Die Proteste im englischsprachigen Teil Kameruns begannen Ende 2016. Lehrer und Juristen demonstrierten friedlich gegen die Entsendung französischsprachiger Lehrer und Richter in ihre Regionen. Sie fürchteten, dass der Status der englischsprachigen Minderheit in dem überwiegend französischsprachigen Land weiter ausgehöhlt werden könnte. Schon lange währte der Unmut: Viele anglophone Kameruner fühlen sich durch das Justiz- und Schulsystem diskriminiert. Die Staatsgewalt aber begegnete den Demonstranten mit Repression. Anstatt ihre Sorgen anzuhören, eröffnete sie das Feuer. Die sprachliche Spaltung des Landes geht ins Jahr 1919 zurück, als Frankreich und Großbritannien das Mandat über die einstige deutsche Kolonie teilten, in die sie 1916 während des Ersten Weltkriegs einmarschiert waren. Nach der Unabhängigkeit des französisch kontrollierten Teils im Jahr 1960 schloss sich ein Teil des britischen Gebiets dem neuen Staat an. Ein anderer votierte für den Anschluss an Nigeria. Noch heute gibt es rund 200 lokale Sprachen in Kamerun – deshalb dienen die beiden alten Kolonialsprachen weiter als Amtssprachen. Grafik herunterladen Durch die gewaltsame Antwort der Regierung auf die Proteste spitzte sich die Lage Ende 2017 zu. Zivilgesellschaftliche Aktivisten, die für eine Rückkehr zum 1972 abgeschafften Föderalismus eintreten, gerieten ins Hintertreffen. Menschen bewaffneten sich und Separatisten, die die Unabhängigkeit des englischsprachigen Teils Kameruns fordern, gewannen zunehmend an Einfluss. Der Name des angestrebten neuen Staats: Ambazonien. Die Nichtregierungsorganisation International Crisis Group zählt mittlerweile sieben Milizen, die mit je 200 bis 500 Mann gegen die kamerunische Armee kämpfen, sowie diverse kleinere Verbände. Zudem nutzen Kriminelle die chaotische Lage aus. Sowohl der Armee als auch den Aufständischen werden Verstöße gegen Menschenrechte vorgeworfen. Regelmäßig werden Dörfer niedergebrannt, die unter Verdacht stehen, die Separatisten zu unterstützen. Die meisten Schulen in der Region sind seit zwei Jahren geschlossen – solche, die versuchen, den Betrieb aufrechtzuerhalten, werden immer wieder zum Angriffsziel der Aufständischen. Die Separatisten versuchen einen Boykott zu erzwingen, obwohl ihre Unterstützung in der Bevölkerung wohl nur gering ist. Auch angrenzende französischsprachige Regionen attackieren sie. Mindestens 1.850 Menschen wurden bis Mai 2019 getötet, rund 533.000 wurden zu Binnenvertriebenen. Kaum mediale Aufmerksamkeit Doch es wäre zu einfach, die Ursache für den Konflikt nur im Umgang mit den alten Kolonialsprachen zu suchen. Das Problem ist auch eine autokratische und korrupte Herrscherclique: Präsident Paul Biya regiert Kamerun seit 1982 – drei Viertel der Bevölkerung haben nie einen anderen Präsidenten erlebt. Der greise Autokrat ist einer der am längsten amtierenden Herrscher der Welt. Die Rechtmäßigkeit seines jüngsten triumphalen Wahlsiegs von 71 Prozent im Herbst 2018 ist fraglich. Die Opposition spricht von Wahlbetrug, Proteste dagegen wurden gewaltsam aufgelöst, Demonstranten inhaftiert. Die Organisation Freedom House, die die politische Freiheit weltweit misst, klassifiziert Kamerun als „nicht frei“. Es ist politisch eines der instabilsten Länder der Welt. Armut ist ebenso allgegenwärtig wie Korruption. Kinder- und Müttersterblichkeit gehören aufgrund desaströser Zustände im Gesundheitssektor zu den höchsten weltweit. Auf dem Index der menschlichen Entwicklung rangiert Kamerun auf Platz 151 von 189. Zwar geht es zumindest in sozialer Hinsicht langsam bergauf, dennoch sind Ungerechtigkeit und Perspektivlosigkeit verbreitet. Insbesondere die Jugend wird durch die Gerontokratie, der “Herrschaft der Alten”, von politischer und gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen – nicht zufällig trieb sie auch die Proteste der englischsprachigen Bevölkerung an. Die Krise im Südwesten ist zu allem Überfluss nicht die einzige im Land: Rund 286.000 Geflüchtete aus der Zentralafrikanischen Republik leben in Kamerun. Im Norden wiederum grenzt Kamerun an den Tschadsee, einem Rückzugsgebiet der nigerianischen Terrormiliz Boko Haram. Auch im Konflikt mit den Dschihadisten hat sich die Armee schwerer Kriegsverbrechen schuldig gemacht, darunter Morde an Zivilistinnen und Folter. Anfang dieses Jahres beschloss die USA deshalb, ihre Militärhilfen an Kamerun zu reduzieren. Wegen des Kampfes gegen Boko Haram schreckt man jedoch davor zurück, noch mehr Abstand zu Paul Biyas Regierung zu nehmen. Die Separatisten, die teils nur mit antiquierten Waffen kämpfen, versuchen derweil, in der kamerunischen Diaspora für ihren hoffnungslosen Kampf zu werben. Im ganzen Land sind mittlerweile 4,3 Millionen Menschen auf humanitäre Unterstützung angewiesen, ein Anstieg von 30 Prozent im Vergleich zu 2018. Doch der Konflikt erfährt kaum mediale und politische Aufmerksamkeit, Hilfsmaßnahmen der UN in Kamerun sind drastisch unterfinanziert. Aktuelle Ausgabe Unsere Redaktion ist unabhängig und finanziert sich fast ausschließlich durch Abonnements. Wenn Ihnen unsere Arbeit gefällt, unterstützen Sie uns und bestellen Sie sich das Abo schon ab 19,90 Euro im Jahr. KATAPULT abonnieren