Am 11. April ist ein 57-jähriger rumänischer Erntehelfer nach einer Corona-Infektion gestorben. Er hat auf einem Spargelhof im baden-württembergischen Bad Krozingen gearbeitet, bevor die Grenzen geschlossen wurden. Ausreichend vor einer Infektion mit Covid-19 geschützt wurde er von seinem Arbeitgeber aber nicht - genauso wenig wie seine Kollegen. Weitere rumänische Arbeitskräfte im selben Betrieb berichten, dass sie zu fünft in einem Zimmer übernachten, trotz gesundheitlicher Beschwerden weder getestet noch isoliert wurden und seit mehreren Tagen dieselben Atemschutzmasken tragen müssen. Inzwischen wurden über 15 Arbeiter dieses Spargelhofs positiv auf Covid-19 getestet. Die Saisonarbeitskräfte, die auf Deutschlands Feldern stehen, kommen größtenteils aus Rumänien. Das Land hat in der EU den höchsten Anteil der armutsgefährdeten Bevölkerung: 23,6 Prozent. Noch 2017 verdienten 1,5 Millionen Rumänen unter drei Euro am Tag beziehungsweise unter 974 Euro im Jahr. Damit sind die 10 Prozent der Ärmsten in Rumänien zehnmal ärmer als die Ärmsten der EU. Über 20 Prozent der Rumänen leben und arbeiten deshalb im Ausland. Denn Saisonarbeit stellt eine Alternative zur dauerhaften Auswanderung dar. Einige Rumänen machen daher von ihrem Recht auf Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der Europäischen Union Gebrauch und nehmen die Möglichkeit wahr, bis zu 70 Tage in einem anderen EU-Land zu arbeiten. Laut EU-Vertrag sollen die Arbeitskräfte beim „Zugang zu Beschäftigung, Arbeitsbedingungen und aller anderen Sozialleistungen und Steuervorteile genauso behandelt werden wie die Staatsangehörigen des Aufnahmelandes“. Offiziell bekommen sie in Deutschland den Mindestlohn von 9,35 Euro pro Stunde. Davon müssen sie aber nicht mehr nur den Agenturen, die sie nach Deutschland vermittelt haben, Gebühren zahlen, sondern zum Teil für die eigenen Reisekosten aufkommen, acht Euro am Tag für die Unterbringung zahlen und vier Euro am Tag für das Mittagessen. Für die Zeit der Corona-Pandemie gibt es neue Regelungen für die Saisonkräfte in Deutschland. Bis Ende Oktober 2020 dürfen sie nun bis zu 115 Tage sozialversicherungsfrei bei deutschen Arbeitgebern beschäftigt werden, damit „Betriebe eine größere Planungssicherheit“ erhalten.Die Saisonkräfte genießen diese Planungssicherheit jedoch nicht. Während ihrer Beschäftigung sind sie in Deutschland nicht krankenversichert. Für rumänische Arbeitskräfte ist zudem die Einreise mit Charterflügen vorgeschrieben, um die Infektionsgefahr bei langen Busfahrten zu vermeiden. Die Arbeitsverträge sehen außerdem vor, dass die Arbeitszeit um 50 Prozent mehr als die vorgeschriebenen acht Arbeitsstunden verlängert werden darf. Bei Bedarf muss auch an Sonn- und Feiertagen gearbeitet werden. Dieses Konzept für die „begrenzte Einreise von Saisonarbeitskräften unter strengen Auflagen“ haben der Bundesinnenminister Horst Seehofer und die Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner Anfang April vorgestellt. Bis zu 80.000 Arbeitskräfte sollen im April und Mai nach Deutschland einreisen dürfen. Wann sie zurückfliegen können, wissen sie aber nicht. Denn hierfür verlangen die Airlines das Chartern einer ganzen Maschine mit mindestens 150 Plätzen. Auch für welche Arbeit genau die Ausnahmeregelung gelten soll, war unklar. Doch auf der Pressemitteilung waren Menschen abgebildet, die sich über lange Spargelreihen beugen. Zu diesem Zeitpunkt waren Deutschlands Grenzen zu den Nachbarländern aufgrund der Corona-Pandemie seit über mehr als zwei Wochen geschlossen. Grafik herunterladen Die Corona-Pandemie legt strukturelle Ungleichheiten offen und verschärft sie sogar. Doch die Arbeitsbedingungen, unter denen osteuropäische Arbeitskräfte in Westeuropa beschäftigt werden, haben nicht nur System, sondern auch eine lange Geschichte. Bereits während der Industrialisierung im Deutschen Reich Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Saisonarbeit in der Landwirtschaft für Einheimische zunehmend unattraktiv. Industrielle Zentren wie das Ruhrgebiet Hunderttausende Arbeitskräfte und ihre Familien anzogen. Deswegen wurde das Anwerben (russisch-)polnischer Arbeitskräfte auf den großen Gütern östlich der Elbe immer rentabler. Auch der Soziologe Max Weber beschäftigte sich bereits im Jahr 1895 mit der wachsenden Bedeutung preiswerter polnischer Arbeit auf großen Landgütern. Obwohl die polnischen Bauern zu der Zeit die deutsche Staatsbürgerschaft hatten, beschrieb Max Weber die Situation als „ökonomischen Kampf der Nationalitäten“. Der Wunsch, „das Deutschtum des Ostens“ zu schützen, brachte Weber dazu, „deutsche Wertestandards“ gegenüber internationalen Standards von sozialer Gerechtigkeit zu verteidigen. Diese sah er von der politischen Ökonomie ausgehen: „[...] die Wissenschaft von der Volkswirtschaftspolitik ist eine politische Wissenschaft. Sie ist eine Dienerin der Politik, nicht der Tagespolitik der jeweils herrschenden Machthaber und Klassen, sondern der dauernden machtpolitischen Interessen der Nation.“ Auch heute gibt die politische Ökonomie des (Spargel-)Konsums einem “ökonomischen Kampf der Nationalitäten” Auftrieb, ohne soziale Gerechtigkeit einzufordern. Die Corona-Krise offenbart eine deutsche Volkswirtschaftspolitik, in der die machtpolitischen Interessen der Nation durchgesetzt werden, die Max Weber vor 100 Jahren beschwor. Schutz und Rechte osteuropäischer Arbeitskräfte werden in dieser Krise in einem erneuten “Kampf der Nationalitäten” gegen die Sicherstellung der Konsumgewohnheiten westeuropäischer Bevölkerungen ausgespielt. Mittlerweile werden rumänische Arbeitskräfte auch nach Großbritannien eingeflogen, um bei der Erdbeerernte zu helfen – dorthin also, wo sie seit Brexit explizit unerwünscht waren. Frankreich meldet Bedarf bei der anstehenden Weinlese. In Teilen der deutschen, rumänischen, und britischen Presse wird darüber diskutiert, ob die Versorgung Westeuropas mit Lebensmitteln auf Kosten der Gesundheit osteuropäischen Saisonarbeitskräfte erfolgen darf. In einer weltweiten Pandemie sind wir jedoch auf eine globale Kooperation angewiesen, die auf sozialer Gerechtigkeit basiert und gleiche Arbeitsrechte sowie Gesundheitsschutz gewährt. Aktuelle Ausgabe KATAPULT ist gemeinnützig und unabhängig. Wir finanzieren uns durch Spenden und Abonnements. Unterstützen Sie unsere Arbeit und abonnieren Sie das gedruckte Magazin für nur 19,90 Euro im Jahr. KATAPULT abonnieren