Artikel teilen
Blicken wir auf das institutionalisierte Europa von heute, wird schnell deutlich, dass Macht und damit Entscheidungskompetenzen auf europäischer Ebene auf verschiedene Orte verteilt sind. Der Europäische Gerichtshof und der Europäische Rechnungshof arbeiten in Luxemburg, die Europäische Zentralbank in Frankfurt am Main, der Europäische Rat, der Rat der Europäischen Union, die Europäische Kommission in Brüssel, der Europäische Bürgerbeauftragte in Straßburg und das Europäische Parlament in Straßburg, Brüssel und Luxemburg.
Als das Herz Europas, als zentraler Ort der Macht, wird die belgische Hauptstadt Brüssel angesehen. Hier vereint sich die Machttrias Kommission, Rat und Parlament. Selbst wenn letztere auch anderenorts (Straßburg) tagen und Macht damit ortsungebunden wird: Brüssel als »Zentrale« der Europäischen Union ist mittlerweile in Wissenschaft, Politik, Medien und auch im täglichen Sprachgebrauch der Menschen der Europäischen Union angekommen.
Ein Blick zurück in die Geschichte zeigt, dass Macht immer baulich gekennzeichnet war, angefangen vom Turmbau im Mittelalter über die gebaute bürgerliche Macht der Rathäuser bis hin zur Macht des Staates, den Parlaments- und Regierungsgebäuden.
Was kann Architektur leisten?
Einerseits können in Architektur gesellschaftliche Verfasstheit und Prozesshaftigkeit abgelesen und als historisches Phänomen erklärt und interpretiert werden. Andererseits spielen beim Bau von Architektur auch sachliche Koordinaten wie Kosten, Bauträger oder Adressat eine wichtige Rolle. Somit ist gebaute Architektur ein Abwägen zwischen Funktionalität und symbolischem Ausdruckscharakter eines Baukörpers.
Die Ausweitung der Kompetenzen und damit auch der Macht des Europäischen Parlaments hat sich baulich sehr deutlich niedergeschlagen. Hier spielt die architektursoziologische Unterscheidung zwischen der Ding- und der Symbolfunktion politischer Architektur, in diesem Fall der Gebäude des Europäischen Parlaments, eine große Rolle.
Die Dingfunktion betont den Gebrauchscharakter eines Gebäudes. Verhandeln also durch EU-Erweiterungen mehr Abgeordnete in den Gebäuden, müssen entsprechend mehr und größere Räumlichkeiten geschaffen werden. Mittels Symbolen sollen Werte, Identitäten, Bilder und Ähnliches vermittelt werden. Dazu gehören beispielsweise die in Anlehnung an den zentralen Versammlungsort in der Antike genannten öffentlichen Räume »Agora Simone Veil« in Brüssel.
Architektur hat somit, nach Umberto Eco, einen Zeichencharakter, eine »symbolische Konnotation«, die es nicht zu vernachlässigen gilt.
Das Europäische Parlament als Symbol der Macht
Werden die Parlamentsbauten in Brüssel betrachtet, kommen zunächst folgende Begriffe in den Sinn: Größe und Monumentalität. Mächtig mag die nächste Assoziation sein, mächtig im Sinne von »Macht ausstrahlen«; und Macht hat das Europäische Parlament in den letzten 50 Jahren ohne Zweifel hinzugewonnen. Werden allein die Grundmaße der Bebauung in den Blick genommen, wird die immense Vergrößerung der Orte sichtbar, die funktional erforderlich war, aber durchaus symbolisch verstärkt wurde.
In Brüssel entstanden seit 1989 und 1992 die ersten Teile des neuen Europaparlaments, das Paul-Henri-Spaak-Gebäude (PHS) zwischen der Rue Wiertz und dem Leopoldpark sowie das Altiero-Spinelli-Gebäude (ASP) zwischen der Rue Wiertz und dem Bahnhof Gare du Luxembourg, auf engem Raum. Im Zuge der Osterweiterungen der Europäischen Union entstanden 2004 und 2007 neben dem Gare du Luxembourg das Willy-Brandt-Gebäude (WIB) und das József-Antall-Gebäude (JAN).
Das PHS, in dem auch der Plenarsaal untergebracht ist, ist ein ovaler Komplex mit einem Glasdom in der Mitte, der an seiner Vorder- und Hinterseite die Form eines Tores aufweist. Hier wechseln sich Stahlträger, die wie Sonnenstrahlen von innen nach außen weisen, mit Glaselementen ab. An der Vorderseite des Gebäudes ist der Name »Europäisches Parlament« in den Unionssprachen angebracht, als einziges Symbol dient der Sternenkranz vor blauem Hintergrund. Vor dem Gebäude wehen die Flaggen der Mitgliedsstaaten.
Das ASP ist durch eine Glasbrücke mit den anderen Gebäudekomplexen verbunden, eine bauliche Gemeinsamkeit, die Brüssel und Straßburg teilen, denn auch dort sind Gebäudekomplexe über Glasbrücken miteinander vereinigt.
In der Konzeption der Baukörper verfolgten die Architekten zweierlei: »Globalement, le concept architectural du project repose sur une idée fondamentale double: une représentation symbolique forte de sa fonction, et une habitabilité propice aux hautes missions qui s'y accomplissent.«5 Die Ansprüche an einen Neubau waren die Verkörperung von Transparenz, Offenheit und Integration und »[...] dass sich das Gebäude durch die Reinheit seiner Linien, seine Integration in die Umwelt und seine Offenheit in Richtung Stadtzentrum auszeichnen soll«.
Die Architektur verspricht, was die Politik nicht hält
Der architektonische Ausdruck der Baukörper des Europäischen Parlaments und die Programmatik der Architekten lassen diverse Interpretationen europäischer Machtstrukturen zu. Dabei wird Macht im Sinne von demokratischen Gesellschaften nicht nur als Macht der Institution, sondern auch als Teilhabe der Unionsbürger an demokratischer Machtausübung interpretiert.
Mittel zum Zweck waren hier die Verwendung von Glaselementen, ein großes Eingangsportal, ein ovaler, begrünter Innenhof sowie der Plenarsaal in der Mitte des Gebäudes. Macht sollte hier also interpretiert werden als Machtteilhabe der europäischen Bürger, die ihre Volksvertreter in das Europäische Parlament wählen.
Der Versuch, durch Architektur etwas über das eigene Machtverständnis und die Legitimation der eigenen Herrschaft auszudrücken, beschreibt eine Kontinuität von der Antike bis in die heutige Zeit. Die Inhalte sind natürlich andere: Heute stehen vermehrt Demokratie, Transparenz, Dezentralität im Fokus europäischer Politik. Dies schlägt sich wiederum in der Architektur der Machtorte nieder, auch wenn es einige Diskrepanzen in der Eigen- und Fremdwahrnehmung geben mag, etwa die Monumentalität der Gebäude und die Art der Beschlussfassung darüber in Brüssel oder die Verspiegelung statt Transparenz in den Glasfassaden in Brüssel.
Entscheidend ist jedoch, dass die Absichten der Architektur nicht stärker sind als die politische Realität. Trotz Aufteilung europäischer Verantwortlichkeiten auf mehrere Institutionen und europäische Städte im Sinne des Leitspruchs der Europäischen Union »In Vielfalt geeint«: Europa wird nicht als dezentral und effizient wahrgenommen, sondern als zentralistisch (»Brüssel«) und häufig wenig bürgernah.
Aber spiegelt das nicht (leider) auch die tatsächlichen Defizite und Herausforderungen Europas wider? Die Wahrnehmung »Brüssel« beschreibt doch recht zutreffend das bisherige Machtungleichgewicht zwischen Rat und Kommission (Brüssel) einerseits und Parlament (Straßburg, Brüssel) andererseits.
Autor:innen
Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen
Forschungsschwerpunkte
Europäische Integrationsgeschichte
Kommunikationsgeschichte
DDR-Geschichte
Geschichte des Liberalismus