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Antisemitismus

Hass bis hin zu Morddrohungen

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Studie: “Zwischen Akzeptanz und Anfeindung. Antisemitismuserfahrungen jüdischer Sportvereine in Deutschland” von Lasse Müller (April 2021)

“Euch hat man vergessen zu vergasen”, sagt ein Fußballspieler zu einem Mitglied eines jüdischen Sportvereins und gibt ihm danach eine Kopfnuss. Dieses Zitat sowie der Angriff sind für Mitglieder von jüdischen Sportvereinen eine harte Realität. Eine neue Studie von Lasse Müller, ansässig am Institut für Sportwissenschaften der Universität Frankfurt, untersucht Ansitemitismuserfahrungen von Mitgliedern jüdischer Sportvereine. Dazu befragte Müller über einen Onlinefragebogen 309 jüdische und nichtjüdische Mitglieder ab 16 Jahren aus 20 verschiedenen Sportvereinen der Makkabi, einem jüdischen Sportverband in Deutschland, der über 5.000 Mitglieder zählt. Ergebnis: Mitglieder jüdischer Sportvereine in Deutschland sehen sich regelmäßig mit Antisemitismus konfrontiert. 39 Prozent waren mindestens einmal persönlich von antisemitischen Vorfällen betroffen. Studienteilnehmer wurden sowohl nach persönlich erlebten Vorfällen gefragt, als auch darüber, ob sie Vorfällen bei anderen Personen beobachtet haben - innerhalb oder außerhalb des Vereinskontextes. Besonders auffällig: Im Fußball erlebten über zwei Drittel der Befragten schon antisemitische Vorfälle. 

Fußballer erleben die meiste Diskriminierung

Drei Merkmale erhöhen das Risiko persönlicher Erfahrungen von Antisemitismus im Sport besonders: Zugehörigkeit zu einem Fußballverein, die jüdische Religionszugehörigkeit und die Wettkampfteilnahme. Das Risiko, persönlich betroffen zu sein, ist in einem Fußballverein um das 18-fache höher als in einem anderen Sportvereinen der Makkabi. Das Risiko steige auch, wenn die betroffene Person den Sportverein repräsentiert, etwa durch das Tragen der Vereinskleidung im privaten Bereich. Insgesamt gaben 36 Prozent an, in den letzten 12 Monaten persönlich von antisemitischen Vorfällen betroffen gewesen zu sein - fast drei Viertel innerhalb der letzten drei Jahre. 

Rund die Hälfte der Befragten gab zudem an, bei anderen Personen antisemitische Vorfälle im letzten Jahr beobachtet zu haben. Auch hier stellte der Sportsoziologe Müller fest: In Fußballvereinen von Makkabi werden die Vorfälle häufiger als in anderen Sportvereinen beobachtet. Fast 80 Prozent aus der Fußballabteilung Makkabis beobachteten mindestens einmal antisemitische Vorfälle gegenüber anderen Mitgliedern oder Makkabi insgesamt. Fast zwei Drittel beobachteten Antisemitismus auch außerhalb der Makkabi-Vereine, etwa bei Stadionbesuchen.

Anitsemitismus tritt in sehr vielen Formen in Erscheinung. Müller bot den Befragten über Freitextfelder die Möglichkeit, ihre persönlichen Erfahrungen zu schildern. Ein Teilnehmer der Befragung gab etwa an, von einem Zuschauer damit angebrüllt worden zu sein, dass die “scheiß Juden” (sic) den Schiedsrichter bezahlt hätten. Darauf drohte ihm der Zuschauer, ihn abzustechen. Ein anderer Teilnehmer beschrieb, wie die gegnerische Mannschaft in der Umkleidekabine lachend fragte, warum hier kein Gas aus den Duschen käme.

Sportvereine sind nicht vorbereitet

Antisemitismus ist eine Form der Welterklärung, die auf pseudowissenschaftlichen Annahmen basiert und Jüdinnen und Juden für Probleme und Krisen verantwortlich macht. Abgeleitet aus diesem Verständnis definiert die Aufklärungs- und Forschungsorganisaition International Holocaust Remembrance Alliance Antisemitismus wie folgt: Antisemitismus werde als die Wahrnemung von Jüdinnen und Juden verstanden, die sich über Worte und Taten in Hass äußern kann. Sie richten sich entweder gegen Einzelpersonen, Gruppen oder Organisationen - oder deren Eigentum. Im Oktober 2020 erkannte die Borussia Dortmund als erster deutscher Sportverein die Definition offiziell an. Ein Verein könnte dann etwa eine Person, die ein antisemitisches Plakat hochhält, ausschließen. Dem Beispiel folgten auch viele weitere Bundesligavereine, und schließlich auch der Deutsche Fußball-Bund DFB.

Laut der Polizeistatistik der politisch motivierten Kriminalität von 2019 stiegen im Vergleich zum Vorjahr antisemitische Straftaten um 13 Prozent auf über 2.000 Delikte an. Doch die Zahlen müssen vorsichtig bewertet werden: Betroffene melden häufig die Vorfälle nicht, und die Motivlage wird häufig nicht klar statistisch abgegrenzt gegenüber anderen, etwa rassistischen Straftaten. Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus registrierte 2020 allein in Berlin über 1.000 antisemitische Vorfälle. Müller stellt in seiner Untersuchung fest, dass fast die Hälfte der Befragten in den letzten fünf Jahren einen Anstieg antisemitischer Vorfälle im Sport wahrnimmt. Ernüchternd: 72 Prozent der Befragten sehen deutsche Sportvereine nicht angemessen auf den Umgang mit antisemitischen Vorfällen vorbereitet. Über Freitextfelder schlugen die Befragten vor, wie die Vorfälle besser dokumentiert und geahndet werden könnten: Die Vorfälle zu melden, müsse einfacher  werden, etwa über eine vereinheitlichte Bearbeitung. Die Vorfälle müssten zudem zukünftig sichtbarer gemacht und konsequenter sanktioniert werden. Schiedsrichter etwa gehörten besser über Antisemitismus und dessen Bekämpfung augeklärt.

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