»Wir haben eine akute Gefährdungslage«, mahnt uns der Polizist wiederholt zur Eile. »Wir müssen das Redaktionsgebäude sofort evakuieren! Bitte folgen Sie mir. Sie stehen ab jetzt unter Polizeischutz.« Krass! Passiert das gerade echt? In diesem Moment hören wir eine Stimme aus seinem Funkgerät, sie erwähnt eine Nachrichtensperre. Offenbar gab es mehrere Anschläge auf Medienhäuser mit vielen Toten – klingt übel. Als Journalisten seien auch wir gefährdet. »Haben Sie Fragen? Dann klären wir die auf dem Weg.« Um uns herum herrscht Hektik, einige Leute unserer Redaktion steigen in Polizeibusse. Auch wir folgen der Aufforderung. Abfahrt. Blaulicht. Kein Sirenengeheul. Doch es geht nicht zur Polizeiwache. »Das wäre zu offensichtlich«, erklärt der Polizist, »wir bringen Sie in Bansin unter. Dort gibt es sichere Wohnungen für solche Fälle. Aber keine Sorge, wir bleiben die ganze Zeit bei Ihnen.« An einem Kontrollpunkt vor Usedom werden wir durchgewunken, wir haben einen Passierschein. Schließlich halten wir an einem umzäunten Waldstück mit grauen Baracken, anscheinend ein ehemaliges Militärgelände. Aussteigen. Warten. Warum warten wir? Warum hier? Seltsam. Ich greife nach meinem Handy. Wähle 110. Will mich rückversichern. Warum komme ich erst jetzt darauf? Funktioniert nicht, kein Empfang. Immer mehr Bewaffnete tauchen auf, auch Bundeswehr-Lkw fahren vor. Was ist hier los? Allmählich wird mir klar: Wir sind in eine Falle gelaufen. Es ist alles eine Täuschung – die Polizeibusse, der angebliche Anschlag. Wie konnten wir nur so naiv sein? Ich blicke mich um. Der erste Schuss fällt. Dann der zweite. Ich will wegrennen. Der dritte Schuss fällt. Ich bin getroffen ... Diese Geschichte ist so niemals passiert. Sie ist aber keine reine Fantasie. Sondern angelehnt an das, was in rechten Chatgruppen als Strategie besprochen wurde: politische Gegner:innen mit Lkw der Bundeswehr abholen, bei Bedarf gefälschte Passierscheine vorzeigen, sie auf Sammelplätzen konzentrieren – und dann umbringen. Wann? Zum Beispiel am Tag eines Putsches. Wann der kommen soll, bleibt unklar – aber Mitglieder rechtsextremer Netzwerke bereiten sich auf genau solch einen Tag vor. Eines dieser Netzwerke ist 2017 aufgeflogen: die Gruppe »Nordkreuz«. Sie hat sowohl Waffen gehortet als auch Listen mit politischen Feinden geführt.  Darauf stehen nicht nur »Linke«, sondern auch Bürgerliche und Konservative. Journalisten, Politikerinnen, Rentner. Jeder, den die Nordkreuzler als Feind auserkoren haben. Mit Adressen. Teils stammen die Daten aus Onlinehacks, teils aus Polizeicomputern. Die etwa 50 Mitglieder der Gruppe sind leider keine Amateure – zu ihnen gehören Elitepolizisten, aktive und ehemalige Bundeswehrsoldaten und Politiker. Sie sind Teil eines weiteren Netzwerks rechtsextremer Akteure. Ermittelt wird nur gegen einige von ihnen. Der Fall illustriert: Wer bei Rechtsextremen immer noch an ein paar Dorfnazis aus dem Osten denkt, hat das Problem nicht verstanden. Die Gefahr geht nicht nur von erkennbaren Neonazis aus. Rechtspopulisten der AfD vergiften das politische Klima, spontane Mobs setzen die Ideen gewaltvoll um. Vermeintliche Einzeltäter radikalisieren sich in Onlineforen und verüben Terroranschläge – nicht nur in Halle und Hanau, sondern auch in Norwegen, Neuseeland oder den USA. Sie eint der Glaube an angebliche Weltverschwörungen und korrupte Eliten. Schützt uns die Polizei verlässlich vor solchen Tätern? Darauf kann man nicht immer vertrauen. Über Jahre haben Polizei und Bundeswehr Rechtsextreme in ihren Reihen geduldet – und sehen sich nun mit gewachsenen rechten Strukturen konfrontiert. Dieser KNICKER zeigt, wie vielschichtig das Problem ist – von der Radikalisierung im Internet bis zu der Rolle der sympathischen Nazis, die Frauen in der Szene spielen. Vor allem aber würdigt diese Ausgabe die vielen Hundert Menschen in Deutschland, die ihr Leben durch rechte Täter verloren haben. Aktuelle Ausgabe KATAPULT ist gemeinnützig und unabhängig. Wir finanzieren uns durch Spenden und Abos. Unterstütze unsere Arbeit und abonniere das Magazin gedruckt oder als E-Paper ab 19,90 Euro im Jahr! KATAPULT abonnieren