Das Interview wurde im Oktober 1991 in der Zeitschrift »Alternatives Non-Violentes« veröffentlicht. Übersetzt aus dem Französischen von Ella Daum. Alternatives Non-Violentes: Wie lässt sich ein Kompromiss definieren? Paul Ricœur: Der Begriff des Kompromisses kommt auf, wenn mehrere Rechtfertigungssysteme im Konflikt stehen. Diese Definition findet man im Buch »Über die Rechtfertigung« von Luc Boltanski und Laurent Thévenot, dessen Schluss sie allein der Problematik des Kompromisses widmen. Ich glaube, das ist der einzige bedeutende Text in den Humanwissenschaften, der sich für den Kompromiss interessiert. Die Grundannahme besteht darin, dass keine Gesellschaft über ein einheitliches Rechtfertigungssystem verfügt, das gerecht oder ungerecht ist. Überall gibt es Ungleichheiten: in der Macht- oder in der Gehaltsverteilung ... Und wie die Autoren sagen, beherrscht niemand alle Dimensionen des Lebens. Sie zeigen, dass in einer Wirtschaft, die allein durch Handelsbeziehungen bestimmt ist, Werte an den Austausch von Gütern gebunden sind. Allerdings gelten in unseren Gesellschaften auch andere Wertesysteme: Loyalität oder Treue beispielsweise erscheinen als häusliche Werte, die sich von den Werten des Wirtschaftssystems unterscheiden. Es existieren also mehrere Größenordnungen. Diese Idee kommt von Pascal: Ihm zufolge gibt es den körperlichen Vorteil, die Intelligenz und die Nächstenliebe. Die Problematik des Kompromisses ist, dass Gemeinwohl nicht durch eine einheitliche Rechtfertigung erreicht wird, sondern allein, indem man den Schnittpunkt zwischen verschiedenen Wertesystemen findet. Der Kompromiss ist also in erster Linie an einen Pluralismus von Rechtfertigungen gebunden, das heißt an die Argumente, die Menschen in einem Konflikt anführen. Es gibt keine »Superregel«, um einen Konflikt zu lösen, aber man löst sie im Inneren einer homogenen Ordnung, in der sich Menschen gegenseitig anerkennen. Waren und Käufer bewegen sich in einem Wirtschaftssystem und die Regeln, die diese Ordnung beherrschen, sind andere als die, die beispielsweise in der Familie gelten. Grafik herunterladen Wodurch unterscheidet sich der Kompromiss vom Zugeständnis? Der Kompromiss ist weit davon entfernt, eine schwache Idee zu sein. Er ist sogar eine besonders starke Idee. Es besteht ein Misstrauen gegenüber dem Kompromiss, weil er oft mit dem Zugeständnis verwechselt wird. Das Zugeständnis ist eine ungute Mischung aus Absichten und Wertesystemen. Beim Kompromiss gibt es keine Verwirrung wie beim Zugeständnis. Beim Kompromiss bleibt jeder auf seinem Platz, keiner ist seiner Rechtfertigungsordnung beraubt. Nehmen wir zum Beispiel einen Ort, an dem ununterbrochen Kompromisse geschlossen werden, ich denke hierbei an Unternehmen. Das Unternehmen hat ein Produktivitätsziel, aber es hat ebenfalls mit Leuten zu tun, die ledig oder verheiratet sind, mit Bürgern, die Rechte haben, wie zum Beispiel, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Der Kompromiss in einem Unternehmen ist genaugenommen die Kunst, verschiedene Wertesysteme zu kombinieren, ohne sie zu vermischen. »Arbeitet gut, weil wir eine große Familie sind«, wird ein paternalistischer Chef zu seinen Angestellten sagen. Hier bemächtigt sich der Unternehmer in hinterhältiger Weise des familiären Werts der Unterwürfigkeit des Kindes gegenüber seinem Vater, charakteristisch für eine patriarchalisch organisierte Familie. Dieser Chef missbraucht familiäre Werte für den Versuch, sein Unternehmen voranzubringen. Das ist ein Zugeständnis. Der Kompromiss ist nicht von der gleichen Art. Nehmen wir beispielsweise die Diskussionen um die Ladenöffnungszeiten am Sonntag. Hier gibt es einen Konflikt zwischen den Interessen der Ladenbesitzer und dem familiären Recht der Bürger auf eine Ruhezeit. Die Suche nach einem Kompromiss ist schwierig. Ich kann nicht sagen, wohin sie führen wird, aber wir haben es hier nicht mit einem Zugeständnis oder einem Konsens zu tun. Der Konsens würde in diesem Fall voraussetzen, dass alle Standpunkte wie durch einen Magmafluss eingeebnet werden. Der Kompromiss ist immer schwach und widerrufbar, aber das einzige Mittel, auf das Gemeinwohl hinzuwirken. Wir können das Gemeinwohl bei starken, aber widerstreitenden Überzeugungen nur durch den Kompromiss erreichen. Ist es Ihrer Meinung nach notwendig, dass soziale und politische Institutionen Kompromisse suchen? Das Problem, das Sie ansprechen, ist das des zivilen Friedens. Wie kann man verhindern, dass Differenzen, Streitigkeiten und Konflikte in Gewalt ausufern? In diesem Sinne liegt der Kompromiss zwischen Einverständnis und Gewalt. Liegt kein Einverständnis vor, handeln wir Kompromisse für den zivilen Frieden aus. Wir können sogar sagen, dass der Kompromiss unsere einzige Erwiderung auf Gewalt ist, wenn es keine von allen anerkannte Ordnung gibt, also kein einheitliches Wertesystem existiert. Weil wir nur Bruchstücke eines solchen Systems haben, sind wir gezwungen, zwischen ihnen Kompromisse zu finden. Da jede Person verschiedenen Wertesystemen angehört, müssen alle berücksichtigt werden, damit ein Kompromiss gefunden werden kann. Wir werden alle mit verschiedenem Maß gemessen: Wir sind Bürger, Konsumenten, Arbeiter, Kunstliebhaber ... Der Kompromiss hindert eine Gesellschaft daran, in diese einzelnen Bruchstücke zu zerfallen. Meiner Meinung nach liegt der größte Konflikt aktuell darin, dass alles durch die Wirtschaftsordnung bestimmt wird. Kann denn alles gekauft werden? Es gibt Güter, die keine Ware sind, wie Gesundheit, Erziehung oder Staatsbürgerschaft. Der Kompromiss vermittelt zwischen den konkurrierenden Ansprüchen aufgrund dieser unterschiedlichen Systeme der Familie, der Wirtschaft und so weiter. Aber müssen gegnerische Parteien nicht immer auch willens sein, einen Kompromiss zu finden, um den Streit zu beenden? Unnachgiebigkeit verhindert leider jegliche Suche nach einem Kompromiss. Sie ist unvereinbar mit der Suche nach neuen Bezugssystemen. Der Kompromiss bedarf der Verhandlung. Schaut man in die Geschichte, scheint es aber so, als ob die Gesellschaften es nicht geschafft hätten, dem Kompromiss einen Platz einzuräumen, um Gewaltprobleme zu lösen. Stattdessen setzen sie auf Polizei- oder Militärgewalt, um Frieden herbeizuführen. Vor allem mangelt es an Vorstellungskraft. Es fällt uns immer schwer, zuzulassen, dass andere Personen mit anderen Bezugssystemen als den unsrigen leben oder dass wir eine andere Rolle einnehmen als die, die wir bereits innehaben. Unsere westliche Gesellschaft ist gerade dazu gezwungen, eine Kompromissgesellschaft zu erfinden, weil sie immer komplexer wird und überall verschiedene Standpunkte existieren. Wir bewegen uns nicht unbedingt auf eine Gesellschaft zu, die friedlicher ist, sondern auf eine, in der die Rollen, die die einen oder die anderen einnehmen, einerseits vielfältiger, aber auch voneinander abhängiger werden. Die Arbeiten Edgar Morins zeigen genau das: Die Rollenkonflikte vervielfältigen sich, der Kompromiss bildet den einzigen Ausweg. Ich spreche hierbei immer von einem guten oder anständigen Kompromiss, wenn er keine Konflikte vertuscht. Bei »Alternatives Non-Violentes« unterscheiden wir zwischen Gewaltfreiheit und Pazifismus, denn sehr oft berücksichtigt der Pazifismus, im Gegensatz zur Gewaltfreiheit, die Motive eines Konflikts nicht. Pazifismus bedeutet ein bisschen Frieden um jeden Preis, das heißt um jeglichen Preis, während es die Gewaltfreiheit erlaubt, Konflikte mit wirksamen Mitteln und ohne Gewalt anzugehen. Was halten Sie davon? Diese Unterscheidung erscheint mir grundlegend. Erlauben Sie mir einen Exkurs. Ich freue mich, mit Ihnen über den Kompromiss und die Gewaltfreiheit zu sprechen, da ich nie vergessen werde, was ich nach meiner Rückkehr aus der Gefangenschaft in einem Milieu der Gewaltfreiheit erfahren habe, in Chambon-sur-Lignon, wo ich von 1945 bis 1948 im Collège Cévenol Philosophieprofessor war. Während der fünf Kriegsjahre waren die Einwohner Chambon-sur-Lignons Widerstandskämpfer, ohne Gewalt einzusetzen. Sie beschützten und versteckten zahlreiche Juden, bevor diese nach Spanien oder in die Schweiz fliehen konnten. Ich bin den Pastoren Trocmé und Theis sehr dankbar für ihre moralische und spirituelle Vision, die sie mir vermittelt haben. Können bestimmte Aktionen wie ein Boykott, ein Embargo oder ziviler Ungehorsam – solange sie sich einer gewaltlosen Strategie verpflichten – nicht auch zweckdienlich sein, damit gute und echte Kompromisse geschlossen werden können? Ja, aber bevor es dazu kommt, legen diese Aktionen vor allem Konflikte offen. Sie können ein Beleg für Weisheit sein. Das würde ich beispielsweise nicht von der Entführung eines Chefs behaupten. Die Ideologie, die der Gewaltfreiheit am meisten entgegensteht, indem sie es ablehnt, ihren sozialen Nutzen und ihre spirituelle Schöpfungskraft zu erkennen, wird immer eine totalitäre Ideologie sein. Ich glaube, dass man in eine gewaltfreie Perspektive eintritt, wenn man anerkennt, dass es immer einen Pluralismus der sozialen Rollen der Bürger gibt, das heißt, solange es kein vereinheitlichendes Prinzip gibt. Der Kompromiss wird gesucht und gefunden, wenn man die Idee akzeptiert, dass es solch ein Prinzip nicht gibt. Wenn es stimmt, dass eine wirkliche Weisheit mit gewaltfreien Aktionen erreicht wird, würde ich behaupten, dass dieselbe Weisheit diejenigen antreiben soll, die das Gewaltmonopol innehaben. Das muss ich erklären: Die Geschichte des Staates ist die Geschichte einer schleichenden Aneignung der öffentlichen Gewalt, die dem Einzelnen entzogen wurde. Diese Tatsache führt zu der Frage nach einem guten Gebrauch von Gewalt. Ab welchem Zeitpunkt und mit welchen Maßnahmen soll die Polizei in gefährlichen Vierteln eingreifen? Es gibt zwar die Polizeigewalt, wenn sie ihr Machtmonopol missbraucht, aber für den Rest gilt, dass sie eingreifen soll, solange sie ihre eigenen Regeln befolgt. Würden sie Eric Weil darin recht geben, dass die Wahl zwischen Gewalt und Gewaltfreiheit eine Wahl zwischen Unsinn und Vernunft ist? Eric Weil hat dieses Problem im Zusammenhang mit der Diskussion aufgeworfen. Seiner Ansicht nach tritt man mit dem Gespräch in eine Argumentationsbeziehung ein und folglich kann ich, solange ich mit jemandem spreche, ihn in dieser Zeit nicht körperlich angreifen. Eric Weil unterscheidet zunächst zwischen Gewalt und Gespräch, und weil das Gespräch der Ort für Sinn und Verständlichkeit ist, erscheint die Gewalt als eine Ablehnung davon. Diese Perspektive ist letztlich rational. Es ist aber nicht sicher, dass Gewalt allein durch ein Gespräch gelöst wird. Sie wissen ja, wie sehr ich Eric Weil schätze, und ich schließe mich seiner Ansicht an, die Sie eben aufgeworfen haben, als ich vom Kompromiss sprach, weil er selbst, in seiner »Logik der Philosophie«, eine Vielfalt von Kategorien entwickelt. Wir finden bei ihm keine Superkategorie, im Gegenteil, wir treffen auf eine Verweigerung, zu totalisieren. Ich denke aber, dass sich Gewalt nicht allein dadurch äußert, dass jemand zuschlägt, sondern dass sie ebenfalls in demjenigen wohnen kann, der spricht. Die gewalttätigsten Diktatoren halten Reden! Platon hat bemerkt, dass ein Tyrann Sophisten benötigt. Hitler brauchte Goebbels. Der eine sprach, damit der andere zuschlagen konnte. Die Gewalt benötigt also die Rede. Aber ist ein Gespräch nicht notwendig bei der Suche nach einem Kompromiss? Ja, ganz bestimmt. Aber ich denke ebenfalls, dass Gewalt mit einer Pervertierung der Sprache einhergeht. Das Ziel der Sophisten ist also erreicht, sie argumentieren mit Mitteln der Einschüchterung oder Verführung. Alle gewalttätigen Reden gehen mit dem einen oder dem anderen Mittel einher, manchmal mit beiden. Der Philosoph Patočka, dem ich sehr verbunden war, und von dem Havel ein Schüler ist, sprach immer von den zwei Waffen der kommunistischen Diktatur: der Angst und der Lüge. Wie kommt es, dass Sie sich, nachdem Sie in ihrem Buch »Geschichte und Wahrheit« die ethische Stichhaltigkeit der Gewaltfreiheit herausgestellt haben, in Ihren folgenden Schriften nicht mehr damit beschäftigt haben? Es ist wahr, dass ich sie nicht weiterverfolgt habe, oder nur auf Umwegen. Vor zwei Jahren habe ich mich in Tübingen zum Thema »Liebe und Gerechtigkeit« geäußert. Ich musste also die Frage zu »Liebe deinen Feind« wieder aufnehmen. Ich habe versucht, den offensichtlichen Widerspruch zu interpretieren, der zwischen diesem Gebot der Bergpredigt und der goldenen Regel besteht, die sich etwas später in der Predigt findet (»Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu«). Im Endeffekt verhindert die Logik des Massenmarktes die der Gegenseitigkeit. Die Gerechtigkeit, als Regel der Gleichheit, bricht nicht vollkommen mit dem Talionsprinzip »Auge um Auge, Zahn um Zahn«. Die Liebe zu den Feinden von der Regel der Gegenseitigkeit zu unterscheiden, bedeutet, in die Schenkökonomie einzutreten. Die Schwierigkeit ist, das den Institutionen zu vermitteln! Die Schenkökonomie lässt sich nicht institutionalisieren. Eine Marktwirtschaft kann nicht funktionieren mit der Regel »Wenn ihr etwas verleiht, fragt nicht, dass man es euch zurückgebt«. Die Schenkökonomie kann nur innerhalb der Gleichheitsökonomie funktionieren, der des Austauschs und der Gegenseitigkeit. Aber sie ist nicht alles! Eine interne Wirtschaft kann nie totalitär sein. Wir können Teile dieser Schenkökonomie nur in homöopathischen Dosen in unsere Institutionen einführen. Beispielsweise können die Finanzschulden der Dritten Welt nicht unter einem juristischen Gesichtspunkt betrachtet werden. Ich bewundere sehr, was Hannah Arendt geschrieben hat, als sie sagte, dass man unter den politischen Konzepten das Vergeben hervorheben muss. Nichtsdestoweniger liegt das Paradoxon der Gewaltfreiheit meiner Meinung nach darin, dass man nicht institutionalisieren kann, was durch die Institution selbst in Frage gestellt wird. Mit der Gewaltfreiheit kann man höchstens einen Umsturz herbeiführen. Warum wurde die Gewaltfreiheit von den Religionen verborgen gehalten?

Ich denke, das liegt am Fortbestehen des – wie ich es nennen würde – Hegemonialprinzips. Auf der Seite der Religionen gab es schon immer das Bestreben, alles sein zu wollen. Der Anspruch, zu totalisieren, geht mit Ausschließung und Gewalt einher. Mehr als ein Zwölftel des Buches von John Rawls, »Theorie der Gerechtigkeit«, ist dem zivilen Ungehorsam gewidmet als ein Druckmittel, um Konflikte zu lösen. Warum ist ihrer Meinung nach in Frankreich der zivile Ungehorsam so verrufen? John Rawls ist Amerikaner. In Frankreich stehen wir noch unter dem Einfluss der langwährenden jakobinischen Tradition, nach der jeder gesellschaftliche Fortschritt durch Gesetzesgehorsam erreicht wird. Dass in unserer Verfassung das Recht, öffentlich zu demonstrieren, nicht festgeschrieben ist, beweist das – wohingegen dieses Recht in der deutschen Verfassung existiert. Der zivile Ungehorsam hat bei uns einen schlechten Ruf, weil er zu Unrecht mit der Rebellion auf eine Ebene gesetzt wird. Die Erinnerung an die Schreckensherrschaft (»terreur«) lastet immer noch schwer auf der Republik. Das ist ein verdrängter Teil der Geschichte unseres Landes. Würden Sie sagen, dass die Philosophie im Verlauf der Geschichte nicht mutig genug war, die Gewaltideologie abzulehnen? Zuallererst gibt es mehrere Philosophien. Sicher ist gleichwohl, dass die Hegelsche Philosophie die Gewaltideologie bevorzugt hat. Diese Philosophie setzt allein auf die Errichtung großer Nationalstaaten – der Preis dafür sind Zerstörung, Massaker und Unterdrückung der Schwachen, um Größe zu schaffen. Hinter alledem steht bei Hegel das Modell des römischen Staates und seiner Größe. Auf eine gewisse Art ist der Westen das Erbe dieser Größe. Da laut Hegel die Gewaltlosigkeit nicht der »schönen Seele« entspricht, muss sie immer diesen »unschönen« Weg der Verantwortung suchen. Meiner Ansicht nach ist das sehr schwierig und selten. Aber man muss in diese Richtung gehen. Wäre Ihrer Meinung nach beispielsweise ein von den UN verhängtes Embargo erfolgreich gewesen, um Hussein zur Räumung Kuwaits zu zwingen? Aber sicher! Ich bedauere nur, dass ich das in Frankreich nicht nachdrücklicher gesagt habe. Während meiner Reise nach Italien habe ich klargestellt, dass ich für die Aufrechterhaltung eines Embargos war und nicht für eine militärische Operation – die »Unità«, ein italienisches kommunistisches Magazin, hat meine Aussage wiedergegeben. In Bezug auf den Golfkrieg habe ich mich immer den Analysen von Claude Cheysson nahegefühlt. Die westlichen Staatschefs haben die Verteidigung des Rechts mit der Verteidigung ihrer Ölinteressen vermischt. Was sind ihrer Meinung nach die Voraussetzungen für eine Ethik des Kompromisses? Der zivile Frieden an einem festgelegten Ort scheint mir der beste Platz, an dem man eine Ethik des Kompromisses beobachten kann, weil hier die Personen von verschiedenen bestimmbaren Rollen durchdrungen sind. Es ist also leichter möglich, Konflikte zu lösen. Das Fortschreiten des zivilen Friedens innerhalb einer historisch festgelegten Gesellschaft ist eine Voraussetzung, um auch den internationalen Frieden voranzubringen. – Ich würde hier gerne eine Bemerkung machen: Das internationale Recht liegt im Vergleich zum nationalen Recht weit zurück. So wie Staaten ihren Bürgern die Ausübung von Gewalt abgenommen haben, sind wir auf der Suche nach neuen politischen Institutionen, die gegenüber den Staaten genau das machen können, was die Staaten gegenüber ihren Bürgern getan haben. Die Lösung ist nicht, einen Superstaat zu schaffen, sondern Institutionen eines neuen Typs, die, in einer bestimmten Art und Weise, den Tod des Nationalstaats bedeuten würden. Allerdings ist der Nationalstaat heute weit davon entfernt, tot zu sein! In den Vereinten Nationen haben wir es mit der Logik von 160 Staaten zu tun, die aufeinanderprallen. Die Bedeutung des Nationalstaates ist so stark, dass unterdrückte Minderheiten keine andere Möglichkeit haben, als einen Staat einzufordern, also dieselbe Logik zu verfolgen wie ihre Unterdrücker. Die Palästinenser wollen einen Staat wie die Israelis. Es ist sehr schwer, die Logik eines Nationalstaats zu brechen, weil der Staat im Laufe der Jahre oft private Gewalt befriedet hat. Lernt man nicht mit einer Erziehung, die der praktischen Vernunft folgt, gute Kompromisse zu schließen, also das, was Aristoteles »phronesis« nennt? Sie spielen hier auf mein gerade veröffentlichtes Buch »Das Selbst als ein Anderer« an, in dem ich die praktische Vernunft mit der Lösung von Konflikten verbinde. Nicht alle Konflikte sind mit Gewalt beladen, aber alle benötigen, um gelöst zu werden, praktische Vernunft. In meinem Buch zeige ich, dass der Konflikt eine Struktur des menschlichen Handelns ist. Man braucht nicht von einem Leben zu träumen, das natürlicherweise friedlich ist. Die Gesellschaft ist kein Eden. Wir müssen unsere Konflikte lösen, wie es uns die griechische Tragödie lehrt, in der Konflikte zwischen Menschen und Göttern, Kindern und Alten, Schwestern und Brüdern vorkommen ... Die griechische Tragödie nutzt die praktische Vernunft, um auf die Katastrophe aufmerksam zu machen. Was können Sie zum Abschluss zusammenfassend sagen? Ich bin mir nicht sicher, ob sich die Frage nach dem Kompromiss und die nach der Gewaltfreiheit komplett decken. Ich weiß nicht, welche der beiden über der anderen steht. Den Kompromiss zu behandeln, heißt nicht immer, auch Gewaltfreiheit behandeln zu müssen. Es heißt vor allem, ein Einverständnis zwischen den rivalisierenden Parteien zu erarbeiten, für die man kein übergeordnetes Wertesystem gefunden hat, welches jede Partei übernehmen könnte. Jede Partei hat ein Argumentationsschema, aber es gibt keine Superargumentation, die beide einschließt. Die Gewaltfreiheit, so scheint es mir, tritt erst auf, wenn kein Kompromiss gefunden werden kann und man in Richtung der Gewalt geht. Alle Kompromisse sind instabil, denn sie folgen Prinzipien, die weniger stark sind als die Prinzipien, die sich gegenüberstehen. Ein Kompromiss ist aufrichtig, wenn er die Ansprüche der einen und der anderen Seite anerkennt. Aber gleichzeitig wird er schöpferisch, weil er den Weg zur Suche nach neuen, weiter reichenden Prinzipien bereitet. Um es anders auszudrücken: Es scheint mir, dass sich das Gemeinwohl dadurch auszeichnet, dass es den Kompromiss zwischen rivalisierenden Regeln und verschiedenen Wertesystemen definiert. Aktuelle Ausgabe Diese Übersetzung erschien in der 11. Ausgabe von KATAPULT. Unterstützen Sie unsere Arbeit und abonnieren Sie das gedruckte Magazin für nur 19,90 Euro im Jahr. KATAPULT abonnieren