Kardinal Woelki gab im September 2018 ein großes Versprechen: “Unser Kölner Erzbistum wird sich der Wahrheit stellen - auch dann, wenn diese schmerzlich ist.” Es ging um sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche in Deutschland. Woelki wollte ihn in seinem Bistum “ungeschönt und ohne falsche Rücksichten” aufklären und gab eine unabhängige Studie in Auftrag, die den Umgang mit Missbrauchsfällen zwischen 1975 und 2018 untersuchen sollte.
Das Gutachten belastet nun aber Kirchenmänner, die hohe Ämter in der katholischen Kirche bekleiden. Unter ihnen ist etwa der heutige Hamburger Erzbischof Stefan Heße, der bis 2015 Personalchef und Stellvertreter des Kölner Bischofs war. Weil die Gutachter seiner Meinung nach unprofessionell gearbeitet hätten, gab Woelki Ende Oktober 2020 bekannt, die Ergebnisse des Gutachtens nicht veröffentlichen zu wollen. Inzwischen hat der Kölner Stadtanzeiger einige der von Woelki zurückgehaltenen Ergebnisse online zugänglich gemacht: Vier bereits verstorbene Kölner Kardinäle und zwei weitere ehemalige Generalvikare hätten einen Pfarrer in den 1960er-Jahren weiter als Seelsorger eingesetzt - obwohl sie wussten, dass er bereits sexuell übergriffig gehandelt hatte. Jener Pfarrer beging auch danach wiederholt sexuellen Missbrauch an Minderjährigen. Trotz zweier Haftstrafen wegen “fortgesetzter Unzucht mit Kindern und Abhängigen” wurde er bis 2015 immer wieder in verschiedenen Bistümern Nordrhein-Westfalens als Priester eingesetzt. Auch Bischof Heße beschuldigen die Studienersteller. Er habe einen 2008 gemeldeten Vorwurf gegen den Pfarrer nicht an die zuständige Stelle im Bistum Köln weitergeleitet. Heße streitet die Vorwürfe ab; Woelki veranlasste, dass bis März 2021 nun ein anderes Anwaltsteam eine neue Studie erstellen soll.
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Mindestens 3.677 betroffene Kinder und Jugendliche
In Mainz schreitet die Aufarbeitung dagegen voran - offenbar ohne Einflussnahme der Kirche. Das dortige Bistum hatte 2019 eine unabhängigen Studie bei dem Rechtsanwalt Ulrich Weber in Auftrag gegeben. Weber soll herausfinden, wie viele Beschuldigte und Betroffene sexualisierter Gewalt es zwischen 1945 und 2019 im Bistum Mainz gegeben hat. Im Oktober 2020 erschien der Zwischenbericht, sein vorläufiges Ergebnis: Es gibt mehr als doppelt so viele Betroffene und fünfmal mehr Beschuldigte als bisher bekannt. Als mögliche Täter erfasste Weber zusätzlich zu Geistlichen auch andere Bedienstete der katholischen Kirche. Laut Zwischenbericht geht er von 273 Beschuldigten und 422 Betroffenen aus. Die Vergehen reichen von verbaler sexueller Belästigung Erwachsener bis hin zur Vergewaltigung Minderjähriger.
Auslöser für Untersuchungen wie die in den Bistümern Köln und Mainz waren die 2010 erstmals bekannt gewordenen Missbrauchsfälle größeren Umfangs durch Kleriker in Deutschland. Jesuitenpater Klaus Mertes, der damalige Leiter des Canisius-Kollegs in Berlin, berichtete, Jesuiten hätten in den 70er- und 80er-Jahren Schüler missbraucht. Daraufhin wurden deutschlandweit viele weitere Fälle in Einrichtungen der katholischen Kirche öffentlich. Kirchenvertreter gerieten zunehmend unter Druck. Vor allem die Deutsche Bischofskonferenz. Sie ist der Zusammenschluss der römisch-katholischen Bischöfe aller 27 Bistümer in Deutschland. Der Verband der Diözesen Deutschlands gab schließlich die sogenannte MHG-Studie in Auftrag, die zunächst beziffern sollte, wie viele Minderjährige zwischen 1946 und 2014 deutschlandweit durch Priester und Diakone sexuell missbraucht worden waren. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universitäten Mannheim, Heidelberg und Gießen - daher MHG-Studie - erfassten 1.670 Beschuldigte und mindestens 3.677 betroffene Kinder und Jugendliche. Grundlage der Untersuchung bildeten kircheninterne Akten von 38.156 Geistlichen aus allen Bistümern. Viele Dokumente waren zuvor jedoch routinemäßig oder absichtlich vernichtet worden.
Dunkelziffer könnte mehr als dreißigmal höher sein
Dass Akten von Missbrauchsfällen verschwinden, ist die Folge eines zentralen Problems all dieser Studien: Die Organisation der Täter arbeitet ihre eigenen Verbrechen auf. Wie mit den Tätern umgegangen wurde und wie sie heißen, wird erfolgreich verschwiegen. Zugang zu den Akten hat zunächst nämlich nur die Kirche. Für seine Studie durfte Anwalt Weber im Bistum Mainz dagegen alle verfügbaren Unterlagen einsehen und in Geheimarchiven recherchieren. Er sei von der Bistumsleitung nicht beeinflusst worden, sagt er. Wieso bekam er dort Zugang, die Gutachter in Köln dagegen nicht?
Ganz einfach: Es gibt keine persönlichen Verbindungen. Weber sagt: »Das heute mit der Untersuchung sexueller Gewalt im Bistum beauftragte kirchliche Personal war vor unserer Beauftragung nicht in einschlägigen Ämtern für die Bewertung damaliger Beschuldigungen zuständig. Die zeitlich bedingt fehlende persönliche Betroffenheit ist eine große Chance für unsere Arbeit als Aufklärer.« Trotzdem kann auch er nur die bekannt gewordenen Fälle untersuchen. Viele Betroffene trauen sich erfahrungsgemäß nicht, über das Erlebte zu berichten. Auch hält die Kirche andernorts Akten unter Verschluss. Eine Dunkelfeldstudie des Ulmer Kinderpsychiaters Jörg Fegert kam 2019 zu der Einschätzung, dass heute in Deutschland bis zu 114.000 Menschen leben könnten, die Opfer von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche geworden sind. Noch einmal so viele sollen in der evangelischen Kirche betroffen sein. Dazu befragte Fegert 2.516 Personen, von denen vier von Missbrauchserfahrungen in einer katholischen oder evangelischen Einrichtung berichteten. Hochgerechnet auf 71,5 Millionen Einwohner ab 15 Jahren in Deutschland ergebe sich die besagte Schätzung. Für den Breitensport errechnete er sogar eine noch höhere Missbrauchszahl. Worauf Fegert und sein Team jedoch ausdrücklich hinweisen: Die Stichprobe ist sehr klein, weitere Untersuchungen seien nötig - und eine bessere Datengrundlage.
Der Papst ordnet Zusammenarbeit mit Behörden an
Die schwierige Datenlage ist auch darauf zurückzuführen, dass in der Kirche im Vergleich zu anderen Organisationen Vorfälle viel häufiger verschwiegen werden. Auch das ergab die MHG-Studie. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler untersuchten Akten von 67 Priestern und 52 Vertretern anderer Institutionen. Das Ergebnis: Für 52 Prozent der schuldigen Geistlichen finden sich Hinweise darauf, dass Verantwortliche deren Taten verharmlost oder vertuscht haben. Auf Täter aus anderen Institutionen wie Schulen und Sportvereinen traf das nur in unter zehn Prozent der Fälle zu. Die hohe Vertuschungsrate bestätigt auch die Mainzer Studie. Sowohl Mitarbeitende der Pfarrgemeinden als auch die Bistumsleitung habe dort klare Kenntnisse über Missbrauchsvorwürfe »negiert, bagatellisiert und/oder für sich behalten«, so Weber.
Um Verdunkelungen zu erschweren, erließ Papst Franziskus zwei grundlegend neue Vorschriften: Im Mai 2019 führte er eine kircheninterne Meldepflicht für Fälle sexuellen Missbrauchs ein. Das heißt, dass Kirchenangestellte jeden Vorfall, von dem sie erfahren, an entsprechende Ermittlungsstellen innerhalb der Kirche weitergeben müssen. Außerdem unterliegen auf seinen Erlass hin seit Anfang 2020 die Akten Beschuldigter nicht mehr dem päpstlichen Geheimnis. Dabei handelt es sich um Geheimhaltungsnormen für bestimmte Rechts- und Verwaltungsvorgänge in der katholischen Kirche, deren Nicheinhaltung sogar unter Strafe steht. Seitdem müssen in Missbrauchsfällen kirchliche mit staatlichen Stellen zusammenarbeiten. Ermittlungsbehörden können nun bei den jeweiligen Bistümern Personalakten anfordern, wenn es sich um Anschuldigungen oder Anklagen gegen Kleriker handelt. Betroffene bewerten diesen Schritt als einen wichtigen symbolischen Akt. Es gebe nun keine Ausreden mehr, Informationen geheim zu halten. Opfer könnten endlich erfolgreich Anzeige erstatten und vor staatliche Gerichte ziehen. Inwiefern die neue Vorschrift in den Kirchengemeinden umgesetzt wird, ist jedoch fraglich.
Zwei Drittel aller Verfahren werden eingestellt
Die Zweifel sind nicht unbegründet, wie das Kölner Beispiel zeigt. Das neue Kirchengesetz hebt zwar das päpstliche Geheimnis auf, erlaubt es aber weiterhin, den Ruf, das Ansehen und die Privatsphäre beschuldigter Geistlicher zu schützen. Darauf berufen sich nun auch das Bistum Köln und Erzbischof Stefan Heße.
Ohne Zugang zu Namen und Akten erfolgt aber kein strafrechtliches Ermittlungsverfahren. Denn die Kirche ist nach deutschem Recht nicht verpflichtet, sexuellen Missbrauch, der in ihrer Institution begangen wird, anzuzeigen. Das soll die Opfer schützen. Sie werden so nicht gezwungen, von ihren Erlebnissen zu berichten. Wenn es jedoch zur Anklage kommt, werden nur sehr wenige Geistliche verurteilt. Aktuelle Zahlen aus den bayerischen Bistümern zeigen, dass seit der Veröffentlichung der MHG-Studie 139 von 148 Verfahren eingestellt wurden. 46 von ihnen waren verjährt. Ein ähnliches Verhältnis liegt bundesweit bei allen Sexualdelikten vor, auch bei denen außerhalb der Kirche: Zwei Drittel aller Verfahren im Jahr 2019 endeten ohne Urteil.
Jedes Bistum muss unabhängige Kommissionen einrichten
Die lückenhafte Aufklärung der Kirche führt bislang dazu, dass Täter gar nicht oder erst sehr spät ermittelt werden. Für Tausende Betroffene bedeutet das, dass ihr Leid nicht entschädigt oder auch nur anerkannt wird. Zwar hat die Bischofskonferenz für 2021 erstmals eine zentral geregelte Billigung von sogenannten Anerkennungszahlungen von bis zu 50.000 Euro in Aussicht gestellt, der Betroffenenverband “Eckiger Tisch” kritisiert dies jedoch als unzureichend. Sein Vorsitzender Matthias Katsch fordert von Bundesregierung und Bundestag seit Jahren, Druck auf die Kirche auszuüben, um die gesamte Aufarbeitung voranzutreiben. Möglich wäre das etwa durch einen Untersuchungsausschuss. Ein Viertel der Bundestagsabgeordneten müsste einem solchen zustimmen. Er könnte dann Beweise sammeln und die Hilfe von Gerichten und Verwaltungsbehörden in Anspruch nehmen. Bisher hält sich die Politik jedoch zurück.
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Das kritisiert auch Johannes-Wilhelm Rörig, der von der Bundesregierung eingesetzte unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. Eine seiner zentralen Aufgaben ist es, dafür zu sorgen, dass sexualisierte Gewalt an Kindern systematisch aufgeklärt wird. Dafür vermittelt er auch zwischen Betroffenen und Kirche. Das jüngste Ergebnis: eine gemeinsame Erklärung von Rörig und Bischof Stephan Ackermann, dem Missbrauchsbeauftragten der Bischofskonferenz. Sie legt “verbindliche Kriterien und Standards für eine unabhängige Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche in Deutschland” fest. Jedes Bistum muss nun Aufarbeitungskommissionen mit Vertretern der Kirche, unabhängigen Experten aus Wissenschaft, Fachpraxis, Justiz und öffentlicher Verwaltung sowie Betroffenen einrichten. Bisher hatten das nur wenige Bistümer getan.
An der Einigung war auch Matthias Katsch als Vertreter der Betroffenen beteiligt. Er rief die Bischöfe dazu auf, sich an die Erklärung zu halten. Nicht ohne Grund: Ereignisse wie der Rückzieher von Bischof Woelki in Köln belasten Betroffene stark. Sie leiden nicht nur unter den Missbrauchserfahrungen, sondern auch darunter, dass viele Kirchenmänner im Aufarbeitungsprozess ihre Priesterkollegen schützen - anstatt deren Opfer.
Transparenzhinweis: Die Karte "Deutsche Bistümer und Erzbistümer" war teilweise fehlerhaft. Wir haben sie deswegen gelöscht.
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