Den Deutschen geht es so gut wie nie. Ein gut ausgebauter Sozialstaat, um den man sie in vielen Ländern beneidet, federt die schlimmsten Härten ab. Er sorgt für den nötigen sozialen Ausgleich. Zudem nimmt die Ungleichheit in Deutschland generell eher ab. - So oder so ähnlich ist es jedenfalls derzeit häufig zu lesen oder zu hören. Gleichzeitig mahnen Sozialverbände und das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, dass das Armutsrisiko auch für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer steige und die Ungleichheit in Deutschland zunehme. Vertreter beider Sichtweisen präsentieren umfangreiche Statistiken und viele Zahlen, die die jeweilige Position stützen und scheinbar zweifelsfrei belegen können. Wer also hat recht? Vielleicht kann eine zweite, provozierend simple Frage etwas mehr Klarheit in die Angelegenheit bringen: Ist es im Jahr 2017 möglich, mit einem durchschnittlichen Arbeitnehmergehalt eine vierköpfige Familie zu ernähren, in zwei bis drei Jahrzehnten ein Haus oder eine Eigentumswohnung abzubezahlen, den Kindern eine Ausbildung oder ein Studium zu finanzieren und nebenbei noch Rücklagen für das Alter zu bilden? Das, nicht mehr und nicht weniger, ist der Anspruch der sozialen Marktwirtschaft, an dem sie sich zu messen hat. Grafik herunterladen Wie sah das vor etwa zwei Generationen im Westen Deutschlands aus? Der Eingangssteuersatz veränderte sich seit den Anfangsjahren der Bundesrepublik nur geringfügig. Er lag die meiste Zeit bei etwa zwanzig Prozent. Den einkommensschwächeren zwei Dritteln der Bevölkerung wurde in den 1960er Jahren etwa ein Fünftel ihres Bruttoeinkommens an Steuern und Sozialabgaben abgezogen. Wenn man den Arbeitgeberanteil mit einbezieht, lag die Gesamtbelastung bei etwa einem Drittel. Das verbleibende einkommensstärkste Drittel der Deutschen kam zusammen mit den Sozialabgaben auf eine ungefähre Gesamtbelastung von mehr als 50 Prozent, die es mit Hilfe der Steuerklärung, durch Investitionen und Abschreibungen, auf etwa 45 Prozent senken konnte. Überall in der westlichen Welt waren die Spitzensteuersätze damals weitaus höher als heute Mitte der 1960er Jahre wurde in den USA der Spitzensatz der Einkommensteuer erstmals nach einem Vierteljahrhundert von 90 auf 70 Prozent gesenkt. 1981 fiel er auf 50 Prozent, und Anfang der 1990er Jahre auf nur noch 40 Prozent. Gleichzeitig sanken auch die Kapitalertrag- und die Körperschaftsteuer. Die westeuropäischen Länder folgten diesem Trend mit einigen Jahren Verspätung. Grafik herunterladen Mit diesen Steuersenkungen begann eine gewaltige Umverteilung von Einkommen und Vermögen, die bis heute andauert, und die sich seitdem immer stärker potenziert Auch in Deutschland betrug der Spitzensteuersatz nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst 95 Prozent. In den folgenden zwei Jahrzehnten wurde er schrittweise abgesenkt. Von 1965 bis 1989 wurden nur noch 56 Prozent fällig. Nach der Wiedervereinigung sank er erneut. Heute beträgt der Spitzensteuersatz noch 42 Prozent. Für Steuern auf Kapitaleinkünfte und für die Körperschaftsteuer, die bis 2003 in mehreren Schritten auf 25 beziehungsweise 26,5 Prozent gesenkt wurden, gilt das Gleiche. Hohe Steuern, so die Begründung, würden der Wirtschaft das nötige Geld entziehen, Investitionen behindern und dem Wachstum schaden. Den Spitzensteuersatz zu senken, sollte die Wirtschaft ankurbeln, den Wohlstand fördern und bei geringerer individueller Belastung das Gesamtsteueraufkommen erhöhen. Mit diesen Steuersenkungen begann eine gewaltige Umverteilung von Einkommen und Vermögen, die bis heute andauert, und die sich seitdem immer stärker potenziert. Heute beträgt der direkte Abzug für die ärmeren zwei Drittel der Bevölkerung bereits 50 Prozent. Der Eingangssteuersatz ist ein wenig gesunken und der Freibetrag gestiegen. Aber die Sozialabgaben von Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteil zusammengenommen sind auf 40 Prozent angewachsen. 1968 wurde die Mehrwertsteuer eingeführt. Die Ärmeren geben einen Großteil ihres Einkommens für den Konsum aus, ihre Sparquote ist gering, und ihre Gesamtbelastung5 liegt am Ende bei derzeit fast 60 Prozent, die sie auch mit der Abgabe einer Steuererklärung nur geringfügig senken können. Die Steuer- und Abgabenquote des reicheren Drittels beträgt etwas mehr als 40 Prozent. Der Spitzensteuersatz liegt bei 42 Prozent, Kapitaleinkünfte werden mit 25 Prozent versteuert, und durch die Beitragsbemessungsgrenze sind ihre Sozialabgaben gedeckelt. Grafik herunterladen Der Anteil der direkten Steuern an der Gesamtbelastung ist mit etwa drei Vierteln sehr viel höher als bei den unteren Einkommensgruppen, und so fällt die Rückerstattung nach Abgabe der Steuererklärung entsprechend üppiger aus. Das reichere Drittel verwendet nur einen geringen Teil seines Einkommens für den Konsum und zahlt - gemessen am Einkommen - weniger Mehrwertsteuer als die ärmeren Schichten. Am Ende erreicht die Gesamtbelastung etwa ein Drittel des Bruttoeinkommens. Zur Erinnerung: Bei den einkommensschwächeren zwei Dritteln liegt sie bei fast 60 Prozent. Der gesamte Zuwachs der letzten Jahrzehnte - das deutsche Bruttoinlandsprodukt ist von 1990 bis 2015 inflationsbereinigt um ein Drittel gestiegen - landete allein beim reichen Drittel der Bevölkerung, vor allem bei den reichsten zehn Prozent. Sie besitzen heute in Deutschland die Hälfte des Gesamtvermögens. Das Verhältnis hat sich umgekehrt: Die einkommensschwächeren zwei Drittel zahlen mehr an Steuern und Abgaben auf ihre Einkommen als in den 1960er Jahren noch die Reichsten. Diese haben im Gegenzug den geringen Satz der weniger gut Verdienenden übernommen. Der Anteil des Kapitaleinkommens am Gesamteinkommen verdoppelte sich in den entwickelten Ländern seit den 1970er Jahren bis heute auf mehr als 30 Prozent. Nur vermögendere Schichten verfügen über nennenswertes Kapitaleinkommen, das - mit geringeren Steuern belastet und befreit von Sozialabgaben - sehr viel schneller stieg als die Arbeitseinkommen. Diese stagnierten seit dieser Zeit für das mittlere Drittel und sanken für das untere Drittel. Nach der Wiedervereinigung gehörten etwa 66 Prozent der Mittelschicht an, heute sind es nur noch 50 Prozent. Hätten die unteren Einkommensschichten von 1990 bis 2015 keine Reallohneinbußen, sondern eine Einkommensentwicklung wie das einkommensstärkste Drittel erlebt, würden Geringverdiener, die den Mindestlohn erhalten, heute über ein monatliches Nettoeinkommen von 1.600 statt lediglich über 1.100 Euro verfügen können. Des Öfteren ist zu hören, dass nur umverteilt werden könne, was zuvor auch erwirtschaftet wurde. Doch wären die Nettoeinkommen der oberen zehn Prozent von 1990 bis 2015 nicht gewachsen, sondern hätten lediglich einen Anstieg in Höhe des Inflationsausgleichs erlebt, und wären die Zuwächse stattdessen dem unteren Drittel zugefallen, wäre deren verfügbares Nettoeinkommen um mehr als 45 Prozent angestiegen. Die gesamten unteren Einkommensgruppen hätten in dieser Zeit zur Mittelschicht aufschließen können. Es stimmt also nicht, dass es keine Verteilungsspielräume gibt. Ganz nebenbei wäre ein Großteil dieser Zuwächse für den Konsum aufgewendet worden und hätte die Binnennachfrage gestärkt. Zwei getrennte Welten Etwa zur gleichen Zeit, als in den USA die Steuersätze für die oberen Einkommensgruppen gesenkt wurden, fand eine weitere wichtige Entwicklung statt: 1971 hob Präsident Nixon die Goldbindung des Dollars auf, 1973 wurden die Wechselkurse freigegeben. 1976 empfahl der Internationale Währungsfonds seinen Mitgliedern ebenfalls, die Goldbindung aufzuheben - und die Geldmenge vervielfachte sich. Anfangs waren die Folgen dieser einschneidenden Veränderungen noch kaum zu spüren. Die Reichen wurden nur etwas schneller reicher als zuvor. Dennoch führte das dazu, dass schon nach wenigen Jahrzehnten eine Vermögenskonzentration erreicht war, die derjenigen des beginnenden 20. Jahrhunderts glich und sie bald schon übertraf. Spätestens seit der Jahrtausendwende existieren zwei de facto völlig voneinander getrennte Wirtschaftskreisläufe. In dem einen stagnieren oder sinken die Einkommen, und die Preise steigen. Geld ist knapp, und unter Umständen kann schon eine kaputte Waschmaschine, ein Schaden am für den Arbeitsweg dringend benötigten Auto oder eine Mieterhöhung in die Überschuldung führen. In dem anderen ist Geld billig und im Überfluss vorhanden. Dort steigen die Einkommen jährlich, zweistellige Renditen sind Normalität, und die steuerliche Belastung ist vergleichsweise gering. Zudem werden allein in Deutschland jährlich schätzungsweise mehr als 100 Milliarden Euro an Steuern hinterzogen. Diese beiden Welten berühren sich nur noch, wenn beispielsweise Immobilienfonds den kommunalen Häuserbestand ganzer Städte aufkaufen und hohe Renditen erwirtschaften, nur das Nötigste investieren und die Häuser verfallen lassen, die Mieten aber flächendeckend steigen. Die einzig verbliebenen möglichen Korrektive dieser Vermögenskonzentration hätten die Erbschaft- und die Vermögensteuer sein können. Aber auch sie sanken zeitgleich mit der Zunahme all der anderen Vergünstigungen für die Vermögenden in Deutschland und in der ganzen westlichen Welt. Die Einnahmen durch die Erbschaftsteuer stagnieren in Deutschland bei gleichzeitig explodierenden Erbschaftssummen seit Jahrzehnten. Eine Vermögensteuer wird in Deutschland seit 1997 gar nicht mehr erhoben. Begünstigt durch den seit 1980 immer weiter sinkenden Leitzins wurde Geld für diejenigen, die ohnehin schon viel besaßen, immer billiger. Doch, anders als erhofft, stieg die private Investitionsquote nicht, sondern sank, und liegt heute in Deutschland ein Drittel unter dem Wert der 1970er Jahre. Warum auch nicht? Die gestiegenen Einnahmen sind von keinen nominal hohen Steuersätzen mehr bedroht, die vor allem mittels Investitionen gesenkt werden können, und müssen nicht mehr investiert werden. Statt durch Investitionen in die Realwirtschaft Wirtschaftswachstum zu erzeugen, bildet jenes freie Kapital auf der Suche nach hohen Renditen Spekulationsblasen, die regelmäßig platzen. Zuletzt entstand dadurch die Banken- und die Finanzkrise. Spitzensteuersätze von 90 Prozent, wie sie in den USA von 1941 bis in die Mitte der 1960er Jahre existierten, stellen nicht etwa eine sozialistische Enteignung dar. Sie sind eine geradezu zwingende Notwendigkeit Zurück zum Amerikanischen Traum Es sollte daran erinnert werden, dass Spitzensteuersätze von 90 Prozent, wie sie in den USA von 1941 bis in die Mitte der 1960er Jahre existierten, nicht etwa eine sozialistische Enteignung darstellen. Sie sind eine geradezu zwingende Notwendigkeit, um einen moderaten ökonomischen Ausgleich zu erreichen und den sozialen Frieden zu sichern. Es ist kein Wunder, dass ausgerechnet jene Epoche der Höchststeuersätze, in der es selbstverständlich auch weiterhin Reiche und Millionäre in den USA gab, im Nachhinein als das goldene Zeitalter des American Dream gilt. Bei hohen Spitzensteuersätzen aber könnten die Reichen in Niedrigsteuerländer ausweichen, wird argumentiert, denn das Kapital sei ein scheues Reh. In den USA wird in solch einem Fall allerdings eine sogenannte Exit-Tax11 auf das vorhandene Vermögen fällig, die auch in Deutschland eingeführt werden könnte. Neben erheblich höheren Spitzensteuersätzen sollte auch die Ungleichbehandlung von Arbeits- und Kapitaleinkommen beendet werden. Gerechterweise müssten Kapitaleinkommen mindestens mit den gleichen Sätzen versteuert werden wie Arbeitseinkommen. Auch auf sie müssten konsequenterweise Sozialabgaben geleistet werden. Das System könnte aber auch generell von einer Beitrags- auf eine Steuerfinanzierung umgestellt werden. All das klingt dabei wahrscheinlich weitaus radikaler, als es letztlich ist. Denn diese Vorschläge beziehen sich lediglich auf etwas, das es in der westlich-demokratischen Welt bereits gab, gut funktionierte und sich durchaus bewährt hat. Aktuelle Ausgabe Dieser Beitrag erschien in der sechsten Ausgabe von KATAPULT. Unterstützen Sie unsere Arbeit und abonnieren Sie das gedruckte Magazin für nur 19,90 Euro im Jahr. KATAPULT abonnieren