In Schafstädt in Sachsen-Anhalt gibt es nicht so viel: einen Edeka, eine Sparkassenfiliale, ein Kosmetikstudio. Seit 2014 passiert hier noch weniger: Als hier das letzte Mal ein Zug fuhr, spielte das Schafstädter Orchester Weihnachtslieder, der Oberbürgermeister kommentierte: »Auf der Titanic haben sie auch bis zum Schluss gespielt.« Schafstädt ist keine Ausnahme: In Deutschland sind seit 1990 insgesamt über 6.300 Kilometer Strecke stillgelegt worden. Diese Länge entspricht den aktiven elektrifizierten Schienennetzen von Norwegen, Dänemark und den Niederlanden zusammen. Nach 1990 im Osten viel stillgelegt Ein Grund für diesen massiven Rückgang ist, dass viele Menschen vom Land in die Stadt ziehen. Das verändert die Nachfrage an Verkehrsmitteln. In Großstädten und auf den Hauptverkehrsachsen ist der Bedarf extrem groß und die Strecken sind maximal ausgelastet. In ländlichen Regionen ist die Nachfrage gesunken, sodass die Bahn unrentable Verbindungen stillgelegt hat. In Ostdeutschland sind nach 1990 außerdem solche Strecken eingestellt worden, die nach bundesdeutschen Maßstäben nicht profitabel waren – im Westen wurden diese bereits seit den 1960er- und 1970er-Jahren stillgelegt. Grafik herunterladen Ein weiteres Problem: die antriebslose Schienenpolitik einzelner Bundesländer. Denn der Ausbau der Strecken findet nur dort statt, wo die Länder ihn auch fordern. Seit der Bahnreform von 1994, die zur Gründung der Deutschen Bahn AG als privatwirtschaftlich organisierter Eisenbahngesellschaft des Bundes führte, ist der Nahverkehr Ländersache. Das Resultat sind große regionale Unterschiede in der Stilllegung von Strecken. Seit dem Jahr 2000 wurden 300 Bahnhöfe geschlossen Nach Einschätzung von Christian Böttger, Professor für Wirtschaftsingenieurwesen an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin, hängt die Bahnpolitik nicht nur von Parteiprogrammen, sondern sehr stark von einzelnen Politikern ab: »In den ostdeutschen Ländern gibt es eigentlich kaum jemanden, der sich wirklich engagiert für den Schienenverkehr einsetzt«, sagt er. Besonders deutlich wird dies auch an der Anzahl der geschlossenen Bahnhöfe seit dem Jahr 2000. Auf den ersten fünf Plätzen liegen Sachsen-Anhalt (95), Sachsen (71), Brandenburg (40), Thüringen (37) und Mecklenburg-Vorpommern (27). Andere Bundesländer hingegen reaktivieren stillgelegte Strecken. Hier steht Baden-Württemberg mit 169 Kilometern wiederaufgenommener Gleise an erster Stelle. Trotz einzelner Reaktivierungen überwiegt jedoch die Kilometerzahl der in Deutschland stillgelegten Schienen. Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmer (VDV) und die Allianz pro Schiene fordern, dass weitere 186 stillgelegte Strecken in einem Umfang von 3.000 km wieder ans Netz angeschlossen werden. Das Ziel: abgeschnittene Regionen wieder mit den Städten zu verbinden. Die Reaktivierung dieser Strecken ist laut VDV und Allianz pro Schiene auch deswegen nötig, um die im Koalitionsvertrag vereinbarte Verdoppelung der Passagierzahlen bis 2030 leisten zu können. Laut Böttger sollte eine Reaktivierung allerdings kein Selbstzweck sein. Bei jeder Strecke müsse geprüft werden, ob sich die Wiederaufnahme lohne. Zum einen wäre es sinnvoll, solche Linien wiederzubeleben, die eine Alternative zu bereits ausgelasteten Wegen darstellen. Zum anderen ist eine Reaktivierung im Regionalverkehr nur dann ökologisch und ökonomisch sinnvoll, wenn die Strecke auch genutzt wird. Es gibt in Deutschland einen Richtwert, wonach im Durchschnitt über die Streckenlänge mindestens 1.000 Fahrgäste täglich benötigt werden, damit der Betrieb sinnvoll ist. Grafik herunterladen Neu- und Ausbau nur zu einem Drittel finanziell gedeckt Reaktivierungen kosten aber Geld. Zwar wurde vor Kurzem vom Bund und der Bahn unter Zustimmung des Haushalts- und des Verkehrsausschusses beschlossen, dass die Bahn bis zum Jahr 2029 insgesamt circa 86 Milliarden Euro in die Sanierung und den Erhalt von Strecken investieren werde. Dieses Geld reiche allerdings nicht aus, um den angehäuften Investitionsbedarf zu decken, erklärt Böttger. Durch »Taschenspielertricks« würden die Zahlen außerdem geschönt. Beispielsweise würden Gelder doppelt ausgewiesen, »damit die Mittel beeindruckender aussehen«. Die 86 Milliarden seien im Vergleich zu bisherigen Investitionsmitteln zwar eine Steigerung, »aber der Zuwachs reicht ungefähr aus, um die Inflation abzudecken, aber er wird nicht ausreichen, um die 50 Milliarden Rückstau bei den Ersatzinvestitionen abzubauen«. Die Neu- und Ausbauprojekte, die als Voraussetzung gelten, um den Verkehr bis 2030 verdoppeln zu können, sind bislang nur zu rund einem Drittel finanziert. Und selbst wenn mehr Geld zur Verfügung stünde, würde es dann immer noch an Ressourcen wie beispielsweise Personal mangeln, stellt Böttger klar. Das Problem sei, dass in den letzten Jahren sehr viel Geld für Straßen und sehr wenig Geld für die Bahn aufgebracht wurde. Straßenverkehr ist 20-mal wichtiger In den letzten zehn Jahren hat die Bundespolitik im Bereich des Kfz-Verkehrs etwa 20-mal mehr in die Forschung gesteckt als im Bereich des öffentlichen Personennahverkehrs. Von 2009 bis 2019 gab es 2,2 Milliarden Euro für die Autoindustrie, aber nur 112,5 Millionen für den Nahverkehr. Die Gesamtinvestitionen in die Schieneninfrastruktur lagen 2017 pro Kopf bei nur 77 Euro – immerhin. Zehn Jahre zuvor betrug diese Summe noch 47 Euro. Im Ranking ausgewählter europäischer Länder schneidet die Bundesrepublik damit nicht besonders gut ab: Unter den EU-Mitgliedstaaten gilt Österreich als Spitzenreiter mit Ausgaben von 218 Euro pro Einwohner. Darauf folgen beispielsweise Dänemark (182 Euro), Schweden (172 Euro) und Italien (93 Euro), die mehr investieren als Deutschland. Übertroffen werden aber alle von der Schweiz, die pro Einwohner 365 Euro im Jahr für den Schienenverkehr aufwendet – also achteinhalb Millionen jeden Tag. Vorbild Schweiz – made in Germany Dabei hat die Eidgenossenschaft im Grunde die Idee der deutschen Bahnreform kopiert – und sie besser umgesetzt. In einem ersten Schritt wurden 1999 die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) aus der Bundesverwaltung ausgegliedert und zu einer Aktiengesellschaft geformt. Eine Privatisierung der SBB stand nie zur Debatte. Es wurde ein öffentliches Verkehrssystem entwickelt, in dem sämtliche Transportmittel aufeinander abgestimmt sind und mit nur einem Ticket benutzt werden können. Kaum Verspätungen, eine Elektrifizierungsrate von beinahe 100 Prozent und eine funktionierende Alternative zum Transit auf der Straße – über zwei Drittel des Güterverkehrs bewältigt die Schweiz per Schiene – sind die Bilanz hoher Investitionen in den Bahnverkehr über Jahre hinweg. Grafik herunterladen Der Alpenstaat gilt als Bahnland Nummer eins mit dem dichtesten Schienennetz Europas, bezogen auf die Fläche, knapp vor der Tschechischen Republik. Rechnet man die Bahnstrecken auf die Bevölkerungszahl, so schneiden die ehemaligen Ostblockstaaten gut ab – besonders das Baltikum lässt den Rest Europas hinter sich. Auf jeden Einwohner kommen dort 973 Streckenmeter. In Österreich sind es 640 Meter. Pro Kopf kommen die Schweizer auf eine Länge von 627 Metern und in Deutschland sind es 475 Meter. Die Deutschen lieben ihr Auto Auch bei der Bahnnutzung kann Deutschland aufholen. Pro Jahr fährt jeder Deutsche 1.157 Kilometer mit der Bahn, das ist nur halb so viel wie ein Schweizer mit 2.463 Kilometern. Aber auch das Autofahren bleibt beliebt. Seit dem Jahr 2000 hat sich die Verkehrsleistung, gemessen in Passagierkilometern, um 100 Milliarden erhöht, während im Bahnverkehr der Zuwachs an insgesamt zurückgelegten Kilometern nur 20,4 Milliarden betrug. 2017 wurden von allen Fahrten 82,1 Prozent mit dem Auto bewältigt, nur vier Prozent hingegen per Schienen- und immerhin 13,6 Prozent mit öffentlichen Straßenverkehrsmitteln. Die angestrebte Verlagerung auf die Schiene kann nur dann gelingen, wenn die Investitionssummen in den Verkehrssparten umverteilt werden: Je besser eine Infrastruktur ausgebaut ist, desto eher wird sie auch von den Bürgern angenommen. Aktuelle Ausgabe Hier gibt es KATAPULT und KNICKER im Abo. KATAPULT abonnieren