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Internationale Beziehungen

Die Wirkungslosigkeit internationaler Sanktionen

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Die Europäische Union listet in ihrem Strafkatalog aktuell Maßnahmen gegen knapp 30 Länder und staatliche Akteure auf. Angesichts der Entwicklungen in der Türkei fordern zahlreiche Kommentatoren, auch gegen die Erdogan-Administration vorzugehen. Doch welche Instrumente werden in der Sanktionspolitik eigentlich genutzt und was bewirken sie tatsächlich?

Was in der Familie mit recht kleinen Mitteln funktionieren mag, ist auf der internationalen Bühne schwieriger. Staaten sind gemäß dem internationalen Völkerrecht souverän und damit in Fragen der inneren Gestaltung selbstbestimmt.

Dennoch gibt es nach Auffassung der Staatengemeinschaft gute Gründe, internationalen Druck auf einzelne Regierungen auszuüben. Darunter fallen massive Menschenrechtsverletzungen und Annexionen fremder Hoheitsgebiete. Auch die Unterstützung von Terrorismus oder die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen werden mit solchen Mitteln geahndet.

Grundlage für Sanktionen ist häufig ein Beschluss der Vereinten Nationen. Daneben erlassen aber auch einzelne Staaten eigenständig Strafen.

Harte Sanktionen nehmen zu

Dabei wird zwischen Sanktionen im weiteren Sinn und solchen im engeren Sinn unterschieden. Erstere werden auch als diplomatische Sanktionen bezeichnet und bilden meist Schritt eins in der Sanktionspolitik. Dazu gehören beispielsweise das Einbestellen des Botschafters oder das (zeitweise) Abziehen von eigenem Botschaftspersonal.

Die Zahl der Sanktionen steigt und überschritt im Jahr 2000 die 50er-Marke

Sanktionen im engeren Sinn werden hingegen seltener verhängt - allerdings mit steigender Tendenz. Waren Mitte des 20. Jahrhunderts fünf Staaten mit internationalen Strafmaßnahmen belegt, überschritt die Zahl im Jahr 2000 die 50er-Marke.

Abhängig von der Reichweite und den betroffenen Personenkreisen lassen sie sich in drei Kategorien gliedern. Maßnahmen gegen einzelne Personen oder Organisationen stellen in der Regel den zweiten Schritt im Sanktionskatalog dar. Diese als »smart sanctions« (gezielte Sanktionen) bezeichneten Strafen sollen durch Einreiseverbote oder Kontosperrungen gezielt herrschende Cliquen treffen.

Auf der dritten Stufe stehen Wirtschaftsembargos, die teilweise oder umfassende Ein- und Ausfuhrbeschränkungen sowie Investitionsverbote beinhalten. Waffenembargos als weitere Strafmöglichkeit gehören in der Öffentlichkeit zu den unstrittigen Restriktionen.

Vom Embargo zu smarten Sanktionen
Die Folgen wirtschaftlicher Embargos sind enorm: Fehlende Investitionen und Absatzmöglichkeiten führen bei den sanktionierten Staaten zu sinkender Produktivität, stockendem Wachstum, niedrigeren Steuereinnahmen und steigender Arbeitslosigkeit. Den grundlegenden Annahmen zufolge ist gerade das der entscheidende Mechanismus, der die Staatenlenker zum Kurswechsel zwingen soll. Sind die Strafmaßnahmen gravierend genug, stehen die Herrschenden in der Heimat unter Handlungsdruck, da die Gefahr eines Volksaufstandes steigt.

Die Sanktionen gegen den Irak führten zu einer humanitären Katastrophe

Spätestens das Beispiel des Irak unter Saddam Hussein machte allerdings deutlich, dass das nicht immer funktioniert: Solange die relevanten Machtgruppen eines Landes auf der Seite der politischen Führung stehen, muss sie ihre Politik keineswegs ändern. Nicht das Wohlergehen der Bevölkerung, sondern der eigene Machterhalt hat dann höchste Priorität. Während im Irak der 90er Jahre regierungsnahe Banden ein Leben im Luxus führten, litt der Rest der Bevölkerung infolge der verhängten Handelsverbote.

Die Sanktionen führten schließlich zu einer humanitären Katastrophe. Mindestens 500.000 Kinder unter fünf Jahren fielen Mangelernährung und fehlender Gesundheitsversorgung zum Opfer.

Dieser gravierende Fall führte zu einer neuen Sanktionierungsstrategie. Anstelle umfassender Embargos setzte die Staatengemeinschaft stärker auf Strafen, die gezielt die politische Elite eines Landes treffen, die sogenannten »smarten Sanktionen«. Was zunächst einleuchtend klingt, zeigt in der Realität dürftige Ergebnisse.

Einerseits scheinen diese Formen von Sanktionen weitaus seltener ihr Ziel zu erreichen, andere Regierungen zu einem Politikwechsel zu zwingen, als dies bei umfassenden Embargos der Fall ist. Andererseits führen auch gezielte Maßnahmen zu ökonomischen Kollateralschäden und treffen Bevölkerungsgruppen, die ohnehin zu den Opfern des Regimes zählen. Das zeigte sich beispielsweise im letzten Jahrzehnt in Myanmar. Von den Embargos empfindlich getroffen, suchten regierungstreue Tourismusunternehmen nach Geschäftsmöglichkeiten, um die drohende Pleite abzuwenden. Sie fanden ihr neues Standbein im Ressourcenabbau.

Um an die Rohstoffe zu gelangen, wurden die in den Abbaugebieten lebenden Menschen mitunter gewaltsam vertrieben - mit dem Einverständnis der Regierung. Denn zumeist gehörten sie religiösen oder ethnischen Minderheiten an, die bereits vorher das Ziel staatlicher Repression waren. Ganz ähnliche Fälle konnten in Angola und Simbabwe beobachtet werden.

Laut einer Studie, die fast 900 Sanktionsmaßnahmen seit 1971 untersuchte, waren diese nur in 45 Prozent der Fälle erfolgreich. Oftmals bewirkten die Strafmaßnahmen sogar das Gegenteil

Gründe der Misserfolge
In der Wissenschaft herrscht bereits seit längerem Skepsis, ob Sanktionen halten können, was sie versprechen. Laut einer quantitativen Studie, die fast 900 Sanktionsmaßnahmen seit 1971 untersuchte, waren diese nur in 45 Prozent der Fälle erfolgreich. Oftmals bewirkten die Strafmaßnahmen sogar das Gegenteil. Das ist kein Zufall, meinen Experten. Eine Reihe von Faktoren sind für das Scheitern verantwortlich.

Erstens: Durch externen Druck können sich Herrscher nach innen legitimieren. Das zeigt eine Studie von Grauvogel und Soest am Beispiel Simbabwes. Zwischen 2002 und 2014 wurde die politische Elite aufgrund von Menschenrechtsverletzungen und Unregelmäßigkeiten bei den Parlamentswahlen mit Kontosperrungen und Einreiseverboten belegt. Waffenlieferungen wurden eingestellt und die Entwicklungszusammenarbeit auf humanitäre Hilfe beschränkt. Nach Einschätzung der meisten Experten hatten die Strafen nur wenig Einfluss auf die ökonomische Situation des Landes, die sich zunehmend verschlechterte.

Dennoch gelang es Langzeitpräsident Robert Mugabe, die Ursachen für den wirtschaftlichen Niedergang auf die Einmischung von außen zu schieben. Dass diese Strategie der Schuldzuweisung innenpolitisch funktioniert, führen Afrobarometer-Umfragen vor Augen. Noch 2005 machten nur 24 Prozent der Befragten internationale Zwangsmaßnahmen für ökonomische Probleme verantwortlich. Fünf Jahre später waren es bereits 63 Prozent.

Sollen die Maßnahmen erfolgreich sein, müssen gesellschaftliche Gruppen gestärkt werden, die ein Interesse an einem politischen Richtungswechsel haben

Zweitens: Entscheidend für den Erfolg von Sanktionen ist das Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition. Damit sind nicht nur Parteien gemeint. Sollen die Maßnahmen erfolgreich sein, müssen diejenigen gesellschaftlichen Gruppen gestärkt werden, die ein Interesse an einem politischen Richtungswechsel haben und tatsächlich Druck auf die Herrscherclique ausüben oder diese ablösen können.

In einer vergleichenden Untersuchung warnt Politikwissenschaftler Lee Jones: Wo vorher keine starke Opposition existiert hat, wird auch nach dem Erlassen von Sanktionen keine entstehen. Außerdem werden Regierungen, die nicht bereits fragil sind, nur selten empfindlich in ihrer Amtsführung gestört. Häufig sind Strafmaßnahmen stattdessen kontraproduktiv, denn sie bringen unvorhersehbare Gewinner und Verlierer hervor.

Beispiel Irak: Hier ging man davon aus, dass der Widerstand der Mittelklasse gegen die Regierung durch umfassende Handelsembargos befördert würde. Doch diese verlor aufgrund der Import- und Exportverbote für Rohstoffe und die meisten Waren ihre Einkommensquellen und geriet in die Abhängigkeit staatlicher Sozialleistungen.

Auf der anderen Seite ließ der Schmuggel eine neureiche, Hussein nahestehende Elite entstehen. Zudem näherten sich Teile der Opposition wieder dem Präsidenten an, um gegen das internationale Embargo vorzugehen. Zahlreiche Fälle in anderen Ländern, darunter Myanmar und Simbabwe, zeigen, dass dies keine Ausnahme ist und internationale Strafen die Arbeit der Opposition langfristig oftmals untergraben.

Ein weiterer Grund für die Fehlschläge besteht in der mangelnden Einigkeit der mächtigen Staaten. UN-Sanktionen kommen nur noch selten zustande. Selbst die EU und die USA verfolgen häufig keine gemeinsame Linie und erzeugen so Spielräume, die von den sanktionierten Regimen ausgenutzt werden.

Wenn der Adressat von Sanktionen nicht nachgibt, kann er eine Lockerung von Strafen als Bestätigung seiner Politik verkaufen

Sanktionen schaffen, viertens, ein Dilemma. Wenn der Adressat nicht nachgibt, kann er eine Lockerung von Strafen als Bestätigung seiner Politik verkaufen. Nur wenn von Beginn an realistische Bedingungen für die Aufhebungen klar benannt werden, ist ein Erfolg der Maßnahmen realistisch.

Schließlich zeigt sich ein gewisses Maß an Ignoranz: Zwar wird regelmäßig überprüft, ob die betreffenden Regierungen, Personen oder Gruppen inzwischen ihre Auflagen erfüllen. Doch noch immer wird kein systematisches Monitoring betrieben, wie sich die Maßnahmen in den Ländern konkret auswirken. Dieses Wissen aber wäre die Grundlage einer angemessenen Politik.

Strafen werden verhängt, um gegenüber der heimischen Bevölkerung eine weiße Weste zu behalten

Wenig Selbstlosigkeit, viel Symbolpolitik
Dass Sanktionen trotz dieser durchwachsenen Bilanz so häufige Anwendung finden, liegt nicht nur daran, dass mit ihnen auch wirtschaftliche Interessen durchgesetzt werden können. Vertreter der Public-Choice-Theorie vermuten vor allem innenpolitische Motive. Obwohl die Chancen gering sind, in den sanktionierten Ländern Veränderungsprozesse zu bewirken, erscheint Nichtstun moralisch verwerflich. Strafen werden verhängt, um gegenüber der heimischen Bevölkerung eine weiße Weste zu behalten. Symbolpolitik soll Machtlosigkeit kaschieren.

Der vielleicht wichtigste Grund: Im grenzüberschreitenden Kräftemessen geht es darum, den eigenen Werten weltweite Geltung zu verleihen. Adressat der Sanktionen ist weniger der einzelne Staat als vielmehr die internationale Öffentlichkeit. Die Drohkulisse symbolisiert dem Rest der Staatengemeinschaft: Wer abweicht, muss mit Strafen rechnen.

»Ich sanktioniere, also bin ich«, fasst ein europäischer Offizieller diese Haltung in Jones' Studie zusammen. So edel diese Werte auch sein mögen, ob dafür das Leid in Kauf genommen werden darf, das durch ungenaue Sanktionspolitik entsteht, ist mindestens diskussionswürdig.

Dieser Beitrag erschien in der siebten Ausgabe von KATAPULT. Unterstützen Sie unsere Arbeit und abonnieren Sie das gedruckte Magazin für nur 19,90 Euro im Jahr.

[1] Für eine ausführliche Liste europäischer Länderembargos vgl. Website der Generalzolldirektion, URL: zoll.de.
[2] Für die Arten von Sanktionen vgl. Website des Europäischen Rats und des Rats der Europäischen Union, URL: consilium.europa.eu.
[3] Vgl. Jones, Lee: Societies Under Siege. Exploring how international economic Sanctions (Do Not) Work, Oxford 2015.
[4] Vgl. Cortright, David; Lopez, George A.: Sanctions and the Search for Security. Challenges to UN Action, Boulder 2002.
[5] Vgl. Jones 2015.
[6] Vgl. Morgan, T. Clifton; Bapat, Navin; Krustev, Valentin: The Threat and Imposition of Economic Sanctions, 1971-2000, in: Conflict Management and Peace Science, Thousand Oaks (26)2009, H. 1, S. 92-110.
[7] Vgl. Grauvogel, Julia; Soest, Christian v.: Die verfehlte Sanktionspolitik des Westens gegen Simbabwe, in: GIGA Focus Afrika, Hamburg 2015, Nr. 2.
[8] Das Afrobarometer ist ein Forschungsprojekt, das regelmäßige Meinungsumfragen zu politischen, ökonomischen und sozialen Fragen in Subsahara-Afrika durchführt. Es ist ein Partnerschaftsprojekt von Instituten aus verschiedenen afrikanischen Ländern und einem aus den USA.
[9] Vgl. Jones 2015.
[10] Vgl. Grauvogel/Soest 2015.

Autor:innen

Geboren 1988, von 2017 bis 2022 bei KATAPULT und Chefredakteur des KNICKER, dem Katapult-Faltmagazin. Er hat Politik- und Musikwissenschaft in Halle und Berlin studiert und lehrt als Dozent für GIS-Analysen. Zu seinen Schwerpunkten zählen Geoinformatik sowie vergleichende Politik- und Medienanalysen.

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