Des kleinen Vogels Vorbild ist der große Vogel. Althusser, Bourdieu und viele andere Theoretiker haben Marx verehrt und ins 20. Jahrhundert gezerrt. Sie verherrlichten das marxsche Werk auf vielfältige Weise, Jacques Rancière allerdings scheint die ganze Sache um 180 Grad gedreht zu betrachten. Karl Marx und auch seine französischen Interpreten Louis Althusser und Pierre Bourdieu beginnen ihre Philosophie (beziehungsweise Soziologie) mit der Beschreibung der ungleichen Gesellschaft. Für sie haben Menschen unterschiedliche Fähigkeiten und Stärken, weshalb sie sich für die jeweils Schwächeren einsetzen wollen. So weit, so großzügig... Menschen besitzen allerdings die gleichen Sinnesorgane und eine ähnliche Funktionalität des Gehirns. Sie haben also in etwa die gleichen Voraussetzungen. So gesehen wirkt es übertrieben, eine Philosophie mit der Ungleichheit von Fähigkeiten und Stärke zu beginnen. Sie muss stattdessen mit dieser biologischen Gleichheit beginnen, behauptet Jacques Rancière. Wer mit Ungleichheit beginnt, endet auch immer wieder mit Ungleichheit. Wer Gleichheit haben will, muss seine Startgedanken mit der Gleichheit anfangen. Marx, Bourdieu und Althusser machen das nicht und haben später Probleme zu erklären, warum sie denn überhaupt die Ungleichheit abschaffen wollen, wenn die Menschen doch zu so unterschiedlichen Dingen fähig sind. Alle drei Philosophen haben ihre Theorie allgemein auf einem falschen Fundament errichtet, findet Rancière. Marx mache den Fehler, sich herablassend über das Proletariat zu äußern. Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, 1844, zit. nach: Marx-Engels-Werke, Bd. 1, Berlin (Ost) 1976, S. 378-391, hier: S. 391. Rancières fundamentale Kritik geht sogar so weit, dass er Marx eine revolutionsverhindernde Funktion anlastet. Er verschleppe die Revolution eher, als dass er sie befördere. Die Armen (Proletariat) brauchen nach dieser Sichtweise die Philosophen nicht. Es sind die Philosophen, die die Armen benötigen, um ihre »edle« Philosophie zu betreiben. Die unterschätzten schlechten Schüler Über 100 Jahre später stellte ein französischer Soziologe die These auf, dass die soziale Herkunft eines Schülers unüberwindbare Leistungsunterschiede verursacht. Das war Pierre Bourdieu. Der französische Präsident François Mitterrand beauftragte Bourdieu deshalb, ein System zu entwickeln, welches diese Leistungsunterschiede der Schüler verringert. Bourdieus Ergebnis: Der Unterricht muss an die niedrigeren Fähigkeiten der sozial benachteiligten Schüler angepasst werden. Für Rancière ist Bourdieus Analyse falsch, deshalb kann ihre Schlussfolgerung nur verkehrt sein. Bourdieu mache den Fehler, die Schüler in Fähige und Unfähige aufzuteilen. Alle Schüler, so Rancière, haben etwa die gleichen Fähigkeiten des Denkens. Ihre Leistungsunterschiede werden vielmehr durch Motivation und Durchsetzungskraft verursacht. Den sozial benachteiligten Schülern fehlt es lediglich an Mut und Selbstbewusstsein und nicht an Fähigkeit. Der Mensch wird durch seine soziale Umgebung nicht intelligent oder dumm gemacht, er wird lediglich motiviert oder demotiviert. So schließt Rancière, dass Bourdieu seine Leser täuscht, indem er ihnen Unterschiede aufzeigt, die nicht existieren und die wahren Unterschiede der Schüler nicht nennt. Deshalb sei Bourdieu auch ein Philosoph, der die gesellschaftliche Hierarchie erhält und stärkt. Der Ursprung der Gleichheit Den drei Philosophen entgegnet Rancière mit einer radikalen Version der Gleichheit. Er beginnt seine Überlegungen dort, wo die meisten Menschen das erste Mal in gut und schlecht geteilt werden – in der Schule. Rancière entwickelt eine Unterrichtsmethode, welche die Hierarchie zwischen Lehrer und Schüler abbaut und keine guten und schlechten Schüler kategorisiert. Nach dieser Theorie ist der Lehrer, der motiviert, deutlich erfolgreicher als der, der Erklärungen gibt. »Der Erklärende braucht den Unfähigen, nicht umgekehrt. Er ist es, der den Unfähigen als solchen schafft. Jemandem etwas erklären heißt, ihm zuerst beweisen, dass er nicht von sich aus verstehen kann.« In »Le Maître ignorant« (Der unwissende Meister) greift er auf die egalitäre Unterrichtsmethode des französischen Gelehrten Jean Joseph Jacotot (1770-1840) zurück. Jacotot fand durch Zufall heraus, dass seine Schüler immer dann besser waren, wenn er sie zum Lernen lediglich motivierte und keine fertigen Erklärungen anbot. Die Übertragung dieser Theorie in alle Bereiche des Lebens und auch des Politischen lässt Rancière konsequent, aber auch unflexibel erscheinen. Unterschiede entstehen in diesem Denkmuster nur durch unterschiedlich motivierte Menschen, durch unterschiedlich ausgebildeten Willen. Althusser, Bourdieu und Marx setzen die Hierarchie als gegebene Tatsache der Gesellschaft (Unterricht) voraus. Sie wollen die Hierarchie zwar bekämpfen, aber der Ausgangspunkt ihrer Überlegung ist, dass Ungleichheit existiert. Die Pädagogik von Rancière hingegen beginnt mit Gleichheit. Seine Theorie ist deshalb radikal, weil er sie an den Anfang der Lehre setzt und nicht nur als Ziel der Lehre. In Bezug auf die politische Durchsetzung der pädagogischen Gleichheit bleibt Rancière zweideutig. Er kann abwechselnd revolutionär und reformistisch interpretiert werden. Rancières Analyse ist eigenwillig. Marx und seine Interpreten werden aus einer sonderbaren Perspektive betrachtet. Allgemein anerkannte Positionen sieht Rancière, als hängender Vogel, auf ungewöhnliche Art: Dadurch wird es mindestens zweifelhaft, ob die großen sozialistischen Theoretiker die richtige Mittel wählten, um ihre Ziele zu erreichen.