Eine Krankenpflegerin muss von einem Tag auf den anderen mit ihren sechs Kindern ihre Mietwohnung in einem Vorort von Atlanta verlassen. Eine alternative Übernachtungsmöglichkeit kann sie sich nicht leisten. Das Rote Kreuz organisiert der Familie einige Übernachtungen in einem Motel – danach ist sie auf sich allein gestellt. Die US-Behörden können in ihrem Fall nicht helfen. Denn: Die Krankenpflegerin verdient zu viel, um Anspruch auf eine Sozialwohnung oder andere staatliche Unterstützung zu haben, aber nicht genug, um eine Wohnung auf dem freien Immobilienmarkt zu bekommen. Die Familie wird in den nächsten Wochen versuchen, bei Freunden und Verwandten unterzukommen, oder auf der Straße schlafen, während die Kinder weiter zur Schule gehen und die Mutter weiter Vollzeit arbeitet und vergeblich nach einer Wohnung sucht.
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Doppelt so viele »working Homeless« wie vor zehn Jahren
Ähnliche Beispiele gibt es auch in Deutschland: 9,7 Prozent aller Wohnungslosen, die 2017 von der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. (BAGW) befragt wurden, waren erwerbstätig – damit hat sich deren Anteil seit 2007 verdoppelt. Insgesamt gibt es in Deutschland ungefähr 420.000 wohnungslose Personen – also Menschen, die über keinen eigenen Wohnraum verfügen. Im österreichischen Wien sollen über zwölf Prozent der schätzungsweise 10.000 Wohnungslosen eine Arbeitsstelle haben.
Die Begriffe »Obdachlosigkeit« und »Wohnungslosigkeit« werden häufig gleichgesetzt. Doch das ist falsch: Nur ein kleiner Teil der Wohnungslosen schläft auf der Straße und gilt demnach per Definition als »obdachlos«. Ein Großteil von ihnen kommt zeitweilig in Hotels, privaten Notunterkünften, Fahrzeugen oder bei Freunden und Verwandten unter.
Während in der Sozialwissenschaft viele Studien zu allgemeineren Themen wie prekärer Arbeit, Obdachlosigkeit oder der Entwicklung des Wohnungsmarkts veröffentlicht werden, ist das Phänomen »Wohnungslosigkeit trotz Arbeit« trotz seiner zunehmenden Relevanz relativ unerforscht. In einer Reihe von Interviews hat sich 2019 ein britisches Forschungsteam um die Sozialwissenschaftlerin Katy Jones mit den Ursachen und größten Herausforderungen dieses Problems auseinandergesetzt. Die Wissenschaftler sprechen dabei von »in-work Homelessness« oder »working Homeless« – ein derart treffendes Äquivalent fehlt in der deutschen Sprache.
Es gibt kaum international vergleichbare Daten zu in-work Homelessness. Die Definitionen von Wohnungs- beziehungsweise Obdachlosigkeit und Arbeitsverhältnissen unterscheiden sich von Land zu Land. Zudem gibt es in den meisten Staaten keine landesweiten Zählungen von Wohnungslosen. Meist sind es nur Schätzungen, wie beispielsweise in Deutschland. Jones schließt aus den verfügbaren Daten, dass europaweit zwischen fünf und 25 Prozent aller Wohnungslosen erwerbstätig sind – Tendenz: steigend. Vereinzelte private Notunterkünfte geben an, dass sich mittlerweile mehr als die Hälfte der Hilfesuchenden in einem Arbeitsverhältnis befinden, besonders häufig trifft das auf wohnungslose Familien zu.
Mehr Frauen, mehr Familien, mehr Erwerbstätige
Die Daten der BAGW zeigen die veränderte demografische Zusammensetzung der Wohnungslosen in Deutschland. Während diese 2011 überwiegend männlich (78 Prozent), alleinstehend (88 Prozent) und deutsch (85 Prozent) waren, zeigt sich heute ein verändertes Bild: Der Anteil wohnungsloser Frauen beispielsweise stieg allein zwischen 2011 und 2017 um fünf Prozentpunkte auf 27 Prozent an, womit sich ein bereits zuvor beobachteter Trend fortsetzt. Auch der Anteil der Mehrpersonenhaushalte stieg im selben Zeitraum um fünf Prozentpunkte, der Anteil der Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft um zehn Prozentpunkte. Das traditionelle Bild des Wohnungslosen (deutsch, männlich, alleinstehend, schlecht gebildet, arbeitslos und im mittleren bis gehobenen Alter) verwischt also zunehmend. Hilfesuchende sind mittlerweile immer häufiger weiblich, höher gebildet, haben einen Migrationshintergrund, Familie, Kinder – und: Arbeit. Wie sich die Anteile der demografischen Gruppen unter den working Homeless verschoben hat, ist statistisch nicht nachweisbar. Angestellte von Hilfsunterkünften sprechen häufig davon, dass das einstige Phänomen immer häufiger auch »Angehörige der Mittelschicht« betreffe. Das Problem sei in der »Mitte der Gesellschaft« angekommen.
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Mieten steigen um 70 Prozent, die Zahl der Sozialwohnungen sinkt um 60 Prozent
Doch warum steigen die Zahlen? Die britische Studie nennt zwei Ursachen: einerseits komplexe sozioökonomische Wechselwirkungen auf der volkswirtschaftlichen Ebene und andererseits persönliche, teils banale Zwischenfälle auf der individuellen Ebene. Volkswirtschaftlich gesehen, hat sich der finanzielle Druck von der Unterschicht auf weite Teile der Mittelschicht ausgeweitet. Immer mehr Menschen in den westlichen Industriestaaten sind von Erwerbstätigenarmut betroffen. Der Hauptgrund hierfür sind die steigenden Lebenshaltungskosten, bei nicht angemessen zunehmendem oder sogar stagnierendem Lohnniveau. Dazu kommt der angespannte Wohnungsmarkt in immer mehr Großstädten. Die Städte mit den höchsten Mietpreisen pro Quadratmeter in Deutschland sind München und Frankfurt am Main. In der bayerischen Hauptstadt stiegen die Mieten zwischen 1995 und 2017 um mehr als 70 Prozent. In beiden Städten sind auch überdurchschnittliche viele Wohnungslose erwerbstätig – es gibt zwar Arbeit, aber schlicht nicht genug erschwinglichen Wohnraum.
Neben dem Anstieg der Lebenshaltungskosten wurde in den letzten zwanzig Jahren in vielen westlichen Industriestaaten der Sozialstaat zurückgebaut. So wurden teilweise Mieterschutzregelungen zurückgenommen, Arbeitslosengeld oder die Mittel für weitere Hilfsangebote wie Wohngeld gekürzt. Seit dem Jahr 2000 sank beispielsweise in Deutschland die Anzahl der Sozialwohnungen um knapp 60 Prozent. Eine Kombination aus diesen Entwicklungen, nämlich steigende Lebenshaltungs- und Mietkosten bei ähnlichem Lohnniveau und der Rückbau des Sozialstaats, drängen laut der britischen Studie immer mehr Erwerbstätige in die Wohnungslosigkeit.
Auf der individuellen Ebene ist der Hauptgrund für die steigende Zahl von working Homeless, dass betroffene Personen bei mehr oder weniger unvorhersehbaren Zwischenfällen meist schlichtweg nicht auf ausreichende Ersparnisse zurückgreifen können. Finanzielle Engpässe können also nicht überwunden werden, was häufig zum Verlust der Wohnung führt. Laut den Befragungen der BAGW sind die häufigsten Auslöser für Wohnungsverluste Mietschulden (18 Prozent), Ortswechsel (17 Prozent) und Trennung beziehungsweise Scheidung (16 Prozent). Weniger als fünf Prozent der befragten Wohnungslosen gaben an, dass der Verlust der Arbeitsstelle der Grund für ihre Wohnungslosigkeit gewesen sei.
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Die Notunterkunft hat geschlossen, wenn du von der Nachtschicht kommst
Die größten Herausforderungen, mit denen working Homeless täglich zu kämpfen haben, wirken auf den ersten Blick banal: regelmäßiges Waschen etwa und genügend Schlaf, um trotz ihrer prekären Wohnsituation nicht auch noch ihren Job zu verlieren. Viele der Befragten der britischen Studie geben an, dass ihnen der Erhalt der Arbeitsstelle von höchster Bedeutung sei – sowohl aus finanzieller als auch aus psychologischer Sicht.
Auf dem freien Immobilienmarkt sind working Homeless größtenteils chancenlos. Hohe Kautionen sind für viele ohne Hilfe nicht finanzierbar. Es ist zudem nicht ungewöhnlich, dass Betroffene sich für mehrere hundert Wohnungen bewerben, ohne eine Zusage zu bekommen – ein Eintrag bei der Schufa ist für viele Vermieter und Vermieterinnen häufig bereits ein Ausschlusskriterium. Darüber hinaus ist es vielen Vermietern lieber, die Miete von den Behörden überwiesen zu bekommen – wie es bei Arbeitslosen in der Regel der Fall ist –, als sich auf die Mietzahlungen von Geringverdienern verlassen zu müssen. Die kürzliche Einführung des »Universal Credit« in Großbritannien verschlimmert diesen Zustand für viele Betroffene. Die Reform, die die verschiedenen Sozialleistungen zu einer bündelt, unterbindet nämlich die Direktzahlungen von Behörden an die Vermietenden und erschwert vielen Arbeitslosen und Geringverdienern damit den Zugang zum Wohnungsmarkt. Das britische Forschungsteam spricht von struktureller Diskriminierung von working Homeless auf dem Wohnungsmarkt.
Die veränderte soziale Zusammensetzung der Wohnungslosen stellt aber auch das Hilfesystem vor Herausforderungen: Das Angebot vieler privater Hilfsunterkünfte ist momentan nicht auf die Bedürfnisse der Betroffenen angepasst. Sie stehen wohnungslosen Familien oder working Homeless nur begrenzt offen. Häufig gibt es beispielsweise keine angemessenen Zimmer für Familien, oder die Arbeitszeiten der Erwerbstätigen kollidieren mit den Schließzeiten von Wohnungseinrichtungen. Besonders im ländlichen Raum ist das Hilfsangebot nicht ausreichend. Aufgrund der weiten Entfernungen und schlechter Anbindungen an den öffentlichen Nahverkehr ist es vielen working Homeless unmöglich, nach Feierabend ihre Notunterkunft zu erreichen.
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Strukturelles Versagen des Sozialstaats
Auch die Behörden sind nicht gut genug auf die veränderte demografische Zusammensetzung der Wohnungslosen eingestellt, was sich als besonders problematisch für working Homeless erweist: Wie im Fall der Krankenpflegerin aus Atlanta verdienen beispielsweise einige Betroffene zu viel, um Anspruch auf eine eine Sozialwohnung zu haben, können sich aber die Mieten auf dem freien Immobilienmarkt keinesfalls leisten. Die britische Studie kommt zu dem Schluss, dass working Homeless in vielen Staaten als »nicht schutzbedürftig genug« erachtet werden und auf ihr privates Hilfsnetzwerk angewiesen sind. Viele von ihnen hätten daher das Gefühl, durch das Auffangnetz des Sozialstaats zu fallen. Es könne nur begrenzt von Lücken in den jeweiligen Sozialsystemen gesprochen werden. Vielmehr handele es sich im Umgang mit working Homeless um ein strukturelles Versagen des Sozialstaats, so die Studie.
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Tiny House und Van Life – Romantisierung von Wohnungslosigkeit
Abgesehen von Reportagen, Filmen und Romanen, in denen working Homeless oft als tragische Helden und Heldinnen romantisiert werden, ist die Problematik in der Öffentlichkeit selten ein Thema: Staaten erheben in der Regel kaum Daten zu Wohnungslosen. Speziell working Homeless nehmen in der Wissenschaft nur einen sehr kleinen Teil der Forschung ein – auch aus Mangel an verfügbaren Daten. Stattdessen wird Wohnungsmangel in einigen Medien gern als Lifestyle zelebriert: »Tiny Houses« können den Traum des Eigenheims auch auf angespannten Wohnungsmärkten noch erfüllen, das Wohnen in umgebauten Vans wird als Minimalismus verklärt und ihre Bewohner als »Digital Nomads« bezeichnet. Während die dort vorgestellten Lebenskonzepte in der Regel auf Freiwilligkeit basieren, ist das Wohnen in provisorischen Behausungen oder in Fahrzeugen für viele Betroffene meist der letzte Ausweg, um nicht auf der Straße schlafen zu müssen.
Dieses falsche Bild von working Homeless zeigt sich auch deutlich in der Politik, in der größtenteils immer noch veraltete Annahmen über Wohnungslose die Gesetzgebung prägen. Obdachlose werden häufig nach wie vor »als drogen- und alkoholabhängig, als geisteskrank oder kriminell abgetan«. Zwar spielt die Schaffung von Arbeitsplätzen bei der Bekämpfung von Obdachlosigkeit eine elementare Rolle. Allerdings dominiert diese Denkweise weiterhin politische Entscheidungen und ignoriert die Tatsache, dass immer mehr Menschen trotz Job keine Wohnung haben.
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