl« seien, fragten sich deshalb die verunsicherten Polizisten in einem Interview des Magazins der französischen Zeitung Le Monde. Die französische Polizei scheint ihren Platz in der Gesellschaft zurzeit nicht mehr zu finden. Aktuelle Ausgabe Dieser Text erschien in der 16. Ausgabe von KATAPULT. Unterstützen Sie unsere Arbeit und abonnieren Sie das gedruckte Magazin für nur 19,90 Euro im Jahr. KATAPULT abonnieren