100 Jahre alt wäre Sophie Scholl Anfang Mai geworden. Mit Briefmarken, Gedenkveranstaltungen und Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt wurde an sie erinnert. SWR und BR haben der wegen Widerstandes gegen den NS-Staat Hingerichteten sogar ein Instagram-Profil erstellt, auf der man die letzten zehn Monate ihres Lebens quasi miterleben kann. Einen Auftritt ganz anderer Art hatte Sophie Scholl vergangenen Herbst in Kassel. Während einer Demonstration gegen die damals bestehenden Corona-Maßnahmen stellte sich eine der Rednerinnen in die Tradition Sophie Scholls. Ebenso wie Scholl und ihre Mitstreiter damals sehe sie es heute als ihre Pflicht an, Widerstand gegen eine Diktatur zu leisten. Angela Merkel und die deutschen Gesundheitsämter als Pendant zu Adolf Hitler und der SS? Ein »Like« von Sophie Scholl hätte es dafür sicherlich nicht gegeben.  Tatsächlich kann gerade in der Bundesrepublik keine Rede davon sein, dass Demokratie und Rechtsstaat im Zuge der Pandemie außer Kraft gesetzt wurden. Kritiker:innen der Corona-Schutzmaßnahmen, etwa Heribert Prantl, bringen zwar regelmäßig ihre Sorge über unverhältnismäßige Eingriffe in die Grundrechte zum Ausdruck. Der kürzlich erschienene Atlas der Zivilgesellschaft – herausgegeben vom Hilfswerk Brot für die Welt – bescheinigt Deutschland allerdings, im internationalen Vergleich relativ unbeschadet durch die Pandemie gekommen zu sein. Wo viele andere Staaten die Virusbekämpfung nutzten, um Freiheitsrechte dauerhaft zu beschneiden und die ohnehin unter Druck stehende Zivilgesellschaft weiter einzuschränken, habe Deutschland den gegenwärtigen Test für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit vorerst bestanden. Grund zu Sorglosigkeit bietet dieser Befund allerdings nicht. Auch in der Bundesrepublik weisen kritische Stimmen darauf hin, dass die Luft zum Atmen gerade für den politisch aktiven Teil der Zivilgesellschaft dünner werde. In der Fachdiskussion wird dieses Phänomen als »shrinking spaces«, also »schrumpfende Räume«, bezeichnet. Es handelt sich hierbei um ein globales Problem, das bei Weitem nicht nur undemokratische Staaten betrifft. Weltweit, so die Autor:innen des Atlas der Zivilgesellschaft, lebten im vergangenen Jahr 88 Prozent aller Menschen in »beschränkten, unterdrückten oder geschlossenen Gesellschaften«, fünf Prozent mehr als im Jahr 2019. Dieser allgemeine Trend ist mehr als bedenklich – die Pandemie hat ihn nicht geschaffen, verstärkte ihn aber. Grafik herunterladen Fridays for Future, Pegida und die Bayerischen Trachtenfreunde Unter den Begriff Zivilgesellschaft fallen all jene Akteure, die sich eigenständig und freiwillig organisieren, nicht profitorientiert arbeiten und sich für allgemeine gesellschaftliche Belange sowie die Interessen einzelner Gruppen einsetzen. Die Zivilgesellschaft ist demnach jenseits von Staat und Privatwirtschaft angesiedelt – und vielfältig. In Deutschland lassen sich Schätzungen zufolge rund 800.000 Organisationen, Institutionen und Bewegungen zur Zivilgesellschaft zählen. Ziele, Rechtsform und Größe unterscheiden sich teils erheblich.  Fridays for Future ist ebenso Teil der Zivilgesellschaft wie Pegida, die oberbayerischen Trachtenfreunde ebenso wie der Fußballclub aus dem Nachbardorf. Die mit Abstand wichtigste Säule der Zivilgesellschaft sind hierzulande die eingetragenen Vereine. In den vergangenen Jahren hat zudem der Stiftungssektor einen regelrechten Boom erlebt. Aktuell existieren in der Bundesrepublik rund 23.000 Stiftungen. Als Ganzes erfüllt die Zivilgesellschaft wichtige Funktionen im sozialen Miteinander. Unter anderem erbringt sie gemeinwohlorientierte Dienstleistungen, beispielsweise durch Wohlfahrtsverbände, oder macht sich zur Anwältin nicht hinreichend gehörter Interessen, etwa im Falle von Menschen- und Bürgerrechtsgruppen. Verbraucherschutzverbände erfüllen zudem eine Wächterfunktion und Thinktanks wirken auf die politische Entscheidungsfindung ein. Kurz: Auch mit Blick auf ihre Funktionen sind zivilgesellschaftliche Zusammenschlüsse vielfältig. Grafik herunterladen Burschenschaften gegen die Weimarer Republik Ganz unabhängig von ihren konkreten Ausrichtungen, Zielsetzungen, Größen und Funktionen gelten zivilgesellschaftliche Akteur:innen vielen Beobachter:innen als Bedingung für eine funktionierende Demokratie. Gerade der Blick auf Deutschland mahnt jedoch zur Vorsicht: In den 1920er- und 1930er-Jahren waren es nicht zuletzt zivilgesellschaftliche und streng antidemokratische Zusammenschlüsse – etwa Burschenschaften –, die die Weimarer Republik zu schwächen halfen. Gleichzeitig, so der Politikwissenschaftler Bernhard Weßels, sei demokratisches Zusammenleben ohne eine lebendige Zivilgesellschaft gar nicht denkbar. Warum ist das so?  Gerade in vielfältiger werdenden Gesellschaften werden auch Problemlagen, Interessen und Konfliktlinien diverser. Wo etwa in Deutschland in den 1950er-Jahren Parteien die zentralen Akteur:innen bei der politischen Willensbildung waren und sein konnten, sind sie heute nur noch ein Akteur unter vielen. Sie sind gegenwärtig schlicht nicht mehr dazu in der Lage, die Vielzahl der Themen abzudecken, die für unterschiedliche soziale Gruppen von Bedeutung sind. Das heißt nicht, dass Parteien keine zentrale Funktion mehr hätten – sie stehen nach wie vor im Zentrum des politischen Prozesses. Sie sind aber auf die Zivilgesellschaft angewiesen, die sie beispielsweise auf neuartige Probleme aufmerksam macht beziehungsweise auf die zügigere Bearbeitung bereits bekannter Themen drängt. Dass gegenwärtig Bewegung in die bundesdeutsche Klimapolitik kommt, ist zum Beispiel zweifelsfrei auch dem Wirken von Fridays for Future geschuldet. Kein gutes Jahr für die Demokratie Und auch jenseits dieser Zulieferfunktion wird zivilgesellschaftlichen Gruppen in der Demokratietheorie eine zentrale Rolle zugeschrieben. Sie gelten oftmals als eine Art Bürger:innenschule. Die dahinterstehende Annahme: Wer sich etwa in Vereinen engagiert, lernt sozusagen im Vorbeigehen die Grundregeln des demokratischen Miteinanders. Lange Debatten, die Notwendigkeit, Kompromisse einzugehen, Vor- und Nachteile des Vereinsrechts, Streit um nebensächlich erscheinende Satzungsfragen – Menschen, die schon einmal einer Vereinssitzung beigewohnt haben, sind hiermit bestens vertraut und: Sie haben aufgrund dessen einen anderen Blick auf politische Prozesse. Statt beispielsweise Kompromisse bei der Verabschiedung von Gesetzen als Kuhhandel zu kritisieren, wissen sie um die Unmöglichkeit, Interessen ohne Kompromisse durchzusetzen.  Natürlich sind auch heute nicht alle zivilgesellschaftlichen Akteur:innen ein Segen für freiheitlich-demokratische Gesellschaften. So wie es in den 1920er-Jahren rechtsradikale Burschenschaften gab, so berauschen sich aktuell in Deutschland und Europa Gruppen wie die »Identitäre Bewegung« an völkischen Reinheitsfantasien, die mit Vielfalt und Menschenrechten unvereinbar sind. Und doch: Wo die Voraussetzungen für zivilgesellschaftliches Handeln angegriffen werden, droht demokratischen Ordnungen Gefahr. Vor diesem Hintergrund war 2020 kein gutes Jahr für die Demokratie.  In Zahlen ausgedrückt, stellt sich die Situation wie folgt dar: 2020 lebten weltweit nur drei Prozent der Menschen in offenen Gesellschaften. Und insgesamt 70 Prozent der Erdbevölkerung verteilen sich auf Staaten, deren Gesellschaft laut Civicus-Monitor als »unterdrückt« oder gar »geschlossen« eingestuft werden muss. Das sind über fünf Milliarden Menschen. Demgegenüber stehen nur rund eine Milliarde Menschen, die sich weitgehend ungehindert versammeln, ihre Meinung äußern und für ihre Interessen eintreten können. Kurz: In einem Staat mit offener Gesellschaft zu leben, war im vergangenen Jahr ein Privileg.  Besonders häufig kam es von November 2019 bis Oktober 2020 zu Festnahmen von Journalist:innen und Aktivist:innen. Aber auch mit Blick auf »Schikanierung und Einschüchterung« zivilgesellschaftlicher Gruppen sind die Zahlen im Vergleich zum Vorjahr sprunghaft angestiegen. Und: Das Problem ist keineswegs ein außereuropäisches. Grafik herunterladen Spaniens Knebelgesetz Nach dem Vorbild Ungarns versuchen auch innerhalb der EU immer mehr Staaten, kritischen Stimmen aus der Zivilgesellschaft das Leben schwer zu machen. So wurden etwa in Slowenien drei Gesetze auf den Weg gebracht, die es der Regierung ermöglichen sollen, größeren Einfluss auf die Personalentscheidungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu bekommen und Budgets neu zu verteilen. In Polen wird weiterhin gegen LGBTQI*-Aktivist:innen gehetzt, und zwar unverblümt von oberster Stelle. Laut Staatspräsident Andrzej Duda etwa sind diese »keine Menschen, sondern eine Ideologie«. Und in Belarus wurden infolge der Präsidentschaftswahlen Tausende friedlich protestierende Regierungsgegner:innen festgenommen und teilweise schwer misshandelt.  Und auch in Westeuropa ist die Situation alles andere als optimal. So wurde in Frankreich Mitte April das höchst umstrittene »Gesetz für globale Sicherheit« vom Parlament angenommen. Es stellt unter anderem das Filmen bestimmter Polizeieinsätze unter Strafe. Kritiker:innen befürchten, dass dies zu einer Art Freibrief für Polizist:innen führen könne, denen insbesondere von migrantischen Interessengruppen unverhältnismäßiger Gewalteinsatz vorgeworfen wird. In Spanien wurde bereits 2015 ein ähnliches Gesetz verabschiedet, das als »Knebelgesetz« bezeichnet wird und unter anderem die Versammlungsfreiheit einschränkt. Freie Medien stören in Ungarn nur Die Corona-Pandemie wirkte für diese Entwicklungen als Beschleuniger. Dass Krisensituationen gemeinhin als Stunde der Exekutive gelten, hat auch funktionale Gründe: So kann die Regierung in Krisenzeiten notwendige Maßnahmen vergleichsweise schnell durchsetzen. Im vergangenen Jahr wurde der Infektionsschutz jedoch auch für weitgehende Eingriffe in den Raum zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation missbraucht.  In Europa war die Situation in Ungarn besonders dramatisch. Dort wurde am 30. März 2020 das »Gesetz zum Schutz vor dem Coronavirus« verabschiedet. Es verlängerte den bereits verhängten Notstand auf unbestimmte Zeit und erlaubt es der Regierung, ohne parlamentarische Kontrolle zu regieren. Und es greift massiv in die Freiheitsrechte ein, etwa indem es die Verbreitung von falschen oder verzerrenden Nachrichten als Verbrechen definiert, auf das mehrjährige Gefängnisstrafen stehen. Jüngste Forderungen unabhängiger ungarischer Medien nach größerer Transparenz im Entscheidungsfindungsprozess und nach besseren Informationen über die Situation im ungarischen Gesundheitssystem wies die Regierung zurück. Ihre Begründung: Die Medien würden die Bekämpfung des Virus erschweren und verzerrte Darstellungen verbreiten. Endlich abholzen! Weitaus schlimmer ist die Situation jedoch in anderen Teilen der Welt. Unter Verweis auf Quarantänemaßnahmen wurden etwa in El Salvador rund 17.000 Menschen unter haftähnlichen Bedingungen in Quarantänezentren festgehalten. Zudem war es Militär und Polizei zeitweise erlaubt, in jede Privatwohnung einzudringen, wenn sie darin Corona-Infizierte vermuteten. Und in Brasilien sollte die Pandemie dazu genutzt werden, auf anderen Politikfeldern Tatsachen zu schaffen, während die öffentliche Aufmerksamkeit um das Virus kreiste. »Da die Presse sich ausschließlich mit Covid-19 beschäftigt«, so Umweltminister Ricardo Salles, »haben wir jetzt die Möglichkeit, uns das Amazonas-Thema vorzunehmen.« Mit anderen Worten: Weil alle Welt auf das Virus schaute, konnte die Abholzung des Regenwaldes vorangetrieben werden.  Sicher, Tote können sich nicht mehr engagieren. Dass die Corona-Pandemie seit rund einem Jahr in aller Munde ist, ist angesichts dessen mehr als nachvollziehbar. Es braucht aber auch weiterhin diejenigen, die sich für die Rechte von Minderheiten einsetzen, diejenigen, die für einen umweltpolitischen Wandel eintreten und diejenigen, die Regierungshandeln mit Nachdruck kritisieren. Wird neben dem Virus auch die Zivilgesellschaft eingedämmt, könnte es ein böses Erwachen geben: gesund, aber unfrei. Aktuelle Ausgabe KATAPULT ist gemeinnützig und unabhängig. Wir finanzieren uns durch Spenden und Abos. Unterstütze unsere Arbeit und abonniere das Magazin gedruckt oder als E-Paper ab 19,90 Euro im Jahr! KATAPULT abonnieren